TrokkenPresse 5/22: Arbeiten u n d trinken wie die Männer?

Interview mit Autorin Eva Biringer über den steigenden Alkoholkonsum von Frauen

Arbeiten u n d trinken wie die Männer?

Ur-Omi nippte damals am Eierlikör, und das vielleicht einmal im Monat mit einer Bekannten. Derweil kippte Ur-Opa in der Kneipe gegenüber Bier und Schnaps – und das nicht nur einmal im Monat. Doch seit 25 Jahren, besagt eine weltweite Studie, hat sich das Trinkverhalten angeglichen. Männer trinken etwas weniger, Frauen inzwischen viel mehr Alkohol. In Deutschland ist inzwischen fast die Hälfte aller Alkoholkranken eine Frau, besagen aktuelle Statistiken. „Je emanzipierter ein Land ist, desto eher trinken die dort lebenden Frauen“, stellt Eva Biringer in ihrem Buch „Unabhängig“ fest, das wir in der vergangenen Ausgabe vorstellten. Die heute trockene Autorin gehört mit ihren 32 Jahren und ihrer Karriere als Food-Journalistin selbst der Generation Frauen an, die es normal findet, zu arbeiten u n d zu trinken wie die Männer.

Was hat das mit Emanzipation zu tun, wenn Frauen heute viel mehr trinken?

Eva Biringer: Einerseits hat Alkohol die Wirkung, die er hat: Er nimmt scheinbar die Sorgen, man fühlt sich leicht beschwingt und das ist natürlich ideal, wenn man den ganzen Tag nicht weiß, wo einem der Kopf steht als Frau, vielleicht auch noch als Mutter, aber auch als Frau, die einen Job hat, der sie fordert. Dann ist da das Glas Wein am Abend der erste Moment, in dem man sich mal was Gutes tut – mal durchatmen, mal Zeit für sich. Andererseits wird Alkohol für Frauen heute auch als Emanzipation verkauft. Sie können heute alles machen, denselben Job wie Männer, können sich selbst verwirklichen, ihr eigenes Lebensmodell wählen: Warum sollen sie dann nicht auch trinken wie die Männer? Dieses „Sex in the City“-Beispiel, das sind Frauen mit tollen Jobs, die sich ihre 15-Dollar-Martinis gönnen und in der Öffentlichkeit trinken. Natürlich nicht zu viel, das ist das Perfide daran, dass das weibliche Trinken sehr wohl reglementiert wird, nämlich dass eine besoffene Frau total abstoßend ist, noch viel abstoßender als ein Mann. Das heißt, man bewegt sich auf einem sehr schmalen Grat zwischen nicht trinken, was komisch ist, denn dann hat man ja ein Problem, und viel trinken, was auch nicht geht – aber eine Frau, die nicht sichtbar betrunken, aber maßvoll in der Öffentlichkeit trinkt, die hat schon was Glamouröses, wenn es nicht der Wodka direkt aus der Flasche ist. Ein Cocktail, ein besserer Wein oder Prosecco, das ist so: Okay, die gönnt sich was.

Trinken Frauen anders und aus anderen Gründen als Männer?

Ich habe eher getrunken, um was zu erleben, zu fühlen, weil ich gerne starke Empfindungen mag, aber ich bin damit eher ein Gegenbeispiel: Viele Frauen trinken, um Gefühle nicht fühlen zu müssen, um sich zu betäuben. Sie trinken auch gegen Ängste und Depressionen an, anders als Männer, die oft nach außen gehen, auch im wortwörtlichen Sinn, nämlich eher in der Öffentlichkeit trinken als Frauen, die, wenn sie problematisch trinken, eher Zuhause trinken … weil es etwas Schambehaftetes hat, das weibliche Trinken – und weil sie da auch einfach sicherer sind, denn eine betrunkene Frau kann eher Opfer einer Gewalttat werden als eine, die nicht betrunken ist. Mit dem Trinken neigen Männer dann eher zu aggressivem, gewaltbereitem Verhalten, bei Frauen dagegen verstärken sich Angstzustände und Depressionen meist.

Werden Frauen schneller abhängig?

Ja, der weibliche Körper kann Alkohol schlechter abbauen, verstoffwechseln. Frauen werden aber nicht nur schneller abhängig, auch die körperlichen und die psychischen Schäden wie Depressionen und Angstzustände durch Alkohol sind sehr viel ausgeprägter als bei Männern, bis hin zu einem mehr als doppelt so hohen Sterblichkeitsrisiko. Deswegen gibt es auch die Empfehlungen, dass Frauen viel weniger trinken sollten als Männer, maximal die Hälfte.

Müsste es dann für Frauen nicht eine spezielle Frauentherapie geben?

Ja, ich bin sehr dafür, dass es eine geschlechterspezifische Suchttherapie gibt, oder mehr, als es gerade der Fall ist: Weil Frauen viel mehr aufgebaut werden müssen. Deswegen lehne ich auch das AA-Konzept ab, bei dem man sich erst mal klein machen muss und sich entschuldigen bei allen, denen man Unrecht angetan hat. Denn das machen Frauen doch sowieso die ganze Zeit. Ich glaube, Frauen müssen bestärkt werden. Das funktioniert, denke ich, am besten in einer Frauengruppe, nicht in einer gemischten Gruppe, ich habe es selbst erlebt. In einer gemischten Gruppe reißen die Männer dann doch wieder das Wort an sich – aber in einer Frauengruppe fühlt man sich doch eher wie in einem geschützten Raum und kann besser auf die geschlechtsspezifischen Probleme eingehen.

Mir ging es selbst so, in der Therapie gab es gemischte Gruppen und ich konnte mich da nur schwer öffnen …

Ja, diese Erfahrung haben viele Frauen gemacht. Ich sage jetzt nicht, dass es keine erfolgreichen gemischten Therapien gibt, aber ich hatte den direkten Vergleich, meine Aufnahmegruppe in der ambulanten Therapie war gemischt, später war es eine Frauengruppe. Das war eine ganz andere Stimmung. Ich glaube, Frauen trauen sich dann mehr, offenbaren sich eher vor anderen Frauen und man kann auch von Seiten der Therapeuten anders herangehen, also eine speziell auf Frauen zugeschnittene Therapie anbieten.

