Titelthema 06/11: Suchtgedächtnis

Wie ich das Suchtgedächtnis begriffen habe

Von Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel

Ich bin Alkoholiker und länger abstinent. Vor einiger Zeit fiel ich etwa 1,80 m auf eine Betonplatte in die Tiefe, so dass sämtliche Bänder der rechten Schulter gerissen waren und ich operiert werden musste.

Natürlich kam der Anästhesist zu mir und natürlich teilte ich mit, dass ich Alkoholiker bin und keine suchtverlagenden Medikamente wollte. Bei der Prämedikation, also dem Mittel, das man noch im Bett zur Narkoseeinleitung bekommt, konnten wir uns noch einigen und er verordnete mir eine schwache Tablette, die nicht süchtig macht, die ich mir von einer Wirkung her im Grunde auch auf die Stirn hätte kleben können.

Anders bei der Narkose.

Als ich sagte: ,,keine Opiate“, lächelte er und antwortete: ,,Dann können wir Sie heutzutage auch nicht operieren.“ Wenn ich heute meine Schulter wieder perfekt bewegen kann, muss ich immer an diese Situation denken, aber auch an die vorzügliche Oberärztin, die sich zweieinhalb Stunden für die Operation Zeit nahm. Ich erwachte bester Laune aus der Operation und machte meine Witze darüber, dass ich keinerlei Schmerzen hatte, denn bis dahin hatte ich Schmerzen von Prellungen und fünf gebrochene Rippen, und die waren nun total fort. Dann sprühte ich – wie ich meinte – weiter vor Witzigkeit, bis die OP-Schwester sagte: ,,Es würde uns schon reichen, wenn sie nur in ihr Bett stiegen!“

Fröhlich faselnd und redend wurde ich dann in mein Zimmer gefahren und bot meiner Frau an, noch gleich mit mir auf dem Flur spazieren zu gehen. Und auch diese antwortete mir seltsamerweise: .Es wäre schon gut, wenn du erst mal in Dein Bett gingest und liegen bliebest bei deiner verwaschenen Sprache.“

Immerhin war ich abends schon soweit klar, dass ich der Schwester, die mir zur Nacht die „segensreichen“ Tropfen empfehlen wollte, die mir auch in der Narkose geholfen hatten, eine deutliche Absage erteilte. Aber andererseits verkündete ich auch munter, die Narkose sei so angenehm gewesen, dass ich, wenn mir jemand sagen würde, es wäre bei der OP ein Fehler passiert, sofort und gerne einer erneuten Operation zustimmen wollte. Ich blieb dann noch etwa 5 Tage im Krankenhaus und ging mit dem Gefühl heim, dass ich diese intensive Operation meiner Schulter wirklich gut gemeistert hätte.

Und dabei blieb ich auch, stellte allerdings fest, dass ich unruhig war, zwar keine direkten Trinkwünsche hatte, aber gegen eine Operation hätte ich auch nichts gehabt. Ich sprach zweimal in meiner Gruppe darüber, die meinen Bericht, der sich ähnlich wie oben beschrieben anhörte, gelassen und distanziert zur Kenntnis nahm. Ich nahm keinerlei Kritik oder eine auf mich bezogene Aussage wahr. Nach etwa 6-8 Wochen war ich immer noch der gleichen Ansicht, die ich geschildert habe. Getrunken hatte ich nicht, aber ich war unruhig und war aus heutiger Sicht „trocken besoffen“. Bis ich eines Tages fern von meinem Wohnort unseren Sohn und seinen jungen Hund in die Hundeschule gebracht hatte und in einem Park spazieren ging. Es war ein schöner warmer Junitag und ich bewegte mich auf einen alten Mann zu, der auf einer Bank saß und rauchte, was das Zeug hielt. Ich ging näher heran und spazierte genüsslich durch den Rauch, und plötzlich hörte ich in mir einen Gedanken, fast eine Stimme: ,,Rauchen könntest du übrigens auch mal wieder eine!“ Meine letzte Zigarette habe ich 1984 geraucht und diese absurde Aufforderung brachte mich endlich wieder zu meinem Verstand und ich fühlte: ,,Mensch, da meldet sich Dein Suchtgedächtnis! Endlich kommst du wieder zu Dir!“ Ich fühlte mich enorm erleichtert und befreit, denn ich war wieder zuhause in meiner gewohnten, eher ruhigen Abstinenz. In der Gruppe sagte eine Freundin, die zweimal kurz hintereinander hatte operiert werden müssen, bei meinem Bericht: ,,Rüdiger, ich habe zweimal zu Deiner Aussage Stellung genommen und Dir genau das, was Du erlebt hast, gesagt, aber ich habe Dich nicht erreicht.“ Daran konnte ich mich nicht erinnern.

Schon vor etwa 20 Jahren schrieb Prof. Jobst Böning, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie:

,,Es gibt ein individuelles, erworbenes (sog. personales) Suchtgedächtnis, das lebenslang erhalten bleibt.

  Dabei handelt es sich um „suchttypisch“ konditioniertes Verhalten und Erleben, das in belohnungsabhängigen, verstärkend wirksamen Hirnsystemen zum molekular und psychisch fixierten „Suchtgedächtnis“ transformiert wird.

  Deshalb ist einem – von der molekularen Trägerebene über die neuronale Musterebene bis zur psychologischen Bedeutungsebene – neurobiologisch engrammierten Suchtgedächtnis therapeutisch auch so schwer beizukommen. Die „Gnade des Vergessens“ kennt dieses „episodische Gedächtnis“ wohl nicht.“

Damals hatte ich zwar verstanden, dass dieses Gedächtnis sehr im Gehirn verankert war und es gewissermaßen wie ein Tisch mit drei Beinen zerebral verankert ist: einmal über die Verbindung der Moleküle, zum zweiten über die neuen Verbindungen im Gehirn, die durch z. B. das Trinken geschaffen worden waren und drittens durch das, was Böning ‚psychologische Bedeutungsebene‘ genannt hat, zum Beispiel die entsprechenden Gefühle, die das Trinken auslöst. Ich selbst hatte mich in meinem Größenwahn wie der Jüngling im Märchen gefühlt, der immer herumlief und sagte: .Ach, wenn es mich doch gruselte!“

Mir war es so gegangen, dass ich mir das Suchtgedächtnis einfach nicht vorstellen wollte. Ich hatte zwar verstanden, dass es so etwas gab und es durchaus gefährlich war, da ich aber nicht so weit zu mir vordringen wollte und vielleicht auch nicht musste (dachte ich: die lange Abstinenz), sperrte sich auch etwas in mir, diese Erkenntnis wenigstens zu glauben. Wir Süchtigen müssen ja so manches glauben, was wir persönlich nicht erlebt haben.

Irgendwie – Gott sei Dank!

– weiß ich jetzt, dass es ein Suchtgedächtnis gibt, das mir zwei Wege weist: Etwas zu glauben, was ich bisher persönlich noch nicht erfahren habe und mich so zu schützen, oder rückfällig zu werden.

 

Titelthema 05/11: Seelenhunger – Suchtentwicklung – Mut zur Veränderung

Seelenhunger – Suchtentwicklung – Mut zur Veränderung

Eine Bilanz. Wie Erwartungsdruck, Überforderung und mangelndes Selbstbewusstsein in die Abhängigkeit führen und mir eine schöne Welt vorgaugelten. Heute bin ich sieben Jahre trocken und verstehe, dass ich mich selber betrogen habe.

Hans-Jürgen Schwebke

Ich bin trocken. Seit sieben Jahren kein Alkohol, kein Zellgift. Ich habe nichts versäumt. Nun weiß ich durch die Therapie und meine ständige Auseinandersetzung mit mir: Ich konnte nicht mehr der mir in der Kindheit erworbenen bis ins maßlose überhöhten Bereitschaft, Erwartungsdruck zu registrieren und zu erfüllen, nachkommen – schon gar nicht ohne Alkohol. Mein ganzes Denken wurde durch diesen Druck, Fremderwartungen zu registrieren, dominiert und das führte zu permanenten Überforderungen. Und dann war der Alkohol zur Stelle. Ich habe nunmehr gelernt und erfahren, dass es eine andere, eine wesentlich gesündere Möglichkeit, mit Anforderungen und Erwartungen der Gesellschaft umzugehen, gibt und das ist eben Mut. Mut bedeutet auch, seine Gefühle nicht den Erwartungen anderer unterzuordnen. Ich machte die Erfahrung: Wenn ich mir Rückzug gestattete, fühlte ich mich freier! Dieses Gefühl zu erleben und kein Alkohol dazu mehr zu brauchen, hieß für mich, den Alkohol in seinen Funktionen, wie ich sie im Folgenden beschreibe, zu entmachten. Wie viel Mut, Kraft und Selbstveränderung ich aufbringen musste und muss, wird vor diesem Hintergrund deutlich. Vielleicht auch, warum es so viel Zeit brauchte mich auf den Weg aus der Sucht zu begeben.

Alkohol. Mit Alkohol konnte ich viel Freudvolles erleben und doch führte er mich in die Verelen­dung. Ich gebrauchte ihn als Medizin und merkte nicht seine Wirkung als Gift. Er war für mich Nahrungsmittel, weil kalorienreich, ohne es gewahr zu werden, dass ich durch seinen Miss­brauch das Essen ver­lernte. Als besonders wertvolles, geeignetes Geschenk für schöne An­lässe und sehr gute Freunde, zur persönlichen Aufwertung, als soziales Geselligkeits- und Bindungsmittel diente er mir häufig – und doch vereinsamte ich. Ich entspannte, verdrängte Probleme (eine wichtige Funktion und Fähigkeit des Menschen) und bekam Lust. Aber der Genuss von Alkohol führte bei mir ebenso zu Ängsten, krankhaften Ängsten und Stress in vielfältigster Art, ja er ver­stärkte die entstandenen Leiden nur noch mehr.

Alkohol. Er wird bis heute besungen und literarisch verehrt, es wird ihm gehuldigt. In der Studentenzeit sangen wir bei seinem Genuss Lieder und verherrlichten ihn. Nur Wenige ver­teufelten ihn. Und ich schwankte sehr lange zwischen diesen beiden Polen. Bis ich nach fast dreißig Jahren zu der Überzeugung kam: Ich will keinen Alkohol mehr trinken, weil mir der Preis zu hoch ist, den ich beim Weitersaufen zahlen muss. Erst die Gesundheit zu ruinieren und dann auch schneller zu sterben. Dennoch hatte er für mich durchaus positive Wirkungen. Ein im nassen Zustand nicht zu erkennender, nicht aufzulösender Widerspruch.