Auch die Werbung trägt ja dazu bei, dass Frauen mehr trinken, sie spricht sie zielgerichtet an, Frauen als Absatzmarkt. Woran kann frau das erkennen?

Durch die Art der Getränke, denn wie alles in der Welt ist ja auch das Trinken gegendert. Also wird der Mann eher durch die Werbung mit einem Whisky oder Cognac angesprochen und die Frau eher mit einem Rosé, mit Sekt, mit Getränken, die weniger Alkohol enthalten, süßlich schmecken und auch niedlich daherkommen, so wie sie aufgemacht werden. Dann ist es natürlich die Mädels-Prosecco-Runde, die dargestellt wird in der Werbung, bei den Männern eher der Biergartenbesuch. Das Perfide ist aber auch die versteckte Werbung. So viele Serien, Filme, Bücher sind bildprägend. Oder Instagram, die sozialen Medien, es ist ja überall das Bild der elegant trinkenden Frau, die sich auf jeden Fall unter Kontrolle hat und nicht betrunken vom Barhocker kippt, aber die trinkt. Und die das als selbstverständlichen Teil ihrer Weiblichkeit betrachtet. Das finde ich fast noch gefährlicher, weil man es gar nicht als Werbung erkennt und es sich sofort abspeichert: ah ok, ne Frau, die im Leben steht, etwas aus sich macht, die trinkt – na dann trink ich doch auch.

Warum hast Du eigentlich Dein Buch geschrieben?

Weil ich in der Zeit, bevor ich aufgehört habe, super viel gelesen hatte, alles, was ich gefunden habe zum Thema Alkoholismus. Jedes dieser Bücher hat mir etwas gegeben, manches mehr, manches weniger, aber die Geschichten von anderen fand ich sehr, sehr hilfreich auf meinem eigenen Weg, gerade die Geschichten von Frauen. Mir war immer klar, wenn ich es mal schaffe, aufzuhören, dann wird es für mich so krass sein, so lebensumwandelnd, dass ich das irgendwann aufschreiben muss. Auch für andere.

Du bezeichnest Dich heute nicht mehr als Alkoholikerin, warum?

Nicht „nicht mehr“, ich habe mich auch früher nicht als Trinkerin bezeichnet, weil ich den Begriff nicht mag. Ich weiß, es ist ein heikles Thema, aber ich habe das für mich so entschieden. Ich habe auch mal geraucht, dann aufgehört und bin seitdem keine Raucherin mehr. Ich hatte ein Problem mit Alkohol, auch eine Abhängigkeit, aber Alkoholikerin … das definiert dich ein Leben lang als Person, und so sehe ich mich nicht. Dieses klassische „Ich bin Eva, ich bin Alkoholikerin“, das passt für mich einfach nicht. Weil es sofort ein Bild aufruft, das wieder Teil des Problems ist, weil viele dann sagen, „Na, ich bin aber nicht die Frau, die morgens schon ihren Wodka reinkippt, die ist Alkoholikerin, ja. Ich trinke ja einfach nur ein bisschen zu viel.“ Da muss man aufpassen, dass es nicht andersrum funktioniert, als Rechtfertigung zum Trinken. Ich mag den Begriff nicht und jetzt erst recht nicht mehr. Ich trinke keinen Alkohol mehr, da bin ich doch erst recht keine Alkoholikerin mehr.

 

TrokkenPresse 4/22: Mit Butterbrot und Bibel

Als Suchthelfer in der Ukraine:

Mit Butterbrot und Bibel

„Ihr“ Mariupol ist heute ein anderes … eine hungernde und dürstende Stadt in Trümmern. 18 Jahre lang war dieser Ort für die Suchthelfer Heinz und Martina Nitzsche aus Mecklenburg eine zweite Heimat. In der sie hunderten alkohol- und drogensüchtigen Menschen, ihren Kindern, vielen Obdachlosen und Kranken halfen, ein neues, besseres Leben beginnen zu können. Sie bauten eine Gemeinde auf, eine Gottesdiensthalle, Blaues-Kreuz-Gruppen, ein Kinderheim, ein Hospiz, unterstützten eine Obdachlosenzuflucht und kleine Reha-Zentren.

Kartoffelkäfer also. Martina steht in ihrem weiten Garten, von Ferne summt die Autobahn nach Rostock herüber. Sie beugt sich über eine Kartoffelpflanze. Aha! Ein Gelbbraungestreifter wird sachte ins Schraubglas gelegt. Aus dem Nachbarbeet blinzelt es rot, ein paar Erdbeerchen könnten gepflückt werden. Und Unkrauthacken wäre auch mal dran. Aber immer kommt was anderes dazwischen, das ihr viel wichtiger ist: „Menschen gehen immer vor!“ Ebenso ergeht es Heinz, der gerade über die vorlauten Gänse lächelt, die Hände voll mit frischen, braunen Hühnereiern.

Ein beschauliches Rentnerdasein könnten sie führen, hier in ihrem Linstow, während in ihrer einstigen Wahlheimat Menschen sterben. Aber das kommt ihnen nicht mal in den Sinn. Erst heute Morgen waren beide schon unterwegs ins Nachbardorf zu einer ukrainischer Flüchtlingsfamilie, der Herd war kaputt, ein Elektriker schnell organisiert. Und jetzt, auf dem Weg über die stille Dorfstraße in ihre kleine Wohnung im Haus der Tochter, tönt ein helles „Hallo, Martina“ aus einem anderen Haus, an dem gerade gebaut wird. Ein kleiner ukrainischer Blondschopf winkt fröhlich aus dem Fenster. Flucht-Ende bei einem von Nitzsches erwachsenen Kindern.

Martina und Heinz haben seit Kriegsbeginn immer wieder organisiert, dass diese Menschen hier in der Gegend eine erste Unterkunft finden. Vor allem Freunde, Bekannte und Mitarbeiter aus Mariupol mit ihren Familien. Darunter viele ihrer früheren Schützlinge, einst alkohol- oder drogensüchtig, heute frei Gewordene, wie beide es nennen. Nun freuen sie sich, dass die Gemeinde Kuchelmiß zehn Wohnungen in einem älteren Mietshaus zur Verfügung gestellt hat …

Während Martina daheim dann die Kartoffeln aufsetzt, eigene Ernte vom letzten Jahr, und den frischen Heringssalat umrührt, den Heinz so gerne mag, blubbert die Kaffeemaschine friedlich. Alles ist so friedlich hier. So sorgenfrei. Und Martina denkt an Mariupol in Trümmern. „Aber auch, wenn die Häuser, die wir mitaufgebaut haben, nun kaputt sind oder nicht mehr nutzbar – sie waren doch nur ein Instrument, damit wir arbeiten konnten. Das Eigentliche sind die Menschen. Die meisten sind heute noch trocken, trotz des Krieges! Dafür braucht man ein Fundament. Bei uns ist das der Glaube, und dieses Fundament durften wir ihnen damals weitergeben. Also hat es sich gelohnt, das Leben dort.“

Als Blaukreuz-Suchthelfer in die Ukraine

 Wieso wollten Sie 2001 dorthin, um zu helfen?

Martina: Die Geschichte geht viel früher los. Heinz hatte schon immer ein großes Herz für die Randgruppen der Gesellschaft. Und zu denen gehörten in der DDR eben auch die russischen Soldaten.

Heinz: Bei uns nahe Riesa sind sie immer die Straßen lang gekommen in ihren Panzern, wir haben uns draufgesetzt als Kinder, die Mützen aufprobiert und Abzeichen ausgetauscht.

Martina: Und als wir dann verheiratet waren, haben wir immer was verteilt an diese Leute, russische Bibel-Schriften, Schokolade, später sogar eine große Weihnachtsfeier organisiert. Nach der Wende sind wir sofort nach Russland gefahren, um unsere Freunde zu besuchen. Zweimal hatten wir da ein Erlebnis: Betrunkene lagen am Straßenrand, ein LKW fuhr vor, zwei Männer öffneten die hintere Ladetür, griffen die Menschen an Armen und Beinen und schmissen sie ins Auto. Was passiert jetzt mit ihnen?, fragte ich. Die kommen erst mal einen Tag in die Ausnüchterungszelle. Das nächste Mal für zwei Tage, dann für fünf und dann ins Arbeitslager … Ich sagte, aber das geht doch nicht! Die Menschen werden doch schlimmer davon. Die brauchen Liebe und dass jemand ihnen Wege aufzeigt, wie man rauskommt aus der Sucht!

 Und da mussten Sie etwas tun?

Martina: Ja. Wir haben immer in christlichen Gemeinden übernachtet auf unseren Wegen, auch durch die Ukraine. Und dort unser Anliegen geschildert, Alkoholikern zu helfen. Da war gar kein Verständnis da. Das seien Menschen dritter Klasse, Schweine. Und so haben wir erst mal angefangen, ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass das Menschen sind, die das gar nicht wollen, wie sie sind. Und Erbarmen brauchen von uns. So entwickelte sich das, bis hin zu Gruppenstunden. Aber immer, wenn wir in unserem Urlaub wieder dort waren, war es wieder eingeschlafen. Heinz meinte, es müsse jemand immer vor Ort sein. Aber als Mutter von fünf Kindern wollte ich nicht weg, solange sie mich brauchen. Als dann später aber unser jüngster Sohn tödlich verunglückte, der uns noch am meisten gebraucht hatte, wusste ich: Ich bin jetzt freigestellt. So sind wir 2001 aufgebrochen. Ohne zu wissen, was auf uns zukommt.

Und ohne Geld …

Heinz: Unser Antrag bei der EU auf Finanzhilfe für das Projekt wurde abgelehnt. Wir verließen uns nun auf Gott.

Martina: Und dann hat der riesige Freundeskreis uns hindurchgetragen. Ein Geschenk von Gott, dass er die Menschen dazu bewegt hat. Wir hatten viele und lange Durststrecken, aber wir haben immer wieder das Wunder erlebt, nicht hungern zu müssen und immer das zu haben, was wir zum Leben brauchten. Und dass wir bauen konnten, herrichten. Wir haben wirklich den lebendigen Gott erlebt: Dass er da ist und die Seinen nicht im Stich lässt.

Wo habt ihr gelebt?

Martina: Freunde hatten uns ein uraltes kleines Häusel gekauft. Und schon die verrotteten Fenster und Türen rausgerissen, um uns was Gutes zu tun. Aber wir hatten ja kein Geld. Der Müll war noch nicht abgefahren, also haben wir alles wieder eingebaut. Die Leute dort haben uns beobachtet und gesehen, dass wir nichts Besseres sind und genauso im Dreck sitzen müssen wie andere, die immer arbeiten und arbeiten und es reicht hinten und vorne nicht. Inzwischen hatten wir auch schon Straßenkinder angesprochen, bei denen Vater und Mutter tranken. Sie kamen dann regelmäßig zu uns zum Essen, weil es zuhause nichts gab.

Heinz: Bei einem der Kinder, einem sechsjährigen Mädchen, stellte sich bei einer ärztlichen Untersuchung Syphilis heraus – die Mutter hatte das Kind verkauft für Alkohol und Drogen …

Wie war damals die Suchtsituation dort?

Heinz: Schlimmer als in Deutschland, es gab mehr Alkoholiker …

Martina: Unsere Alkoholkranken wurden ja sozial aufgefangen seit der Wende. Und so war das dort nicht.

 Gab es Therapien?