Ich trieb mich mit Alkohol zu Höchstleistungen, wuchs als Einzelner über mich und andere hinaus. Er war mir als soziales Schmiermittel zu Nutze, so wie ich auch mit ihm geschmiert habe. Ich ließ mich von ihm verführen und genoss ihn. Er war mein Durstlinderer und – lö­scher. Was ich nicht erfühlen konnte, war der Wandel vom Genuss zum Muss. „Der Teufel steckt im Detail“ sagt ein Sprichwort. Aber nicht der Alkohol selbst ist der „Teufel“, sondern ver­teufelt schwer kann angemessenes Verhalten im Umgang mit Alkohol fallen.

Alkohol. Ich trank ihn in hoher Qualität zu festlichen Anlässen, bei Konzerten, russischen Heldenverehrungen, in rumänischen Palästen, zu großen Empfängen, in diplomatischen Zusammenhängen und auch in armer, verdreckter, stinkender Umgebung, allein auf Parkbänken dahinvegetierend, in Toiletten und während der Arbeit heimlich und unheim­lich.

Ich lernte ihn in kultischen Handlungen kennen. Er war für mich in guten wie in schlechten Zeiten ein Tröster und Verführer. Schlechte Abschlüsse, Noten oder Prüfungsergebnisse wa­ren ebenso Anlass für sein Runterstürzen wie das Begießen meines mit „Gut“ abgeschlossene Abiturs oder des mit „Sehr gut“ abgeschlossenen Diploms als Staatswissenschaftler (Außen­politik). Er begegnete mir in familiären Zusammenhängen, die ich nur bei anderen als Au­ßenstehender kennen lernte. Ich hatte ja keine Familie, dabei wollte ich so gern dazu gehören. Ich bin heute noch den vielen „Fremden“, die mir als Heimkind einen Einblick in ihren zwi­schenmenschlichen und individuellen Bereich ermöglichten, dankbar. Dort hatte Alkohol oft eine tiefere soziale und kulturelle Bedeutung, als man gemeinhin bewusst wahrnimmt: Ge­burtstage und Jubiläen, Tod und Freitod, Hochzeiten, Scheidun­gen, Beförderungen und Nichtberücksichtigung bei denselben waren immer zugleich Anlässe, bei denen getrunken wurde. Ich trank mit. Weil wir nicht mehr so jung zusammenkommen. Weil ich zu den Er­wachsenen dazu gehören will. Weil es so üblich ist. Weil ich nicht Schwä­che zeigen will. Auch, weil ich den Alkohol brauche? Wann trat dieser Zeitpunkt ein? In mei­ner unbändigen und immer ungestillten Sehnsucht nach Familie genoss und soff ich mit. Es reizte mich, als gleichwertig standfester Trinker mitzuhalten. Und ich hatte dabei auch Aner­kennendes zu hören bekommen. Ich war ebenbürtig und gehörte dazu. Das Gelernte, wozu auch familiäre wie gesellschaftliche Bräuche und Sitten gehörten, gab mir im Laufe meiner Abnabelung aus den strengen Fesseln des Kinderheimes draußen in der Welt scheinbar „Si­cherheit“ im Auf­treten sowie auch zeitlich begrenzt das tiefe Gefühl der Zufriedenheit, Glückseligkeit und des Vergessens meiner elternlosen Situation. Meine ersten Vollräusche erlebte ich in einigen dieser Familien mit 15/16 Jahren.

Ich konnte mich mit Alkohol selbst belohnen, Ruhe finden, dem Alltag im Kinderheim durch rauschähnliche Zustände entfliehen. Freunde wie Feinde sollte ich beeindrucken. Im Rausch ließ ich wie andere auch meine individuellen Grenzen hinter mir, folgte der Masse ohne Rücksicht auf persönliche Verluste, die der Gesundheit, der Freiheit zu entscheiden, wann ich trinke und wann nicht, wie viel oder wenig. Und ich ließ mich zu Taten hinreißen, für die ich mich im nüchternen Zustand schämte.

Ich befand mich im ständigen Spannungsfeld zwischen Disziplin, Anstand, Konventionen, Ordnung, Kontrolle und Selbstkontrolle, Leistung und Bestehen, Ein- und Unterordnung so­wie dem Angenehmen, dem  Rausch, der Entrücktheit und der daraus resultierenden totalen Übersteigerung meiner Emotionen und meines Tuns. Beides in Balance zu halten gelang mir infolge der unbemerkten, schleichenden Dosissteigerung zunehmend weniger.

Alkohol. Und beruflich: Bei festgefahrenen, in die Sackgasse geratenen Verhandlungen und internationalen Konferenzen war der Alko­hol ebenso anwesend wie bei erfolgreichen Vertragsabschlüssen und den Feiern von histori­schen Anlässen. Ich bestand im Beruf. Der gesellschaftliche Umbruch „beförderte“ meine Alkoholkarriere steil nach unten. Es wurde immer schwieriger Arbeit zu bekommen, weil ich in meinem Zustand zum Schluss nicht einmal mehr zu einem Bewerbungsgespräch gehen konnte, ohne als Alki aufzufallen.

Alkohol wurde von mir als wertvolle Medizin gegen Grippe und Schlafstörungen benutzt. Ich beruhigte mich mit ihm, trank mich in den Schlaf und konnte Nervosität mit ihm unterdrü­cken. Meine Flugangst bekämpfte ich mit ihm. Vor Prüfungen und öffentlichen Reden, bei Ar­beitsanforderungen und Leistungsdruck erlöste er mich von dem Übel der Versagensangst, machte mich lockerer. Die erwarteten Leistungen erbrachte ich weit über das Maß hinaus. Ich war glücklich und stieß bei jeder Gelegenheit darauf an.

Ich schloss mich den Ritualen des Trinkens der Kameraden in der Kaserne freiwillig und un­freiwillig zugleich an, um nicht als Außenseiter, der ich ohnehin war, aufzufallen. Faschistoi­den Auswüchsen in der Armee, die unter Alkoholeinfluss der Soldaten geschahen, widersetzte ich mich mit dem Mut der Verzweiflung, der Angst vor körperlichen Angriffen, die ich nicht verhindern konnte.

Alkohol. Ich trank ihn auch zur Vorprüfung für die Fahrerlaubnisprüfung. Ich nahm dieses Tabu gar nicht wahr. Zu meiner ersten selbständigen Fahrt trank ich mir Mut an und es dau­erte mal gerade 30 Sekunden Ausfahrens aus einer Parklücke bis zum ersten und letzten Un­fall. Ich entzog mir sofort den Führerschein und schloss ihn in eine Stahlkassette weg. Das war Anfang der 90er Jahre – also 20 Jahre vor dem Ende der Alkoholkarriere. Anderen ge­genüber erklärte ich, dass ich nicht gut fahren würde und wegen meiner Verantwortung vor mir und für meine Mitmen­schen lieber nicht fahre. Wer würde mich eines Alkoholproblems verdächtigen? Ich betrog mich selbst und belog andere.

Alkohol. Als Appetitanreger, Verdauensbeförderer und Geschmacksverstärker lernte ich den Alkohol kennen und schätzen. Ich verwendete ihn in meiner Küche, wie ich ihn kennen gelernt hatte bei Freunden zu Hause und in Gaststätten. Ich kochte für andere bei mir und schuf mir so auch eine „virtuelle Großfamilie“. Das tat mir gut.

Zu Rock- und Popkonzerten, in Schuldiscos und bei Tanzabenden nahm ich ihn mit oder „tankte“ aus Geldgründen sowie notwendiger Verheimlichung seines Konsums vor Erziehern und Lehrern und dem Verrat von Mitschülern sowie Heimkameraden vorher. So verstärkte ich meinen Rausch, die Illusion des Entfliehens aus der realen Welt. Die Welt war für einen Mo­ment wieder „heil“. Ich konnte Grenzen ausloten und überschreiten, Grenzen, die mir nicht durch engste Familienangehörige sondern durch die staatlich bestellten Erzieherinnen und Erzieher gesetzt wurden. Und wer wollte diese Grenzen nicht hinter sich zurücklassen – wenn es sein musste, auch durch den Rausch. Und Musik im betrunkenen Zustand versetzte mich durchaus in wohlige Ekstase. Ein guter Freund fragte mich bei einem Konzert zwischendurch, ob ich weiß, was ich meinem Körper antue. Ich erschrak, verstand nicht, merkte es mir aber. Darüber hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht. Ich war 28 Jahre alt.

Alkohol. Als Kind entfloh ich durch ihn den mir zugefügten körperlichen und seelischen Schmerzen schon durch heimlichen Genuss und verschaffte mir damit Erleichterung – ich war neun oder zehn Jahre alt, als ich die rauschende Wirkung bewusst verspürte. So nahm ich „freiwillig“ Hausarbeiten in der Küche, im Keller und der Speisekammer bei meiner Pflegemutter wahr und erledigte erniedrigende Strafarbeiten und nicht nur mit Gram, weil es die Gelegenheit gab, die alko­holischen Neigen aus den Gläsern und Flaschen auszutrinken. Es war eine, meine geeignete Strategie des Überlebens.

Unaufgeklärt von Pflegeeltern, Heimerzieherinnen und Heimerzieher, Lehrerinnen und Leh­rern, abstinent von Liebe durch Eltern und durch Selbstversuche unter Gleich­altrigen ver­suchte ich meine sexuelle Unerfahrenheit, Befangenheit, die sich bis zu Angst steigern konnte, Unsicherheiten und Scham vor Nacktheit beim Sex mit Hilfe von Alkohol zu mildern. Gefühle entstanden und verwirrten. Ich wurde immer unsicherer und unglücklicher, glaubte und meinte, versagt zu haben, es nicht zu können und fand mich irgendwann asexuell. Der Missbrauch durch einen Mann im Ju­gendal­ter, unter Einfluss von gepflegt getrunkenem qualitativ hochwertigem Alkohol vor und zu wie nach den Mahlzeiten, hinterließ Jahrzehnte lange Ängste und quälende Fragen nach meiner sexuellen Orientierung. Ich ertrank diese allzu oft mit Alkohol.