Heinz: Nicht so wie hier. In Mariupol gab es eine Psychiatrie, wo Abhängige entgiftet wurden. Der Doktor sagte: Ich entgifte sie, dann kommen sie wieder. Da ist keine Perspektive da. Als einige seiner Drehtürpatienten später aber nicht mehr kamen, weil sie inzwischen unsere Gruppenstunden und Gottesdienste besuchten, wusste er, dass wir ihnen mit dem Glauben ein Fundament anbieten. Diese Chance sollen alle bekommen, sagte er – und so begann unsere Arbeit in der Klinik.

Aber was genau haben Sie nun gemacht?

Martina: Einfach das Leben geteilt. Zum Beispiel zu jedem Besuch in der Klinik einen großen Berg Butterbrote mitgebracht …

Butterbrote?

Martina: Ja, anders als bei uns mussten Kranke von ihren Verwandten mit Essen versorgt werden – aber diese wollten von den Trinkern ja nichts mehr wissen. Also hatten sie immer Hunger. Wir haben ihnen Bibeln gebracht, mit ihnen gesungen, Andachten gehalten oder einfach nur mit ihnen geredet. Sie sind dann in unsere Gottesdienste, zu Blaukreuzstunden gekommen, wieder gegangen, manche sind geblieben oder irgendwann wiedergekommen. Eine Sache über Jahre. Die, die „frei“ geworden sind, haben sich dann auch mit eingebracht und wieder etwas aufgebaut. Oder sind in eine Art Rehazentrum, kleine Häuser mit vier bis fünf Zimmern, pro Zimmer fünf Menschen. Da wird zusammen gelebt, gebetet, mit Garten und Vieh das Leben gemeinsam bestritten. Und wir waren zu Hausbesuchen unterwegs, wenn wir Hinweise bekommen haben, wer Hilfe braucht, haben eine Kleiderkammer aufgemacht, jeden Montag im Obdachlosenasyl Suppe ausgeteilt, später auch ein Hospiz gegründet …

Woher kam das Geld dafür?

Martina: Aus vielen Gemeinden und Kirchen, von vielen, vielen Freunden und Bekannten, die haben das alles mitgetragen, auch die Lebensmittel-, Kleider- und Möbelspenden, die Baumaterialien. Unmengen an humanitärer Hilfe in LKWs kamen an. Da sind wir sehr, sehr dankbar!

In welcher Sprache haben Sie sich ausgetauscht?

Martina: Ich habe jeden Tag mit Zetteln an der Wand acht neue Worte Russisch gelernt, mein Wortschatz wurde groß, nur reden konnte ich damit nicht. Die Dolmetscherin meines Mannes, er brauchte sie für die Behördengänge, sagte: Du musst einfach reden! Und je mehr ich mit den Menschen sprach, verstanden sie mich besser. Den Heinz haben seine Männer auch so verstanden, in seiner Gestik, Mimik, der Art des Umgangs – sie wussten genau, er wollte ihnen nur Gutes. Wir haben einfach Liebe ausgeteilt. Der Mantel der Liebe passt jedem – da brauchts nicht viele Worte.

Und wie ging Ihre Arbeit mit den Alkoholikerkindern, die zum Essen kamen, weiter?

Heinz: Im ärmsten Gebiet von Mariupol haben wir den Bau eines Kinderhauses organisiert …

Martina: … und was da passiert ist an den Kindern, kann man sich nicht vorstellen. Regelmäßiges Duschen, Hausaufgabenhilfe, Wäsche waschen, Spiele, zwei Mahlzeiten am Tag, sie waren ja immer hungrig, weil sich die suchtkranken Eltern nicht um sie kümmern konnten. Unsere Bedingung war, wenn sie in die Schule gehen, dürfen sie nachmittags in die Betreuung kommen, also sind sie in die Schule gegangen … wurden gute Schüler, fingen an, ihr Leben anders zu leben als die Eltern. Die Kinder haben dann ihre Eltern zu uns eingeladen, so sind wir an die Eltern gekommen – und so haben auch viele von ihnen dann ein neues Leben beginnen können. Als unser Sohn verunglückte, das war eine sehr harte Zeit, aber Gott hatte seinen Plan. Denn wie viele Kinder hätten keinen guten Weg gehabt, wie viele Mütter und Väter, wenn der Herrgottt Andreas nicht genommen hätte. Ich wäre sonst ja nicht dorthin gegangen. Und jetzt sind das alles meine Kinder …

Zum Beispiel Tanja

Eines Winters bat ein Mädchen aus dem Kinderheim darum, ihre Mutter suchen zu helfen, sie könnte sonst draußen erfrieren, alkohol- und drogensüchtig. Heinz und Martina machen sich mit Helfern auf den Weg durch die Stadt. Gefunden wurde sie in einem Krankenhaus, auf 33 kg ausgemergelt, an Aids erkrankt im letzten Stadium, der Arzt gab ihr nur noch wenige Monate … Sie wollte Nitzsches unbedingt sprechen, von denen sie zuvor gelesen hatte. „Ich muss mich bekehren“. Sie legte ihre Lebensbeichte ab, entschlossen, ab jetzt Gott zu leben. Später, aus dem Krankenhaus entlassen, wollte niemand die Obdachlose aufnehmen, aus Angst vor Ansteckung. Also nahmen Nitzsches sie in ihre eigene Enge mit auf, die Stube bekam eben ein Bett. Denn jemanden, der ein neues Leben angefangen hat, wollten sie nicht auf die Straße zurückschicken. Und heute? Sie lebt! Und zwar glücklich und fröhlich in Deutschland. Trocken und clean. „Und so hatten wir viele, viele Menschenschicksale, die wir mitbegleiten durften … ja, einfach durchs Leben teilen“, erinnert sich Martina.