Alkohol. Unbemerkt, heimlich, heimtückisch, verführerisch entfaltete der Alkohol seine negativen Seiten durch die Sucht, in der ich mich inzwischen befand. Viele der ihm positiv zugeschrie­benen Funktionen und Wirkungen, die ich erfahren und nutzen konnte, schlugen im Verlauf von fast 30 Jahren in ihr Gegenteil um. Alkohol konnte meine Gefühle nicht mehr positiv verändern. Die Sehnsucht nach anderen Gefühlszuständen, nach Unerreichbarem, nach Glück und dem „Paradies auf Erden“ in Familie, Geborgenheit sowie neuen Abenteuern und Erleb­nissen war und ist offensichtlich größer als der notwendige Widerstand gegenüber unüberseh­baren Gefahren. Mein Rückgrat wurde mir durch die Bedingungen in denen ich aufwuchs gebrochen. Mein Widerstand gegenüber alkoholbedingten Gefahren wurde durch den Alkohol erst einmal über lange Zeit auch gebrochen. Die gesundheitlichen, psychischen und sozialen Folgen führten mich notwendigerweise in die Suchtfachklinik. Bis dahin hatte ich mich, hatte der Alkohol mich entmündigt. Er gab mir immer wieder Ratschläge. Er lenkte mich von au­ßen, engte mich ein, machte mich krank. Er bevormundete mich. Ich wurde zu einem Süchti­gen und litt. Ich war dabei, mich aufzugeben. Depressionen, Ängste, Herzrasen, Übergewicht, und ein immer schlechterer körperlicher Zustand waren die Folge. Minderwer­tigkeits- und Schamgefühle, Selbstwertzweifel und Selbstvorwürfe, Hemmungen und Selbst­verachtung ebenso. Ich war nicht mehr Herr meiner Sinne und meines Schicksals.

Janusköpfiger Alkohol: Nicht unerwähnt soll sein, dass Alkoholgebrauch und -missbrauch eine Quelle von Armut ist ebenso wie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, als Erwerbsquelle und Werbeträger. Wie viele Menschen verdienen durch ihn?!

Ich versteckte den Alkohol, ich versteckte mich. Ich spielte die Folgen vor mir selbst und an­deren gegenüber herunter, verharmloste sie. Ich begann anderen die Schuld für meine Situa­tion zu geben. Der Vermieter war Kapitalist und wollte mich durch Mietwucher knebeln, da­bei wollte er nur meine Vertragserfüllung, die pünktliche Zahlung der monatlichen Summe. Ich war Opfer und ein armes Schwein. Ich machte mich dazu. Ich verwendete all meine Ener­gien und Kräfte zur Aufrechterhaltung einer scheinbar heilen Welt. Mit Hilfe des Alkohols konnte ich die mir Angst machende Realität besser ertragen. Veränderungen wurden dadurch nicht notwendig. Und so wurde ich auch blind für die Suchthilfesysteme.

Meine Hausärztin, Frau Dr. Gerda Weiße, thematisierte das Problem bereits 1992 in einem sehr ruhigen Aufklärungsgespräch. Ich wiegelte ab, ahnte, wusste und konnte doch nicht. Es sollten weiter mehr als 10 Jahre vergehen, bis sie mich fachlich klug, sensibel und auch mit sanftem Druck durch meine ersten Schritte der Umkehr begleiten durfte.

Die Vorstellung, ein ganzes Leben ohne Alkohol zu leben, trieb mich in unerträgliche Angst- und Zwangszustände. Denn der Alkohol war inzwischen der einzige „Überlebensgarant“ ge­worden. Jeder auch nur leise gedachte oder an mich u. a. von meiner Lebensgefährtin K. he­rangetragene Gedanke an Veränderung, die zwangsweise mit Reduktion dessen und vollstän­digem Verzicht einher gehen sollte und eigentlich musste, versetzte mich täglich, ständig in unglaubliche Angstzustände und Panik.

  Der Weg hinein und wieder heraus aus der Sucht war unendlich lang, quälend, eine schmerz­hafte Erfahrung. Außenstehende wussten früher von meinen Problemen als ich ihrer gewahr wurde. Hilfsangebote, habe ich überhört. Andeutungsweise Fragen nach meinem Konsum empfand ich ausschließlich als Angriff.

Alle Überlebensstrategien, ausgebildeten Fähigkeiten und Fertigkeiten, soziale Kompetenzen sowie eingeübten positiven Seiten der Rituale wurden verschüttet. Mein Lebensbegleiter sollte nun von einem auf den anderen Tag nicht mehr geeignet sein für mich! Selbsthilfe war für mich doch kein Fremdwort. Ich hatte mir doch selbst geholfen! Ich habe Alkohol getrun­ken, um damit meine Probleme zu lösen. Und nun sollten diese, meine Probleme auf unge­fährliche Weise gelöst werden. Aber wie sollte es ohne Alkohol gehen?

2003 – Weitere Zuspitzung der Krise durch den drohenden Verlust meines Obdachs, meiner Wohnung. Das war ein wirkungsvoller Schlag ins Gesicht, ich begann langsam aufzuwachen. Ich irrte panisch umher, pumpte mir Geld, verschuldete mich, soff vor Selbstmitleid weiter und immer mehr. Ich traute mich nicht. Vertraute ich überhaupt jemandem? Dreimal stand ich vor der Haustür der Suchtberatungsstelle und kehrte dreimal um. War mindestens fünfmal vor der Schuldnerberatungsstelle und zog ohne hineinzugehen in die nächste Kneipe und versoff das gepumpte Geld, statt Miet- und Stromschulden zu bezahlen und machte neue. Einmal wurde der Berater weggerufen und ich nutzte die kleine Wartezeit zur unbemerkten Flucht. Die freundliche und zugleich sehr energische Stimme einer Frau vom Sozialamt, Abteilung zur Verhinderung von Obdachlosigkeit am Telefon, die mich schon zweimal angeschrieben und ihre Hilfe angeboten hatte, sprach aus, was ich nicht sagen konnte. Sie fragte, ob ich ein Alkoholproblem hätte. Ich sagte erlöst nur: JA! – Funkstille, Leere, Pause und dann: „Kom­men Sie! Es gibt Wege zur Verhinderung der Umsetzung der Räumungsklage“. Und dann ging ich wieder los und soff noch sieben Monate, bis ich in die Suchtfachklinik in Motzen (Brandenburg) einzog. Hausärztin, Sozialpsychiatrischer Dienst; Sozialamt, Abteilung zur Verhinderung von Obdachlosigkeit; Umschuldungsverhandlungen mit der Bank; Offenlegung meiner Situation gegenüber dem Amtsgericht, um die Räumungsklage abzuwenden; Mieter­beratungsgespräch mit unermesslicher Schamesröte im Gesicht, Schuldnerberatung; Briefe an den Vermieter; Besuch der Suchtberatungsstelle; Verhandlungen mit dem Stromanbieter mit dem Ziel der Schuldenregelung und des Zuschaltens von Strom; Verhandlungen mit dem Te­lefonanbieter, um wieder telefonieren zu können; Teilnahme an zahlreichen Gruppensitzun­gen in der Suchtberatung, bei denen ich immer noch und immer wieder von meinem Alkohol­konsum zwischen den Sitzungen berichtete; Erklärungen an die Krankenkasse wegen der lan­gen Krankschreibung, Anamnese und dazwischen immer wieder Pausen fürs Trinken um zu „überleben“. Und: Einbeziehung meiner Lebenspartnerin, engster Freunde in die Planungen für die Entwöhnungsbehandlung – also Offenlegen, dass ich Alkoholprobleme habe.

  Wenn Alkohol Probleme macht – und das war Erkenntnis und Gewissheit für mich geworden – ist Alkohol das Problem. Ich sah ein, alkoholkrank zu sein. Und dann brauchte ich noch ein­mal eine Zeit bis ich aussprechen konnte: Ich bin Alkoholiker!

Der erste Schritt nach so vielen ersten Versuchen und Schritten. Die Alkoholkrankheit entwi­ckelt sich ohne eigenes Wollen, und nur mit gutem Willen kann sie nicht aufgehalten werden.

Heute bin ich mehr als sieben Jahre trocken. Was für ein berauschendes Gefühl.

 

 

Titelthema 04/11: Es gibt ein Leben nach der Therapie

Es gibt ein Leben nach der Therapie

Interview mit Dr. Thomas Reuter, OA der Klinik für Abhängigkeitserkrankungen in der DRK-Klinik Berlin-Mitte und Vorsitzender der Landesstelle Berlin für Suchtfragen

Herr Dr. Reuter, seit wann kann bei Ihnen entzogen werden?

Seit 1983, damals noch am Standort Mariendorf, und seit dem 1. Januar 1997 hier im Wedding.

 Wie viele Patienten mit einer Abhängigkeitserkrankung wurden während dieser Zeit behandelt?

Ich schätze, dass in den zurückliegenden fast 30 Jahren ca. 25.000 Patienten bei uns behandelt wurden.

 Kann man in der Hauptstadt eine Tendenz bei Suchterkrankungen erkennen?

Im Laufe der letzten zehn Jahre haben wir etwa 12.500 Behandlungen wegen Alkoholismus jährlich in Berlin. Diese Zahl ist relativ stabil.

 Welche Abhängigkeiten werden in der „Drontheimer“ behandelt?

Ich sage immer spaßeshalber, wir machen Entgiftungen aller Art. Wir entziehen von allen stoffgebundenen, aber auch stoffungebundenen Süchten, wie z. B. der Glücksspielsucht.

Wann ist eine stationäre Entgiftung angebracht?

Generell ist ein stationärer Entzug angesagt, wenn es bei früheren Entzügen schon Komplikationen gab (Krampfanfälle, Delirien), also speziell bei Alkohol. Und auch dann, wenn ambulante Behandlungen nicht zum Ergebnis (Abstinenz) geführt haben, ist ein stationärer Entzug angesagt.

Welche „organisatorischen“ Voraussetzungen müssen erfüllt werden?

Der Patient braucht eine Einweisung von seinem behandelnden Arzt und die Bestätigung der Kostenübernahme durch seine Krankenkasse.
Wenn das nicht möglich ist, kann auch bei entsprechenden Voraussetzungen im Einzelfall eine Notfallaufnahme direkt erfolgen.

Was kommt auf den Patienten bei einer Entzugsbehandlung zu?

Das erste ist, die Intoxikation abklingen zu lassen und die Entzugssyndrome zu begleiten bzw. zu behandeln. An zweiter Stelle steht die Diagnostik eventuell begleitender Erkrankungen, also gibt es schon Schädigungen von Organen bzw. psychischer Art. Und an dritter Stelle steht, was das eigentlich Wichtige und Qualifizierende einer Entzugsbehandlung ausmacht: den Patienten in eine Richtung zu führen, die ihm erlaubt, zukünftig ein suchtmittelfreies Leben zu führen. Wobei ich die heute durch die vorläufige Kostenzusage der Krankenkassen üblichen sieben Tage für eine Entzugsbehandlung für zu kurz halte. Viele Patienten sind zwar nach 7 Tagen körperlich erholt, aber noch nicht psychisch.

Wie wichtig ist die Einbeziehung der Angehörigen für eine erfolgreiche Behandlung?

Das ist ein wichtiges wie auch schwieriges Kapitel. Wir selber haben ja hier in der Klinik ein- bis zweimal in der Woche Angebote für Angehörige, die jedoch eher spärlich besucht werden. Dies ist vordergründig wohl der Einstellung des Angehörigen zu danken, von dem Partner befreit und entlastet zu sein und dass die Klinik ihn schon wieder in Ordnung bringt. Unseres Erachtens steht aber dahinter die wohl am ehesten unbewusste Ahnung, dass auch auf den Angehörigen Veränderungen und Anstrengungen zukommen, damit ein gemeinsames abstinentes Leben möglich wird. Und hier ist der solidarische Verzicht auf das Suchtmittel noch die geringfügigste Anforderung für den Angehörigen. Es geht letztendlich um die Entdeckung, wo einem vielleicht das Trinken des Partners sogar Vorteile verschafft hat bzw. man – und bitte natürlich nie bewusst und absichtlich – zum Teil auf Kosten der Gesundheit des Partners gelebt hat. Wir denken, dass der Angehörige hierzu und für die daraus notwendigen Veränderungen genauso wie der Betroffene der Hilfe und der Selbsthilfe bedarf.

Es ist also eine Illusion zu glauben, ,,den biege ich mir schon hin“?

Ja, natürlich. Es ist bekannt, dass in der Abstinenzphase die Scheidungsquoten steigen. Ich höre auch in Angehörigengesprächen schon mal folgende Aussage: Herr Doktor, es ist ja schön, dass mein Mann jetzt nicht mehr trinkt, und er macht auch wieder alles und hat sogar einen Job bekommen, dafür bin ich Ihnen auch sehr dankbar, aber da gibt es so’n paar Sachen, da war er mir früher lieber. Da war er pflegeleichter. Und er geht jede Woche in eine Gruppe, was macht er denn da? Lernt er dort fremde Frauen kennen? Da gibt es alle möglichen Verdächtigungen, Zweifel und Unverständnis. In den betroffenen Familien haben sich natürlich im Laufe der Sucht eines Partners Strukturen herausgebildet, z. B. was Entscheidungen betraf. Da hat immer der nicht Abhängige alles entschieden, plötzlich will der Abstinente auch wieder entscheiden – was ja völlig legitim ist. Damit muss der Partner etwas hergeben, was einer der betörendsten Stoffe im Leben ist, und der heißt Macht.

Nach dem Entzug folgt in der Regel eine längere Entwöhnungsbehandlung. Da gibt es unterschiedliche Möglichkeiten: stationär, ambulant, Tagestherapien oder gleich Selbsthilfegruppen. Können Sie hier eine Empfehlung aussprechen?

Es gibt schon Anhaltspunkte, welche Form der Therapie bei wem erfolgreich sein könnte. Grob kann man sich an folgenden Punkten orientieren: Eine ambulante Therapie kann dort angewendet werden, wo ein intaktes und suchtmittelfreies soziales Umfeld besteht – Angehörige, Freunde usw. Außerdem braucht der Patient eine Tagesstruktur, am besten eine Arbeit. Wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, sollte meines Erachtens eine stationäre Therapie bevorzugt werden. Wenn aus der Anamnese hervorgeht, dass für den Patienten in den letzten Jahren Abstinenzzeiten, die länger als ein bis zwei Monate dauerten, nicht bekannt sind, ist ebenfalls von einer ambulanten Therapie abzuraten.

Bei ambulanten Therapien, die ebenfalls von den Rentenversicherungsträgern finanziert werden, wird eine mindestens vierwöchige Abstinenz nach der Entzugsbehandlung gefordert. Dazu gibt es in den Beratungsstellen besondere Vorbereitungsgruppen, um diese nicht unkritische Zeit zu überbrücken.

Die ambulante 6-Wochen-Therapie des AKB e. V. ist ein besonderer Fall. Für mich ist das übrigens keine Therapie, weil dort keine hauptamtlichen Therapeuten sitzen, sondern eine sechswöchige Selbsthilfemaßnahme unter Leitung langjährig trockener Alkoholiker. Sie kann allerdings sehr wirksam sein, zumal wenn andere Therapien nicht erfolgreich waren. Wer das durchsteht, hat gute Chancen auf eine dauerhafte Trockenheit. Ihr Vorteil ist ja auch, dass man sie nicht beantragen muss.

Gibt es Aussagen zur Häufigkeit von Rückfällen?

Hinsichtlich der Rückfallquote nach Entwöhnungsbehandlungen waren nach einer Untersuchung von 1986 nach vier Jahren noch 46% abstinent und nach zehn Jahren geht man von einer Quote von 25% aus. Für die Entzugsbehandlung nimmt man eine Rückfallquote von etwa 70% im ersten Jahr an. Insgesamt sind diese Zahlen, verglichen mit anderen chronischen Erkrankungen, gar nicht so schlecht und es besteht kein Grund zu verzweifeln, wenn es im ersten Anlauf nicht klappt.

Wie definieren Sie „Erfolg“ bei Abhängigkeitserkrankungen?

Ohne in Beliebigkeiten zu verfallen, kann eine Abstinenzzeit von z. B. 3 Monaten für den einen Abhängigen einen großen Erfolg darstellen für den anderen aber einen deutlicher Misserfolg. Generell ist aber auch hier der Selbsthilfe zu folgen: jeder trockene Tag ist ein guter Tag und des Dankes am Abend wert.

Gibt es für Sie einen Unterschied zwischen „Ausrutscher“ und „Rückfall“?

Nein, ich bin da ziemlich puristisch: ein Rückfall ist der erste Konsum nach einem Entzug. Ich fürchte bei dieser Differenzierung die Interpretationskunst der Süchtigen, die aus fünf zu gerne eine gerade Zahl macht. Wichtig ist, dass der Betroffene darüber redet. Ein Rückfall ist ja nicht der Untergang der Welt, aber eben auch nicht eine zu vernachlässigende Kleinigkeit…

Viele Betroffene, auch Angehörige, sind der irrigen Meinung, nach einem Entzug und eventuell noch einer Entwöhnungsbehandlung wäre alles wieder gut, man sei sozusagen „geheilt“, oder wie in Medien oft behauptet, ,,Exalkoholiker“. Wie ist der Standpunkt des Mediziners dazu?

Wir Mediziner unterscheiden zwischen akuten und chronischen Erkrankungen. Die Alkoholkrankheit zählt zu den chronischen, also lebenslangen Erkrankungen. Sie ist damit zusammen mit Krankheiten wie dem Bluthochdruck oder der Zuckerkrankheit nicht heilbar, aber gut behandelbar, vorausgesetzt es findet eine kontinuierliche Behandlung statt. Es gibt aber auf die Dauer keine professionelle Therapie bei einer Alkoholabhängigkeit. Der Entzug ist die Einleitungsphase, die Entwöhnung die psycho-therapeutische Behandlung, vielleicht gibt es auch eine Nachsorge oder noch eine Adaptationsbehandlung, aber dann beginnt es: das Leben nach der Therapie. Und hier gibt es meines Erachtens nur eine Möglichkeit: die Selbsthilfe. Sie vermittelt so wichtige Dinge wie Solidarität, Hoffnung, Erfahrungsaustausch, bewahrt vor Übermut und vielem mehr. Hinsichtlich ihrer Wirksamkeit spricht die Vielzahl der Gruppen eine eindeutige Sprache: denn was nicht wirkt, hätte sich nicht so lange gehalten. Und langfristig bietet die Selbsthilfe noch einen großen Vorteil, den keine professionelle Hilfe vermitteln kann: Der Zuckerkranke bleibt immer auf den Arzt und den Apotheker angewiesen. Die Suchtkranken können jedoch über die Selbsthilfe ein Maß an Freiheit, an Unabhängigkeit erlangen, das einem Diabetiker verwehrt bleibt. Und deshalb ist es so wichtig, dass sich der Abhängige nach der Entwöhnung – oder besser schon vorher, dann wird es auch im Übermut nach einer erfolgreichen Therapie nicht vergessen – einer Selbsthilfegruppe anschließt. Wobei nicht immer die erste die beste sein muss, aber man über dem Suchen das Finden auch nicht vergessen sollte.

Herr Dr. Reuter, herzlichen Dank für das Gespräch!

Interview: Jürgen Schiebert

 

 

Titelthema 03/11: Rückfall oder Vorfall

Herr M. lernt sprechen –

über falsche Schamgefühle, Rückfälle und Vorfälle

Dies ist der letzte Teil unserer Serie über Rückfälle. Während es in den stationären Einrichtungen meist Spielregeln gibt, wie mit Rückfällen umzugehen ist (siehe auch Artikel von Dr. Lindenmeyer in der Ausgabe 2/2011) plagen sich Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und auch Angehörige oft mit der Frage, was jetzt genau die richtige Entscheidung ist.

Handelt es sich um einen Notfall? Trinkt er sich tot? Was soll ich tun, wenn er nicht mehr ans Telefon geht? Was soll ich tun, wenn er betrunken Auto fahren will?

Viele Fragen. Man kann aber nicht damit rechnen, dass sich der Rückfällige offenbart, dass er mitwirkt an der Behandlung. Er lügt, weil er sich schämt. Das ist sein Problem, aber auch das Problem der Helfer.

Herr M. ging schon 17 Jahre zum gleichen Arzt. Immer wenn er krank war zählte er ihm seine Symptome auf und der Arzt stellte die Diagnose. Bei Fieber tippte er meist auf Grippe und schrieb ihn krank. Einmal war die Ursache des Fiebers aber eine andere, nicht Grippe, sondern eine Blinddarmentzündung lag vor, und nun schickte der Arzt ihn sofort zu den Chirurgen, ins nächste Krankenhaus. Die Rettung fand in letzter Minute mit dem Skalpell statt, der Blinddarm wurde herausgeschnitten.

So hatte Herr M. im Laufe der Jahre ein gutes Vertrauensverhältnis zu seinem Arzt aufgebaut. Bei Bauchschmerzen, Kopfschmerzen oder Fieber ging er hin, und ihm wurde geholfen. Trotzdem erzählte er seinem Arzt nicht alles. Manche Sachen erzählte er nur seinem Beichtvater, der meistens gnädig ein „Ego te absolvo“ aussprach und ihn zur Buße drei Vaterunser beten ließ.