Der Krieg

Das Dach des Hospizes ist heute zerbombt. Das Obdachlosenheim auch. Einiges steht noch, darunter die Gottesdiensthalle. Aber niemand ist mehr da, der sie nutzen könnte. Die meisten Mitarbeiter und Freunde sind geflohen. Viele in die Westukraine oder nach Deutschland – einige auch über große Umwege wie Schützling Dima, erzählt Martina. Er wurde in Mariupol in einem russischen Zug nach Kasachstan in ein Lager geschafft, entkam aber über Georgien bis nach Fulda. In die Sicherheit. Wenn er noch in seinem alten Leben gesteckt hätte, hätte er das nie geschafft, meint Heinz. Dima habe ein Fundament. Den Glauben. Wie viele der Geflüchteten, die bis hierher nach Linstow oder Kuchelmiß in die offenen Arme der Nitzsches fanden.

Während Martina die Mittagsteller spült und Heinz es sich mit seinen 78 im Sessel etwas bequemer macht, sind sie wie oft in Gedanken bei denen, die nicht hier sein können. Bekommt der eine überhaupt noch sein Insulin? Haben alle zu essen und zu trinken? Ein befreundetes Ehepaar meldet sich schon lange nicht mehr, niemand weiß etwas … Nitzsches telefonieren viel. Es soll kaum Trinkwasser geben, wenige und dann sehr teure Lebensmittel und nur mit einem russischen Pass zu erhalten, dafür täglich russische Propagandafilme per Bildschirmen auf Autos. Versuchte Gehirnwäsche. Und bei der 9. Mai-Kundgebung zwar jubelnde Mariupoler im russischen TV, aber mit Kalaschnikows im Rücken.

Heinz und Martina sind jedenfalls der Meinung, ihre Ukrainer werden sich niemals ergeben. Sie wollen nicht in die Knechtschaft zurück, nachdem sie das Leben in Freiheit kennengelernt haben, weiß Martina. Selbst die Russischstämmigen seien jetzt ukrainisch denkend. Ein Freund habe am Telefon gesagt: „Ich gehe keinen Schritt zurück. Wir verteidigen die Ukraine bis aufs Letzte.“

Auch und erst recht in großen Krisen wie dieser hilft ihnen und ihren Schützlingen der Glaube. „Ich darf immer wissen, er hält mich. Ich fühle mich getragen wie ein Kind,“ lächelt Martina.

Ob Kartoffelkäfer also oder Krieg. Ob Tod des Sohnes oder Errettung von Süchtigen – mit allem verfolge Gott einen Zweck, einen bestimmten Plan. Manchmal verstehe man ihn erst später und zweistimmig sind sich Nitzsches sicher: „Gott macht keine Fehler.“

Anja Wilhelm

Übrigens waren Martina und Heinz Nitzsche auch in Mecklenburg als Suchthelfer tätig: Sie haben vor über 50 Jahren die Suchthilfeeinrichtung der Diakonie in Serrahn aufgebaut (heute eine Reha-Klinik). Auf einem alten Pfarrhof, mit einer besonderen Therapiemethode. Dazu in der nächsten Ausgabe der TrokkenPresse mehr …

TrokkenPresse 3/22: Klaus – Alles ist möglich, wenn …

Serie: Trocken bleiben – aber wie?

Alles ist möglich, wenn man an sich glaubt

Seit unserer ersten Ausgabe 2019 stellen wir Menschen vor, die seit einiger Zeit trocken leben. Wir wollen wissen, wie sie das erreicht haben, jeden Tag aufs Neue, bis daraus Monate und Jahre wurden. Ihre Erfahrungen können vielleicht dem einen oder anderen Betroffenen auch hilfreich sein. Heute erzählt uns unser Leser Klaus-Dieter Wehmeier, wie er trocken wurde und blieb …

Als ich am 17.07.1986 zur Entgiftung ging, war nicht klar, welch spannender, aufregender und steiniger Weg vor mir lag.

Alkohol, Medikamente und Drogen hatten mein bisheriges Leben bestimmt. Hiermit sollte es zu Ende sein. Ich wollte mein Leben wieder in die eigene Hand nehmen. Aber wie, das war die Frage.
Ich liebte es, Pläne zu machen und traf mit einem Stapel Papieren, meinem Konzept, bei der Entgiftung ein.
Als ich am nächsten Tag erwachte, hatte der Entzug eingesetzt und mein Konzept war dahin. Die Realität meines Handelns, meines Missbrauchs hatte mich eingeholt.

Nach Beendigung der 3-wöchigen Entgiftung ging es dann zur Therapie nach Bad Tönisstein und mein Weg in ein nüchternes Leben begann.
In Bad Tönisstein beschäftigten mich viele Fragen, von denen ich einige aufzählen werde: Da ich ein bequemer Mensch war, beschäftigte mich die Frage, wie ich im weiteren Leben an mir arbeiten solle. Dieses erschien mir zu anstrengend. Meine Therapeutin antwortete mir, ich solle mir mein Leben als Glaskugel vorstellen. Diese Glaskugel müsse ich am Laufen halten. Dieses gelänge mir nicht, indem ich auf sie einschlüge. Meine Aufgabe bestünde lediglich darin, die Glaskugel am Laufen zu halten. Also keine Schwerstarbeit. Ich war erleichtert.
Zu Beginn der Therapie drückte mir meine Therapeutin Conny ein Buch in die Hand. Der Titel „Die Realitätstherapie“ von William Glasser. Glasser schreibt über die Grundbedürfnisse des Menschen und welche Dinge für ein zufriedenes Leben notwendig sind.
Meine Vorstellung von Grundbedürfnissen war eine völlig andere. Mir waren Dinge wichtig, welche Glasser als Luxus bezeichnete und ich war gezwungen, über mein bisheriges Weltbild, über Zufriedenheit und Notwendigkeiten, nachzudenken.
Der Sozialarbeiter bremste mich aus: Ich war schon während der Therapie mit der Zeit nach der Therapie beschäftigt. Wollte mich lieber mit Dingen beschäftigen, auf die ich noch keinen Einfluss hatte, um mich nicht mit meiner momentanen Situation auseinandersetzen zu müssen …
Immer wieder wurde ich mit meiner Realität konfrontiert, wurde mir aufgezeigt, wo meine Probleme lagen und ich begann, mich dieser Realität zu stellen.