Manche Begebenheiten erzählte er weder dem Arzt noch dem Pfarrer. Immer wenn er sich schämte, erzählte er niemandem etwas. Er schämte sich z. B. dafür, dass er nicht die Leistung erbrachte, die seine Eltern von ihm erwartet hatten. Eigentlich sollte er ja intelligent, großartig und berühmt werden. Zehn Vornamen hatten sie ihm verpasst und damit ihre hohen Erwartungen an ihren Sohn deutlich gemacht. Aber, seine Versuche grandios zu werden, scheiterten. Der Doktortitel, den er heimlich in den arabischen Emiraten gekauft hatte, war eben nicht echt, und das erzählte er niemandem. Besonders geheim hielt er auch seinen Weinkeller und nicht nur den, sondern auch das Trinken der Produkte, die dieser Keller enthielt. Früher war das anders gewesen, da haue er mit seinem Weinkeller geprahlt und nur wenige Gläser getrunken. Früher hatte der Wein auch seine Gefühle, klein und mickrig zu sein, beseitigt. Zwei Glas reichten und er war der Größte. Seit mehreren Jahren hatte er jedoch zunehmend den Eindruck, den Wein nicht mehr dosiert trinken zu können. Es wurde immer mehr, als er sich vorgenommen hatte. Das war ihm peinlich. Er begann sich dafür zu schämen, genauso wie für den falschen Doktortitel und die vielen Vornamen. Wofür man sich schämt, darüber schweigt man, das hatte er gelernt. Aber, eines Tages musste seine Frau ihn ins Krankenhaus fahren, weil er plötzlich bewusstlos zusammengebrochen war und mit Armen und Beinen schreckliche Zuckungen ausführte. Das war dramatisch, ein Notfall. Im Krankenhaus erhielt er eine Spritze und eine Diagnose und dann wurde er wieder entlassen. Die Spritze half, aber an die Diagnose glaubte er nicht. Von Alkoholismus war die Rede, ein Wort, über das man nicht spricht, jedenfalls nicht, wenn es einen selbst betrifft. Nach drei weiteren Notaufnahmen im Krankenhaus sagte seine Frau, er müsse nun in eine Beratungsstelle gehen, sonst würde sie ausziehen. Herr M. tat, was seine Frau wollte. Aber er schämte sich und er war wütend und traurig.

In der Beratungsstelle hörte man ihm aber überraschend freundlich zu und er ging wieder hin, mehrmals sogar. Er erzählte dort aber nur die Hälfte. Den Sturz von der Kellertreppe erzählte er nicht, auch nicht, dass er alkoholisiert auf seinen Sohn eingeschlagen hatte und auch nicht, dass er sich bei seiner Arbeit mit den Bilanzen vertan hatte, was an seinen Entzugserscheinungen lag.

Wieder sagte jemand, er sei Alkoholiker. Ein schreckliches Wort. Er überlegte, ob er den Titel Alkoholiker nicht in den arabischen Emiraten verkaufen könnte, wo er ja seinen falschen Doktortitel gekauft hatte. Aber er sah ein, das war eine Schnapsidee, den Titel würde ihm ja niemand abkaufen. Alkoholiker wollte er nicht sein. Für Grippe und Blinddarmentzündung hatte er sich nicht geschämt, für die Alkoholabhängigkeit schämte er sich. Dann sollte er sogar noch in eine Selbsthilfegruppe gehen, wo nur Alkoholiker sitzen. Eine schreckliche Vorstellung. Als er aber hörte, dort könne man anonym hingehen, man brauche nur seinen Vornamen sagen, dachte er daran, es zu versuchen. Einmal ist keinmal, dachte er. Tatsächlich waren da nur Alkoholiker, und die sahen sogar völlig normal aus. Menschen wie du und ich. Man sprach übers Trinken und Rückfälle. Er sagte nichts, er hörte nur zu. Dann achtete er darauf, möglichst ungesehen wieder zu verschwinden.

Herr M. wurde noch mehrmals rückfällig. Immer wenn er sich schämte, stieg er in seinen Weinkeller hinab. Einmal ist keinmal, dachte er. Nach ein paar Gläsern Wein verschwand das Schamgefühl. Ein wunderbares Mittel, der Wein. Wenn nur die Nebenwirkungen nicht wären … Er musste wieder ins Krankenhaus, ihm wurde gekündigt und seine Frau zog jetzt manchmal an den Wochenenden zu einer Freundin. Noch immer verschwieg er große Teile seines alkoholischen Lebens, außerdem begann er nun zu schwindeln. Wenn er Wein kaufen ging, erzählte er, er hätte Weinessig gekauft. Dem Pfarrer sagte er nichts und den Arzt hatte er gewechselt, nachdem der die eigentümlichen Entlassungsberichte mit der Diagnose Alkoholismus aus dem Krankenhaus erhalten hatte. Der neue Arzt hatte auch keine Ahnung und so verfloss die Zeit und Herr M. wurde einsamer.

Eines Tages sagte ihm eine Stimme, er solle nun einhalten und umkehren. Ob es seine eigene Stimme war, die seiner geschiedenen Frau, die des Krankenhausarztes oder eine göttliche Stimme, das wusste er später nicht mehr. Aber, Herr M. hielt ein, Herr M. hörte auf zu trinken.

Einhalten und umkehren hieß auch auspacken. Herr M. packte aus. Er erzählte von seiner einsamen Wirklichkeit, von den Symptomen seiner Krankheit: dem Arzt, der Gruppe, der Beratungsstelle und sogar seinen Eltern. Scheitern ist schrecklich. Es gehört Mut dazu, sich Niederlagen zu stellen. Aber Herr M. wollte nicht mehr der ewige Verlierer sein. Er sah nun, dass er nur überleben würde, wenn er es mit Offenheit versuchen würde. Das Echo war unterschiedlich. Seine Eltern verstanden ihn nicht, aber die in der Beratungsstelle und in der Selbsthilfegruppe respektierten ihn. Anders als vermutet, erhielt er Anerkennung und Hilfe. Die neue Offenheit half ihm, endlich eine wirksame Therapie anzunehmen, und er ging für ein paar Monate in eine Fachklinik. Dort konnte er prüfen, welche Schamgefühle nützlich waren und welche überflüssig. Er befasste sich auch mit anderen Gefühlen: mit Ängsten, Unsicherheit, Unruhe und resultierenden Trinkwünschen. Er sprach in der Gruppe über seine Rückfälle, seine Niederlagen. Nun schämte er sich, dass er sich so lange geschämt hatte. Welch ein Zeitverlust! Hätte er doch seinem Arzt rechtzeitig reinen Wein eingeschenkt, wie damals bei der Blinddarmentzündung! Dann hätte der ihn doch auch sofort eingewiesen – nicht zu den Chirurgen, sondern auf die Entzugsstation. Aber, jetzt war er endlich abstinent und er wurde selbstsicherer. Ein neues Leben begann. Manches konnte repariert werden, manches nicht. Seine Frau zeigte wieder Interesse an ihm, was daraus werden würde, blieb offen. Sein früherer Arbeitgeber war nicht mehr interessiert: Kündigung blieb Kündigung. Aber manche Mitglieder der Selbsthilfegruppe wurden allmählich zu Freunden. Es gab noch viele Schatten in seinem Leben, aber nie wieder wurde es so dunkel, wie es früher in seinem Weinkeller gewesen war.

Heidt-Müller

Titelthema 02/11: Es ist mal wieder passiert

Das Rätsel Rückfall oder: „… es ist mal wieder passiert …“

Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel

Ich war noch jung, etwa vier Jahre alkoholabhängig, als ich mit dem Zug zum Studium nach Düsseldorf fuhr. Kurz vor einer Haltestelle bekam ich einen Angstanfall. An der Haltestelle stieg ich aus und blickte mich um, als der Zug abgefahren und der Bahnsteig leer war. Es war ein wunderschöner Friihsommennorgen, ich konnte in das Ruhrtal hinunter blicken, auf die Mintard-Brücke in der Ferne. Die Trinkhalle war offen und in der Trinkhalle eine freundliche Verkäuferin. Ich war nur wenig hin und her gerissen. Ich spürte zwar genau, dass das Trinken falsch sein würde, aber dennoch trank ich. Dieses Ereignis ist fast 50 Jahre her und ich habe es nie vergessen.

Als abstinenter Alkoholiker, der durchgängig trocken bleiben durfte, bin ich mir durchaus darüber im Klaren, dass auch ich stets mehr oder weniger gefährdet bin, rückfällig zu werden, was zu dem Schluss führen kann: ,.Du solltest Dein Maul nicht so weit aufreißen“. Lange habe ich gedacht, es entwickelt sich eine Art negative Magie, wenn ich zu „übermütig“ werde und ein solches Thema anschneide. Das rückt aber das ganze Rückfallgeschehen in die Nähe einer Art bösen Rückfallzaubers, dem man sich aussetzt, wenn man versucht, Distanz aufzunehmen und etwas über den Rückfall zu schreiben. Heute, auf meinem Weg in eine weitere zufriedene Nüchternheit, weiß ich: Meine Erfahrungen verpflichten mich sogar dazu, Erkenntnis, Erfahrung, Kraft und Hoffnung weiterzugeben, und so Denk- und Gefühlsanstöße zu geben, um vielleicht Rückfälle zu verhindern.

Es wird gerne übersehen, dass Rückfälle im Leben eines Alkoholikers oder Drogenabhängigen etwas ganz Normales sind: Alkoholismus ist zum Beispiel eine Rückfallkrankheit. Seltsamerweise erinnern sich nur wenige Patienten in einer Therapie an diese Tatsache und bezeichnen etwas als Rückfall, was nach einer Therapie stattgefunden hat. Und das stimmt eben nicht. Immer und immer wieder haben sie versucht, kontrolliert zu trinken, Tabletten oder Drogen zu nehmen, oder zu kiffen, um immer wieder festzustellen, dass sie genau das nicht kontrollieren können. Dabei werden Süchtige zunehmend unfähiger, die erforderlichen Schlüsse aus diesem Erleben zu ziehen, bzw. auf ihr Gewissen oder die Aussagen von Freunden und Angehörigen zu hören.

Vielleicht ist es zu Beginn dieser Arbeit wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass jeder Suchtkranke seine persönliche Sucht hat, so wie wir zum Beispiel, auch unterschiedlich gekleidet sind. Wir sind ja von Anfang an, auch in jüngsten Jahren, schon eine Persönlichkeit, die sich entwickelt und reifen kann, in der zwar keine „Sucht steckt“, aber doch wohl Defizite vorliegen, welche die Entwicklung behindern und bestimmte Strukturmerkmale prägen. Wenn diese in Richtung Sucht weisen, nennt man das, wie bei jeder anderen Krankheit auch, Prädisposition. Beispielhaft sei auf den so genannten Reizschutz verwiesen. Einfach gesagt, es gibt Menschen mit einem sehr dünnen und solche mit einem sehr dicken Fell. Dabei kann man sich gut vorstellen, dass jemand, der sehr empfindlich und dünnhäutig auf Alltagsereignisse reagiert und zuhause auch noch einen Dauerstress hat, geradezu glücklich ist, wenn er zum ersten Mal die angstlösende und befreiende Wirkung des Alkohols spürt: Fachleute nennen diese Wirkung die .Erlöserwirkung“ einer Droge. Deshalb sagen auch manche Suchtkranke: ,,Ich war vom ersten Schluck an abhängig.“ Niemand wird hinter diesem sehr angenehmen Gefühl den Beginn einer Sucht vermuten. Warum sollte man in einer trinkenden Gesellschaft, in der auch ein Rausch erlaubt ist, sich von Anfang an von einer Droge abschneiden, die so angenehm und hilfreich wirkt?