Die tatsächliche Arbeit an mir begann allerdings erst, als ich nach 12 Wochen Bad Tönisstein verließ und wieder in meine gewohnte, noch immer konsumierende Umgebung zurückkam.

LichtBlick

In Tönisstein hatte ich erfahren, wie wichtig der Besuch einer Selbsthilfegruppe ist. Also machte ich mich auf die Suche nach einer für mich passenden Gruppe: In Bad Tönisstein wurde die Therapie nach den Regeln der AA (Anonyme Alkoholiker) durchgeführt, also versuchte ich es mit einer AA-Gruppe. Ich konnte aber mit den Erzählungen der „Gruppenfürsten“ nichts anfangen, die stetigen Wiederholungen ihrer Geschichten nervten mich.
Dann besuchte ich über Jahre eine Gruppe des deutschen Guttempler-Ordens. Gründete mit anderen Besuchern den LichtBlick, welcher sich Jahr 1995 aus dem Guttemplern-Orden verabschiedete und sich als e.V. selbstständig machte.
In den Jahren der Gruppenbesuche lernte ich mich, im Spiegel der anderen Gruppenbesucher, immer besser kennen. Ich erkannte meine Fehler und Schwächen, aber auch meine Stärken. Ich begann mich selbst zu achten und lernte mich als Gesamtpersönlichkeit zu akzeptieren. C. G. Jung schrieb sinngemäß: Erst wenn ich meine dunkle Seite akzeptiert habe, bin ich als Person ganz.

Ich lernte also meine Fehler und Schwächen kennen und akzeptierte diese.
Ich lernte meine Krankheit „Alkoholismus“ als Teil meiner Persönlichkeit zu akzeptieren. Ich söhnte mich mit dieser vermeintlichen Schwäche aus.

Heute beginne ich jede Gruppenstunde mit den Worten: Mein Name ist Klaus. Ich bin alkohol-, medikamenten- und drogenabhängig und damit einverstanden.
Ja, ich bin mit meiner Krankheit einverstanden. Mir fehlen weder der Alkohol noch irgendwelche anderen Drogen. Ich fühle mich befreit und habe das Gefühl, endlich im Rahmen meiner Möglichkeiten entscheiden zu können.
Hierbei hilft mir, dass ich kurz nach Beendigung der Therapie meine Ehefrau Ellen kennenlernte. Ellen brachte einen Sohn mit in die Beziehung und zwei Jahren später bekamen wir unsere Tochter Naima.
Innerhalb unserer Beziehung, unserer Ehe, lernte ich, Verantwortung zu übernehmen. Dieses war mir zu Zeiten meines Konsums nicht möglich und schreckte mich ab. Im Rückblick sehe ich, dass ich an dieser Verantwortung gewachsen bin.
Ich habe gelernt, mich und mein Lustprinzip nicht mehr so wichtig zu nehmen. Dieses hilft mir, entspannter mit mir und meinen Mitmenschen umzugehen.
Hohe, nicht erreichbare Maßstäbe sind in den Hintergrund getreten. Ich gehe liebevoller mit mir und meinen Mitmenschen um.

Meine Selbsthilfegruppe LichtBlick e.V. besuche ich auch nach 35 Jahren der Abstinenz immer noch wöchentlich. In den ersten Jahren war der LichtBlick mein Übungsfeld. Hier konnte ich wieder Vertrauen in mich und meine Mitmenschen fassen. Dieses Vertrauen war mir während der Jahre meiner Abhängigkeit verloren gegangen: Am Ende, kurz vor Beginn meiner Therapie, fühlte ich mich nicht mehr als Teil der menschlichen Gemeinschaft. Ich verachtete mich und meine Mitmenschen. Ich bin heute dankbar, die Verachtung überwunden zu haben, mich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen.

Ich übernahm Verantwortung

… für den LichtBlick e.V. und bin seit 1995 Vereinsvorsitzender.

Die AA sagen: „Gib es weiter“: Dieses tue ich heute. Mit großer Freude berichte ich anderen Gruppenbesuchern über meinen Weg. Ich weiß, dass ich für viele ein Vorbild bin, bilde mir hierauf aber nichts ein. Jeder steht auf einer anderen Stufe seines Weges und kann von den anderen lernen. Ich hatte das Glück, dass ich meinen Weg ohne Suchtmittel gradlinig gehen kann. Ich baute keine Rückfälle und lebe nun 35 abstinent. Hierbei helfen mir meine Gruppe, meine Familie und vieles mehr.
Was soll ich sagen, ich habe mich nicht vom Saulus zum Paulus gewandelt. Ich besitze noch immer meine Fehler und meine Schwächen. Ich habe allerdings gelernt, dass diese Schwächen meine Menschlichkeit ausmachen. Wie gesagt, ich bin milder geworden.
Die Erziehung unserer Kinder stellte eine wichtige Erfahrung für mich dar. Als Familienmann habe ich die beiden erzogen. Ich lernte hierbei, mich nicht immer im Vordergrund befinden zu müssen.
Erziehung bedeutet Selbsterziehung und das Vorleben der geforderten Werte. In meiner Ursprungsfamilie erlebte ich keine Stabilität, keine Liebe oder Geborgenheit. Ich war bemüht, die Fehler meiner Eltern nicht zu wiederholen. Das bedeutete Selbstdisziplin und Arbeit an mir.

All die geschilderten Dinge, und vieles mehr, lassen mich heute zufrieden nüchtern sein.

Ich bin dankbar, diesen Weg gehen zu dürfen …

… und bereue nichts. Dieser, mein Weg, hat mich zu dem Menschen werden lassen, der ich heute bin.
Mit dem heutigen Klaus bin ich einverstanden und ich liebe mich.

Im Jahr 1992 begann ich mich mit meiner Lese- und Rechtschreibschwäche zu beschäftigen.
Schon in Bad Tönisstein hatte ich damit zu kämpfen, meinen täglichen Tagesbericht abzuliefern. Lag ein Blatt Papier vor mir, brach mir der Schweiß aus und ich hörte die Worte meines Deutschlehrers: „Rechtschreiben, das lernt der Junge nie!“
Ich setzte mich hin und schrieb einen Lebensbericht. Ich sammelte Lebensberichte anderer Abhängiger und stellte diese zusammen. Schrieb ein Vorwort und fand im Fischer Taschenbuch Verlag einen Verlag, der dieses Buch veröffentlichte. Titel des Buches: „Trocken und clean, Süchtige berichten“.
Ich fand Freude am Schreiben und stellte fest, wie gut es für mich ist, meine Gedanken und Gefühle schriftlich festzuhalten. Seit dieser Zeit schreibe ich immer wieder kleine Artikel für Suchtzeitschriften. Reichte einen Artikel zu dem Projekt „Stationen Alkohol: Wege in die Sucht, Wege aus der Sucht“ im TrokkenPresse Verlag ein, welcher unter der Überschrift: „Auch das tiefste Elend bietet eine Chance“ in das Buch aufgenommen wurde.
In etwa zur selben Zeit arbeitete ich an einem Film-Projekt des Medienprojektes Wuppertal mit. Unter dem Titel „Pillenlos“ berichte ich 33 Minuten über meine Abhängigkeitserkrankung.

All diese Projekte nahmen mir das Schamgefühl und ich begriff, du bist mit deiner Krankheit nicht allein und was viel wichtiger war, es ist keine Schande, krank zu sein, es ist nur eine Schande, nichts gegen diese Krankheit zu unternehmen.

Für die letzten Jahre meines Lebens wünsche ich mir, Zeit mit meinen Lieben verbringen zu können. Meinen Enkel aufwachsen zu sehen und noch viele Jahre an diesem spannenden Leben nüchtern teilnehmen zu dürfen.

Mein Name ist Klaus, ich bin alkohol-, medikamenten- und drogenabhängig und damit einverstanden.

 

Titelthema 02/22: Burkhardt Blienert im Interview

Burkhard Blienert:

„Die Menschen trinken einfach zu viel und zu sorglos“

Der neu gewählte Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, Burkhard Blienert, ist nun seit über drei Monaten in seinem Amt. Die TrokkenPresse wollte wissen: Was hat er vor? Was wird sich ändern? Was sind seine Ziele? In einem aktuellen Interview gibt er Antworten und spricht über Prävention, Werbebeschränkungen, Alkoholsteuer, Cannabisfreigabe …

Herr Blienert, die erste suchtpolitische Handlung der neuen Bundesregierung war die Umbenennung Ihres Amtes von „ Drogenbeauftragter der Bundesregierung“ in „Beauftragter der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen“. Welche neuen Aufgaben gehen damit einher, welche alten Aufgaben bleiben bestehen?

Es ist mir wichtig, einen Neuanfang nicht nur im Titel, sondern insbesondere inhaltlich deutlich zu machen. Suchtkrankheiten als solche zu akzeptieren, Menschen zu helfen und zu schützen, anstatt sie zu bestrafen – all das ist mir wichtig. Meine Aufgabe verstehe ich insbesondere darin, mich um die Menschen, die Suchtprobleme haben, zu kümmern, auf der Basis des Koalitionsvertrages. Darin sind ja viele neue Ansätze: Von regulierter Cannabis-Freigabe über Werbe- und Sponsoringbeschränkungen bei Alkohol und Tabak. Somit ist nicht nur die Hülle, sondern auch viel Inhalt neu.

Die letzte Drogenbeauftragte mit SPD-Parteibuch war Sabine Bätzing-Lichtenthäler, von 2005 bis 2009. Mit ihren Forderungen z.B. nach Anhebung von Alkoholsteuern sowie der Absenkung Blutalkoholkonzentrationswerte im Straßenverkehr ist sie auch an der eigenen Partei gescheitert. Wie sehen Ihre alkoholpolitischen Pläne im Hochkonsumland Deutschland aus, was ist davon mit Ihrer Partei und den Koalitionspartnern umzusetzen?

Ich möchte eine neue Debatte anstoßen, gerade beim Thema Alkohol, und – das ist das Mindeste – das umsetzen, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Wenn wir uns die vergangenen Jahrzehnte bei der Alkoholprävention anschauen, haben wir zwar ein paar positive Entwicklungen, zum Beispiel bei dem Einstiegsalter, aber Deutschland ist nach wie vor ein Hochkonsumland. Wie haben also sowohl bei der Verhaltens- als auch bei der Verhältnisprävention immensen Nachholbedarf. Das muss auch so deutlich gesagt werden und daran müssen wir in den kommenden Jahren arbeiten. Fakt ist: Die Menschen trinken einfach zu viel und zu sorglos.

Wie u.a. die enorm hohen Zahlen von Krankenhauseinweisungen von Kindern und Jugendlichen mit Alkoholvergiftungen zeigen, funktioniert in Deutschland der Jugendschutz hinsichtlich Rauschgiften nicht. Welche Pläne hat die Bundesregierung, dies zu verbessern?

Indem wir die Prävention ausbauen. Und zwar angefangen von Lebenskompetenzprogrammen in der Kita bis zur Aufklärung und Prävention in den Schulen. Es gibt ja bereits gute Präventionsmaßnahmen, diese müssen aber den aktuellen Entwicklungen und Anforderungen angepasst werden. Auch ein Werbeverbot für Alkohol steht ja zur Debatte. Wir wissen, dass gerade Kinder und Jugendliche sehr auf Werbung, auch im Netz, reagieren. Auch hier müssen wir nachjustieren.

Damit einhergehend sind auch die „Rauschgift-Kollateralschäden“ bei Ungeborenen, Kindern und Jugendlichen sowie Partner*innen in suchtbelasteten Familien. Wird es, wie schon in anderen Ländern, Warnhinweise auf Alkoholika und anderen Drogen geben, die vor dem Gebrauch warnen?