Seltsamerweise schmeckt vielen Süchtigen zu Beginn der Alkohol nicht, so dass ich manchmal denke, dass wir uns unsere Süchte wie Rauchen, Trinken oder Drogen nehmen am Anfang geradezu „anquälen“ müssen. Da wir auf die Erlöserwirkung der Droge gar nicht verzichten wollen oder können, wechseln nicht wenige nach jedem Desaster die Alkoholart. Sie hofften und nehmen an, dass sie diesen Alkohol kontrolliert trinken können und vielleicht doch etwas Besonderes wären in der Welt der Vieltrinker. Sie können sich nicht vorstellen, dass sie eines Tages herabgestuft werden könnten auf dieses primitive ,,Mund auf, Stoff rein, Wirkung abwarten.“

Bis zum heutigen Tage erleben Suchtkranke Rückfälle unterschiedlich. Nicht selten als etwas Unerklärliches, Plötzliches. Und weil sie sich dieses Ereignis nicht erklären können, suchen sie sich irgendein Ereignis aus, das, je eindringlicher es ist, einen Rückfall am besten erklärt. Dabei dient das Ereignis in der Regel als Begründung für den Rückfall. Zurzeit sind ,,Mobbing“, Burnout oder ein Todesfall die .Renner“, wenn es darum geht, einen Rückfall zu begründen. Beispielhaft mache ich folgendes klar: Was glauben Sie, wie es in Deutschland aussähe, wenn jeder, der gemobbt wird oder ein Burn-out hat und dagegen Alkohol trinkt, Alkoholiker würde? Es muss also eine besondere Reaktionsweise bei bestimmten Menschen geben, die in den genannten Situationen unbedingt und wider besseres Wissen die Erlöserwirkung der Droge brauchen, und sei es auch nur für eine halbe Stunde. Und diese Wirkung ist so stark, dass auch der Wunsch nach Abstinenz nicht eingehalten werden kann.

Je älter ich werde, desto mehr neige ich zum Einfachen. Das Einfache haftet oft lebenslang, wie mein Erlebnis auf dem Bahnhof als Student zeigt, während ein Regelwerk durchaus schnell wieder vergessen werden kann, wenn es keine „Nahrung“ erhält und immer wieder vertieft und eingeübt wird.

Für das Einfache möchte ich zwei Beispiele nennen:

Marlatt und Gordon haben vor 25 Jahren bereits beschrieben, dass Unzufriedenheit im Leben durchaus in einen Rückfall münden kann. So einfach ist das: Ich habe dafür zu sorgen und die Verantwortung dafür zu tragen, dass ich so wenig unzufrieden wie möglich bin und dass ich zunächst Verständnis dafür aufbringen muss, warum ein durch eine Droge geschädigtes Gehirn etwas mehr Ruhe braucht und ich also vielleicht zunächst nicht allen familiären, beruflichen und gesellschaftlichen Verpflichtungen nachgehen kann.

Klaus Grawe, hat in seinem Buch „Psychologische Therapie“ auf etwas sehr Wichtiges hingewiesen:

Es ist einfacher, eine Angst- und Panikstörung psychotherapeutisch zu behandeln als eine Alkoholkrankheit. Das liegt daran, dass die Panikstörung sich bis zum völligen Verschwinden bessert, wenn wir spüren und erkennen können, wie die Panik durch Aushalten und durch bestimmte Verhaltensweisen nachlässt. Dieses Nachlassen gibt uns einen großen positiven Schub, so dass wir im nächsten Arbeitsschritt schon etwas optimistischer daran arbeiten können.

Wenn wir uns aber fest vornehmen, nicht mehr zu trinken, also nicht mehr rückfällig zu werden, stehen wir einer Welt gegenüber, in der es dutzendfache Verführungen gibt, die versuchen, unser Vorhaben und die mühevoll aufgebaute Abstinenz zu schwächen.

Die Stärkung meiner „guten“ Vorsätze braucht ,,…regelmäßige Nahrung und Pflege…“ , um dieses Vorhaben gegen das Eindringen alt gewohnter Verführungen abzuschirmen. „… Die Anonymen Alkoholiker haben daraus eine folgerichtige Konsequenz gezogen…“, schreibt Grawe.

Ich war derartig verblüfft, dass ein Professor für Medizinische Psychologie und Psychotherapieforscher nun ausgerechnet AA erwähnt, dass ich sofort nachgelesen habe, ob das auch so in dem Lehrbuch steht. Offenbar meint Grawe damit, dass alleine die Tatsache, dass ich regelmäßig ein- bis zweimal in der Woche in eine Selbsthilfegruppe gehe und im Gespräch laut sage: ,,Mein Name ist Rüdiger, ich bin Alkoholiker“ – mein Abstinenz-Vorhaben vertieft und verstärkt.

Gute therapeutische Möglichkeiten, über die Lindenmeyer ausführlich geschrieben hat, sind zum Scheitern verurteilt, wenn die Patienten nicht an deren Effektivität glauben können oder wollen. Der kleine entscheidende Schritt zum Glauben hin ist die Akzeptanz der Tatsache, dass ich nicht trinken kann, also abstinent leben muss. Nur, wenn ich das zu Anfang wenigstens zeitweise weiß, werde ich auch bereit sein, Therapeuten oder längerfristig abstinente Suchtkranke zu fragen, welche Möglichkeiten es gibt, um meine Abstinenz zu erhalten.

Denn wenn ich alleine langfristig abstinent leben könnte, hätte ich das ja wohl schon längst getan und es wäre nicht erforderlich gewesen, eine Entgiftung und eine Entwöhnung durchzuführen.

Selbsthilfegruppen haben, wie wir nach über 100 Jahren wissen, eine derartige abstinenzstärkende Wirkung, dass wir heute von einem Kunstfehler sprechen müssen, wenn Therapeuten oder Ärzte uns eine solche Selbsthilfegruppe nicht dringend zur langen Nachsorge empfehlen.

Allen guten therapeutischen Hilfsmöglichkeiten zum Trotz, erfahre ich auch immer wieder, dass in einer stationären oder ambulanten Therapie nicht deutlich genug darauf hingewiesen wird, wie lange der Aufbau einer stabilen Abstinenz und einer sicheren Genesung dauert. Das halte ich für ein großes Unglück, denn der Glaube an die Naturwissenschaften hat in der heutigen Zeit auch dazu geführt, dass wir davon ausgehen, dass ein therapeutischer Prozess ein bestimmtes Ergebnis hat, welches dann auch tragen muss. Ein Beispiel: Sechs Tage nach einer Blinddarmoperation kann man wieder nachhause gehen.

Suchtkranke sind aber bei chronischem Verlauf in der Regel geistig-seelisch und körperlich derartig geschädigt, dass es etwa drei Jahre dauert, bis ich mich in etwa zu dem oder der entwickelt habe, der oder die ich bin. Mich also besser erkenne und meine Abstinenz besser annehmen kann.

Der ständige Kontakt mit der trinkenden Welt ist für einen abstinenten Alkoholiker zunächst viel anstrengender als er glaubt. Dazu kommt das Bemühen, sich im familiären und beruflichen Umfeld wieder zu rehabilitieren, das – vielleicht auch zu Recht – mit Vorhaltungen nicht geizt. Das erste „einfache“ Phänomen, das Suchtkranke zu Beginn der Abstinenz heimsucht ist eine ausgeprägte Erschöpfung.

Die Umwelt erwartet von mir, auch wenn es manchmal nicht ausgesprochen wird, dass jetzt „alles gut ist“ und ich wieder so sein soll wie früher. Die Menschen denken, mein jetzt behinderter Geist und Körper habe sich nicht verändert und sei gesund in dem Moment, in dem ich keinen Alkohol mehr zu mir nehme. Früher hat mich die Droge wie eine Schicht Styropor abgeschirmt. Jetzt fühle ich mich in den ersten Wochen und Monaten, als ob mir bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen sei, so dünnhäutig bin ich und leide unter dem enormen, hohen Informationszufluss. Es gibt nur wenige Menschen, die sich nach der Entwöhnung gut und gesund fühlen, in der Regel sind die Betroffenen müde, matt, verwirrt, ängstlich und traurig. Wer will schon zugeben, dass er sich um 16.00 Uhr müde und erschöpft nach des Tages Arbeit ins Bett legen muss und erst zum gemeinsamen Abendessen wieder aufstehen kann. Auf diese Erschöpfung müssen Süchtige auch psychologisch vorbereitet werden! Dazu kommt nicht selten eine über 24 Monate gehende Schlafstörung, so dass wir in der Nachsorge die Menschen immer wieder ermutigen müssen, dass die Erschöpfung und auch die Schlafstörung eines Tages vorüber gehen werden (40 Zigaretten und 3 1 Kaffee pro Tag sind die falsche Behandlungsart!).

Ein wichtiger Grund für die chronische Erschöpfung ist auch etwas, das ich „Gefühlsmatsch“ nennen will. Süchtige Menschen sind am Ende ihrer Erkrankung kaum noch im Stande, Gefühle differenziert zu erleben und auszuhalten. Nicht suchtkranke, erwachsene Menschen erleben in der Regel gleichzeitig unterschiedliche Gefühle wie z. B. Angst und Freude und können diese auch differenziert auseinanderhalten. Suchtkranke können das oft nicht und werden nicht selten quasi überflutet von einem großen Volumen undifferenzierter Gefühle in unterschiedlicher Qualität und Quantität, dem von mir so genannten „Gefühlsmatsch“. Das auszuhalten ohne zu trinken, ist enorm anstrengend und erschöpfend.

Ein zweites „einfaches“ Hindernis beim Erhalt meiner Abstinenz ist meine eigene Unehrlichkeit.

Ich habe viele Jahre gebraucht um zu begreifen, dass sich niemand so betrügen kann wie ich mich selbst. Meine persönliche Wahrheit, der familiäre Zusammenbruch, der finanzielle Zusammenbruch und die Tatsache, dass ich nun zu den Alkoholikern gehörte, ließ mich schier verzweifeln und mein Leben unwert werden und deshalb vieles leugnen, was ich mir unbedingt hätte klarmachen müssen. Es ist sehr schwer, eingeschliffene Verhaltensweisen zu ändern. Ich hatte bis zu meinem Tiefpunkteinen ziemlich großen Mund und eine ganze Anzahl von Menschen verletzt, um beruflich vorwärts zu kommen und hatte noch lange nicht begriffen, dass Ehrlichkeit mich nicht verletzlich machen würde und dass niemand vorhatte, mich auszulachen. Natürlich haben Menschen Wetten darüber abgeschlossen, wann ich wieder trinke, und ich habe mich in den ersten Jahren tierisch darüber geärgert, wenn mal wieder jemand erzählte, er hätte gesehen, wie ich betrunken in ein Krankenhaus eingeliefert worden sei. Aber was soll man dagegen machen?

Es war schon schmerzlich genug, dass die alten Methoden meines Lebens nicht mehr greifen konnten, ich aber noch keine neuen entwickelt hatte. Ich fand es ziemlich schrecklich, Probleme nicht mehr so einfach lösen zu können wie früher. Es war ein großer Schritt in meinem Leben, als mir eines Tages jemand beibrachte und ich begreifen konnte, dass ich nicht von heute auf morgen über meine Wahrheit verfügen kann, aber dass es genügt, wenn ich die Bereitschaft dazu aufbringe, ehrlich zu werden und vorsichtig zu üben beginne. Als ganz einfache Übung habe ich damit begonnen, den Versuch zu unternehmen, einmal einen ganzen Tag ehrlich zu sein zu mir und anderen, ohne dies jemandem zu sagen und ohne jedes „Theater“. Das ist ein großer Schritt gegen Rückfälle, wenn ich endlich spüren kann, dass Ehrlichkeit niemals falsch sein kann.

Sehr wichtig sind die Erkenntnis und der Glaube daran, dass es ein Suchtgedächtnis gibt. Jeder kann das im Internet oder in der Literatur nachlesen. Ich habe allerdings auch erlebt, dass ein angehender Arzt, Psychologe oder Sozialarbeiter den Suchtkranken erklärt hat, es gebe kein Suchtgedächtnis, das habe er im Studium gelernt. Deshalb möchte ich ein letztes Beispiel aus meiner persönlichen Geschichte zitieren:

Im Rahmen einer recht komplizierten Operation sollte ich nach langer Abstinenz während der Operation Opiate bekommen. Natürlich habe ich dem Oberarzt der Anästhesie alles vorgetragen, was uns zur Verfügung steht, aber seine Antwort war schlicht: ,,Sagen Sie mir, was ich Ihnen stattdessen geben soll, damit wir Sie überhaupt operieren können!“

Die Operation verlief gut, und ich war überrascht, was ich für eine glänzende Laune nach der OP hatte, meine gebrochenen Rippen taten, ebenso wie die operierte Schulter nicht mehr wesentlich weh. Ich fand die Narkose sei eine tolle Sache gewesen. Und teilte das auch jedem mit, der es hören wollte.

Ich war etwas misstrauisch, weil ich mich gerne an die Operation erinnerte und auch nichts dagegen gehabt hätte, wenn man mich zwei oder drei Tage später aus irgendeinem Grund noch einmal operiert hätte. Ich hätte das eingesehen und sofort zugestimmt.

Etwa vier Wochen nach der Operation stand ich gedankenschwer vor einem großen Plakat, auf dem eine Brauerei mitteilte, es sei ihr gelungen, das wirklich alkoholfreie Bier zu brauen, als eine seltsam kühle Stimme in mir sagte, nach diesen vielen Jahren Trockenheit könnte ich jetzt doch bestimmt mal einen trinken, es sei ja kein Alkohol drin. Ich wusste genau wie das enden würde und wurde sehr unruhig. In der Gruppe sagte eine Freundin: ,,Du, Rüdiger, hör doch jetzt mal zu! Seit 14 Tagen versuche ich, Dir in den Gruppen klarzumachen, dass ich das kenne mit dem alkoholfreien Bier und habe von meinen zwei Operationen erzählt. Du hast mich aber nicht hören wollen oder können.“ Ich empfand diesen, aus der Kälte gewachsenen Vorschlag, doch mal einen zu trinken, als gefährlich und grausam und litt darunter, weil ich das bei mir nicht mehr für möglich gehalten hatte. Bis ich eines Tages nach einem Frühstück im Sonnenschein etwas entspannter durch einen Park ging und auf einer Bank einen alten Mann fand, der gewaltig rauchte. Er entließ den Rauch in alle Windrichtungen und ich nahm

genussvoll eine ganze Nase von davon. Da sagte dieselbe Stimme in mir: ,,Und rauchen könntest du übrigens auch mal wieder eine.“ Ich habe meine letzte Zigarette 1984 geraucht und schlagartig wurde mir klar, dass mein Suchtgedächtnis aktiviert war und mich zum Rauchen und Trinken bringen wollte. Von diesem Moment an ging es mir besser.

Ich habe versucht, einige „einfache“ Kleinigkeiten zu vermitteln, mit denen sich Rückfälle vielleicht vermeiden lassen. So hoffe ich, dass ich zeigen konnte, dass sich Erschöpfung und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, Unglaube, Gefühlsausbrüche und die Folgen des Suchtgedächtnisses in einer Selbsthilfegruppe unter „Gleichgesinnten“ leichter ertragen lassen, als wenn ich alleine versuche „eisern“ zu sein. Das ist ebenso nutzlos, wie in einer blitzsauberen Wohnung „von dem Teppich zu essen“, wie meine Mutter als Gipfel der Sauberkeit immer sagte.

Was kann ich denn nun tun, wenn meine Abstinenz gefährdet ist? Meine Erfahrung ist es, dass ich bedingungslos jede Form von Hilfe annehmen muss, die es gibt, um nicht zu Trinken oder Drogen zu nehmen. Und diese Bedingungslosigkeit beschäftigt mich bis heute und fördert meine Kreativität zum abstinenten Leben und meine Bitte an meine Höhere Macht, damit ich nicht eines Tages einmal sagen muss: ,,Leider ist es passiert.“

 

Titelthema 01/11: Das Rätsel Rückfall

Das Rätsel Rückfall

Was weiß man und was weiß man nicht

Johannes Lindenmeyer

Auch bei aufwändigen Behandlungen wird bis heute etwas mehr als die Hälfte der Suchtkranken früher oder später leider wieder rückfällig. Verständlicherweise stellt ein Rückfall eine große Enttäuschung und Frustration für den Betroffenen, aber auch für seine Angehörigen und seine Behandler dar:

Warum nur hat er nach erfolgreicher Abstinenz wieder angefangen? Entsprechend wurde und wird über die Entstehung von Rückfällen viel geschrieben und viel gemutmaßt. Es gibt viele Rückfall-Ideen und -Modelle, vieles davon klingt plausibel, aber nur wenig hält einer wissenschaftlichen Überprüfung stand. Selbst das berühmte Rückfallmodell von Marlatt, das bis heute die Grundlage der meisten Behandlungsansätze im Suchtbereich darstellt, konnte in vieler Hinsicht empirisch nicht zweifelsfrei bestätigt werden. Und so schlägt dann immer wieder die Stunde der großen Vereinfacher, die mit modischen Schlagwörtern wie Stress, Trauma, Schemata, Anticravingsubstanzen oder Achtsamkeit alle in ihren Bann ziehen und immer neue Therapiemethoden oder Medikamente zur Rückfallprävention ohne ausreichende Evidenz propagieren.

Tatsächlich stehen wir immer noch relativ am Anfang, das Rückfallgeschehen zu verstehen. Die jahrelange, internationale Rückfallforschung hat gerade einmal vier einigermaßen gesicherte Erkenntnisse zur Entstehung von Rückfällen gezeitigt. Diese sollen im Folgenden dargestellt und entsprechende Schlussfolgerungen zur therapeutisch gestützten Rückfallprävention gezogen werden. In einem zweiten Artikel in der nächsten Ausgabe sollen dann darauf aufbauend die Möglichkeiten zu Bewältigung von Rückfällen abgeleitet werden.

1) Der Rückfallzeitpunkt – Aller Anfang ist schwer

Die erste Erkenntnis der Rückfallforschung betrifft den Rückfallzeitpunkt. Oft hört man, dass das Rückfallrisiko mit zunehmender Abstinenzdauer stetig steige, weil der Betroffene allmählich übermütig werde und die schlimmen Erinnerungen an seine Trinkzeit immer mehr verblassen würden. In ähnlicher Weise befürchten manche Therapeuten, dass die Therapieeindrücke im Laufe der Zeit wie bei einem Farbanstrich langsam abblättern könnten. Glücklicherweise ergab die wissenschaftliche Untersuchung von Rückfällen genau das Gegenteil: Je länger eine Person abstinent bleibt, umso geringer ist die Gefahr eines Rückfalls. Innerhalb der ersten drei Monate nach Beendigung einer Therapie besteht das allergrößte Rückfallrisiko. Dann gibt es nochmals relativ viele Rückfälle innerhalb des ersten Jahres. Danach werden Rückfälle immer seltener. (siehe Abb. 1)

Mit der Abstinenz verhält es sich ähnlich, als wenn man sich plötzlich im Ausland von Rechtsverkehr auf Linksverkehr umstellen muss: die ersten Kilometer enthalten das größte Unfallrisiko. Allmählich fährt man immer besser und sicherer. Dann sind es nur Kreuzungen, bei denen man mit der Vorfahrtregelung Schwierigkeiten hat. Spätestens nach 100 bis 200 Kilometern fährt man links genauso gut wie früher rechts. Nur in schwierigen und unerwarteten Verkehrssituationen, etwa wenn einem ein Fahrzeug auf der eigenen Straßenseite entgegenkommt, wird man weiterhin automatisch nach rechts anstatt nach links auszuweichen versuchen. Offenbar lernen die Betroffenen etwas in der Anfangsphase der Abstinenz. Je länger jemand abstinent lebt, umso leichter fällt es ihm und umso besser ist er gegen Rückfälle gefeit.

Für die Behandlung von Suchtkranken kann daraus das Primat der Nahtlosigkeit zwischen Behandlung und Nachsorge abgeleitet werden. D.h. wenn man die Rückfallraten verringern will, kommt es zunächst weniger darauf an, einzelne Behandlungsmodule zu verbessern oder zu erweitern. Primär gilt es, durch entsprechendes Handeln aus der Therapie heraus eine unmittelbare Nachsorge der Patienten ab dem ersten Tag der Entlassung sicherzustellen. Um es ganz konkret zu sagen: Statt in der Therapie über Rückfallrisiken zu .reden“, sollten Behandler und Patienten lieber gemeinsam zum Telefonhörer greifen und eine Nachsorgetermin verbindlich vereinbaren. Diese Überlegung hat uns auch bewogen, eine eigene Nachsorgeambulanz der salus klinik Lindow in Berlin-Charlottenburg einzurichten (Infos unter: www.salus-lindow.de/ambulanz). Entsprechend sollte die Suche nach einer geeigneten Selbsthilfegruppe nicht auf die Zeit nach der Behandlung verschoben werden, sondern bereits während der Behandlung verbindlich erfolgen. Hier zeigt sich der Wert von Informationsveranstaltungen durch Selbsthilfegruppen in Therapieeinrichtungen.

2) Rückfallrisikosituationen – Kleinvieh macht auch Mist

Die zweite wichtige Erkenntnis der Rückfallforschung war die Deutung der Rückfallrisikosituation. Lange Zeit glaubte man, dass es bestimmte Eigenschaften, Einstellungen oder Lebensumstände einer Person sind, die darüber entscheiden, ob jemand im Anschluss an eine Suchtbehandlung abstinent bleibt oder wieder rückfällig wird: Beispielsweise wurde vermutet, dass Frauen, Arbeitslose oder Abhängige mit weiteren psychischen Störungen ein erhöhtes Rückfallrisiko haben. Entsprechende Studien haben aber sehr widersprüchliche Ergebnisse gezeitigt. Sie haben damit wenig zur Erklärung, v. a aber zur Prävention von Rückfällen beitragen können.

Sehr viel einheitlichere Ergebnisse hat weltweit – egal ob bei Frauen, bei Männern, ob bei Alkohol-, bei Drogenabhängigkeit, bei Nikotinabhängigkeit, bei pathologischem Glücksspiel oder bei Menschen, die Diät halten wollen – die Untersuchung erbracht, wann ein und dieselbe Person eher rückfällig oder nicht rückfällig wird. Hierbei zeigte sich, dass es nicht so sehr schwere Schicksalsschläge oder Krisensituationen sind, die zu einem Rückfall führen. In solchen Ausnahmesituationen sind viele Betroffene auf der Hut und entwickeln ungeahnte Stärken, um sich oder anderen zu beweisen, dass sie es auch „ohne“ schaffen. Häufig werden vielmehr ganz alltägliche Situationen, die bereits oft problemlos bewältigt wurden, plötzlich zu Rückfallsituationen. Es muss dem Betroffenen vor einem Rückfall auch nicht unbedingt schlecht gehen. Es kann ein ganz normaler Tag sein, an dem er wieder „anfängt“. Allerdings fallen auch solche Rückfälle nicht einfach vom Himmel. Vielmehr hat man festgestellt, dass allein 60% aller Rückfälle in den folgenden drei Situationen passieren:

  • unangenehme Gefühle, wenn man alleine ist (z. B. Langeweile, Einsamkeit, Angst, Depression),
  • im Anschluss an Konflikte und Konfliktsituationen (z. B. am Arbeitsplatz oder in der Familie)
  • und drittens soziale Verführung (z.B.: Kumpels fordern einem zum Mittrinken auf; ein Arzt empfiehlt ein Beruhigungsmittel). (siehe Abb. 2)

Die übrigen 40 Prozent aller Rückfälle ereignen sich in folgenden Situationen:

  • angenehme Situationen (z. B. Erfolgserlebnisse, Verliebtsein),
  • Geselligkeit (z.B. Kneipenbesuch, Parties, Familienfeier),
  • körperliche Beschwerden (z.B. Schmerzen, Schlafstörungen),
  • Versuch, kontrolliert zu trinken und
  • plötzliches Verlangen (z. B. beim Anblick eines Biergartens).

Für jeden Abhängigen sind allerdings ganz unterschiedliche Risikosituationen bedeutsam. Meist sind es Situationen, die früher eng mit einer angenehmen Alkoholwirkung verknüpft waren.

Für die Behandlung von Suchtkranken lässt sich hieraus ableiten, dass es nicht ausreicht, den Betroffenen mittels psycho- oder sozial therapeutischer Interventionen eine bessere Bewältigung ihres Alltags auch ohne Alkohol zu ermöglichen (Kompensationsparadigma). Vielmehr ist es notwendig, das Risikobewusstsein der Betroffenen für die persönlich relevanten Auslösesituationen zu schärfen und deren abstinente Bewältigung einzuüben (Trainingsparadigma). Denn es ist vollkommen unrealistisch anzunehmen, dass ein abstinent Lebender sein Leben derart umgestalten kann, dass alle Risikosituationen für immer aus seinem Alltag verbannt sind. Die Ermittlung der persönlich relevanten Rückfallrisikosituationen ist allerdings keine triviale Aufgabe, da diese dem Bewusstsein der Betroffenen prinzipiell nur bedingt zugänglich ist. Zusätzlich wird eine objektive Erhebung durch das kausale Erklärungs- und Entlastungsbedürfnis der Betroffenen nach dem Motto „ich habe nur getrunken weil … „, überlagert. Entsprechend haben retrospektive Rückfallanalysen bzw. prospektive Risikoeinschätzungen durch die Betroffenen nur einen sehr begrenzten Aussagewert. Stattdessen sind spezielle Anstrengungen zu unternehmen, die situativen, teilweise banalen Auslöser für ein erhöhtes Rückfallrisiko im Einzelfall zu bestimmen. Hierbei haben sich insbesondere die Aufstellung eines persönlichen Risikoprofils mithilfe von Rückfallfragebögen oder die Führung eines sog. Risikotagebuchs bewährt. Um das Rückfallrisikobewusstsein von Suchtpatienten zu schärfen, sollte grundsätzlich jede Therapiestunde mit der Frage beginnen, ob es seit dem letzten Mal einen Rückfall, einen Beinahe-Rückfall oder eine abstinent bewältigte Risikosituation gegeben hat. Erst danach sollte mit dem eigentlichen Thema der Stunde begonnen werden.

3) Neurobiologie – Das Suchtgedächtnis sitzt nicht im Großhirn

Viele Rückfällige haben in der Erinnerung den Eindruck, dass sie „einfach wieder“ getrunken haben. Während dies früher in Therapien gemeinhin als Ausrede des Betroffenen abgetan wurde, haben mittlerweile Fortschritte der Neurobiologie den Blick auf die suchtbedingten Einschränkungen der Willensfreiheit von Alkoholabhängigen im Moment eines Rückfalls gelenkt. Postuliert wird die überdauernde Existenz eines so genannten Suchtgedächtnisses, das in rückfallkritischen Momenten mit einer situativen Einschränkung der rationalen Selbstkontrolle durch automatisierte, suchtmittelbezogene Informations- und Appetenz-Prozesse einhergeht. Da diese Rückfallprozesse den Betroffenen häufig nicht bewusst sind, können sie durch herkömmliche Psychotherapieverfahren kaum verändert werden. Gleichzeitig konnte bei den Betroffenen eine verringerte Verarbeitung von Gefahrensignalen festgestellt werden. Die Folge ist, dass nunmehr den subkortikal verstärkten Anreizprozessen auf alkoholspezifische Stimuli eine beeinträchtigte kortikale Kontrolle gegenübersteht. Bildlich gesprochen haben sich bei Alkoholabhängigen die Machtverhältnisse zwischen Großhirn und Zwischenhirn dauerhaft verschoben, was die Gefahr eines Rückfalls ebenso wie die Schwierigkeit, einen Rückfall wieder zu stoppen, erhöht. Von besonderer Bedeutung ist, dass all dies unabhängig davon geschieht, ob die Betroffenen abstinenzmotiviert sind oder subjektiv Verlangen nach Alkohol empfinden. Daraus erklärt sich auch die begrenzte Wirksamkeit der üblichen, vorrangig auf Einsicht und rationale Selbstkontrolle setzenden Rückfallpräventionsmaßnahmen.

Stattdessen sind Suchttherapeuten aufgerufen, spezifische neuropsychologisch fundierte Trainingsprogramme zur Rückfallprävention zu entwickeln. Angesichts des hohen Automatisierungsgrades der postulierten Rückfallprozesse können Rückfallpräventionsmaßnahmen nur dann erfolgreich sein, wenn die hierbei vermittelten Alternativreaktionen von den Betroffenen so oft und redundant eingeübt werden, dass sie einen entsprechend hohen Automatisierungsgrad erreichen. Vor diesem Hintergrund erforschen wir gerade in Lindow ein computergestütztes Rückfalltraining, bei dem Patienten gefordert werden, mithilfe eines Joysticks Bilder von alkoholischen Getränken möglichst schnell wegzuschieben nichtalkoholische Getränke möglichst schnell herzuziehen. So primitiv ein solches Training auch anmuten mag, in einer randomisierten Kontrollstudie konnten wir an über 200 Patienten nachweisen, dass sechs 15-Minuten-Trainings ausreichten, die Rückfallrate um über 9% zu senken. Es ist aber sicherlich noch viel weitere Forschung nötig, bevor wir ein solches Vorgehen allgemein empfehlen können.

4) Verlangen (Craving)-Mal gut, mal schlecht

Eine heftige Kontroverse gibt es über die Bedeutung von Suchtmittelverlangen (sog. Craving) im Zusammenhang mit Rückfällen. Während manche Betroffene von quälendem Verlangen, verbunden mit eindrucksvollen körperlichen Reaktionen berichten, die auch nach langer Abstinenz auftraten und zum Rückfall führten, gab in wissenschaftlichen Untersuchungen mit standardisierten Messinstrumenten nur etwa die Hälfte der Betroffenen an, jemals Verlangen erlebt zu haben. Sie ergaben außerdem, dass Verlangen manchmal zwar ein Rückfallrisiko darstellen kann, aber in vielen Fällen auch nützlich zur Vermeidung von Rückfällen ist, da dadurch den Betroffenen die Rückfallgefahr bewusst wird und sie jetzt automatische Rückfallprozesse unterbrechen können. Ziel der Interventionen zur Rückfallprävention kann keineswegs standardmäßig eine möglichst weitgehende Verringerung von Suchtmittelverlangen sein. Vielmehr kommt es darauf an, dass Betroffene lernen, auch starkem Verlangen erfolgreich zu widerstehen. Hierbei kann es z. B. hilfreich sein, Suchtmittelverlangen mit dem Bild einer mauzenden Katze zu vergleichen: Diese hört irgendwann von selbst auf zu mauzen, wenn sie trotz anhaltender, erbarmungswürdiger Bettelei konsequent nicht gefüttert wird. Entsprechend lässt erfahrungsgemäß das Verlangen nach Suchtmitteln mit der Zeit nach, wenn man ihm in einer Risikosituation nicht nachgibt. Jede erfolgreich bewältigte Risikosituation stärkt die Abstinenzzuversicht bzw. das Selbstvertrauen des Betroffenen und erhöht dadurch wiederum die Chancen für weitere Abstinenz.

Damit dies nicht alles graue Theorie bleibt, muss die abstinente Bewältigung von Risikosituationen auch praktisch geübt werden. Jeder Feuerwehrmann, jeder Katastrophenschützer und jeder Pilot weiß, wie oft man möglichst realistische Übungen durchführen muss, damit man für den Ernstfall wirklich gewappnet ist. Entsprechend hat es sich als sehr nützlich erwiesen, sich noch während der Therapie im Rahmen sog. „Expositionsübungen“ bewusst mit relevanten Auslösesituationen für einen Rückfall zu konfrontieren, um deren abstinente Bewältigung auch bei aufkommendem Verlangen in der Realität zu üben.