Ich denke, dass es nicht reicht, Warnhinweise auf Flaschen zu drucken. Wir müssen die Menschen insgesamt noch viel direkter erreichen. Am besten durch persönlichen Kontakt, direkte Ansprache beispielsweise durch die Gynäkologen. Dafür braucht es ein funktionierendes, auch personell gut ausgestattetes Gesundheitswesen, was die Zeit und die Möglichkeit hat, am Ball zu bleiben. Die Pandemie hat uns extrem deutlich gemacht, wo wir in Deutschland zu schwach aufgestellt sind. Dazu gehört auch die Hilfe für Angehörige von suchtkranken Menschen und hier insbesondere deren Kindern. Diese Hilfsangebote gilt es zu stärken und in die Fläche bringen. Wir müssen die bürokratischen Hürden zu mindern, damit diese Hilfe schneller ankommt.“

In Deutschland werden die volkswirtschaftlichen Kosten des Alkoholgebrauchs, wissenschaftlich seriös, auf über 50 Milliarden Euro geschätzt. Dem stehen Steuereinnahmen von ca. 3 Milliarden gegenüber. Sind Schritte hin zum volkswirtschaftlich gerechteren Verursacherprinzip in der Alkoholbesteuerung zu erwarten? Wird es mit der neuen Bundesregierung eine steuerliche Gleichstellung von Wein mit anderen Alkoholika geben oder wird dieses erst seit 1926 bestehende Privileg weiterbestehen? Wird es also eine einheitliche und schadensabhängige Alkoholsteuersystematik geben?

Diese Fragen kann ich Ihnen aktuell nicht im Detail beantworten. Einfach, weil wir am Anfang einer Legislaturperiode stehen, die uns allen aktuell unglaublich viel abverlangt. Lassen Sie es mich so formulieren: Ich bin grundsätzlich offen für eine Überprüfung der bisherigen Besteuerung, gerade weil Alkohol in Deutschland nach wie vor viel zu billig über den Ladentisch geht. Aber am Ende des Tages müssen wir dafür das federführende Finanzministerium unter der Führung von Christian Lindner überzeugen.

Jährlich werden tausende Verkehrsteilnehmer*innen durch alkoholisierte Verkehrsteilnehmer*innen getötet oder verletzt. Plant die Koalition die Wiedereinführung der Nullkommanull-Promille-Regelung bei Fahrzeugführenden?

Bisher haben wir Themen wie Sponsoring, Werbebeschränkungen und die Stärkung der Prävention für Kinder, Jugendliche und Schwangere im Fokus. Natürlich heißt das nicht, dass wir alles andere ausblenden, aber der Koalitionsvertrag ist unsere Leitlinie, und die gilt es abzuarbeiten. Schon da müssen wir dicke Bretterbohren.

Im Gegensatz zu Ihren Vorgängerinnen im Amt befürworten Sie eine sogenannte Legalisierung von Cannabis. Ist das Alkohol-Hochkonsumland Deutschland nicht schon mit den bisherigen legalen Giften, Nikotin und Alkohol, überfordert? Sollte bei diesen Giften nicht erst wirksame Maßnahmen umgesetzt werden, bevor sich die Gesellschaft mit einem weiteren Gift auseinandersetzen muss?

Ich würde das eine Suchtmittel nicht gegen das andere ausspielen wollen. Wichtig ist bei allem doch in erster Linie: Wie stärke ich die Gesundheits- und Lebenskompetenz der Menschen, damit sie keinen problematischen oder pathologischen Konsum betreiben? Wie mache ich Kinder fit, auf ihren Körper und ihre Gesundheit zu achten, selbstbewusst und stark aufzuwachsen? Wie lerne ich auch als Erwachsener, auf meinen Körper zu hören und ihn zu schützen, auf mich und meine Mitmenschen acht zu geben? All diese Fragen stehen für mich am Anfang der Debatte.

Wäre es nicht konsequenter, wie im EU-Land Portugal, alle Drogen freizugeben? Wo liegt die logische, medizinische oder sozialwissenschaftliche Grenze zwischen Cannabis und z.B. LSD oder Kokain? Die Gründe für eine Cannabis-Legalisierung, Entkriminalisierung der Nutzer, Austrocknung des Schwarzmarktes, Steuereinnahmen usw. gelten genauso für andere „illegale“ Drogen.

In Portugal sind sowohl Heroin als auch Kokain und Cannabis nach wie vor illegal. Nur wird der Besitz kleiner Mengen dort anders geahndet als bei uns. Wir haben einen klaren Rahmen für diese Legislatur aufgestellt. Als Ziel haben wir die regulierte Freigabe von Cannabis an Erwachsene definiert und nicht die Freigabe aller Drogen. Cannabis ist keine tödliche Droge wie Heroin oder Kokain, das muss man schon differenzieren. Es macht also in vielerlei Hinsicht Sinn, diesen Schritt zu gehen.

Wird es wieder einen substantiellen Sucht- und Drogenbericht wie bis 2019 geben oder wird der Bericht über Ihre Tätigkeit auch, wie 2020 und 2021, in einem kleinen bunten Heft erscheinen?

Lassen Sie es mich so formulieren: Mit meinem Amtsantritt ändert sich nicht nur die Hülle, sondern auch der Inhalt. Woran mir gelegen ist, ist Transparenz. Ich möchte, dass die vielen Daten und Zahlen, die wir erheben lassen, in Zukunft nicht nur einem kleinen Kreis von Fachleuten zur Verfügung stehen, sondern allen, die sich an der Debatte über die richtige Drogen- und Suchtpolitik beteiligen wollen. Und die sprechen ja für sich, gerade auch, wenn es um Alkohol geht.

Herzlichen Dank, Herr Blienert!

Die Fragen stellte Torsten Hübler

Titelthema 4/20: Suppe statt Gruppe, Dock Nord

Im Corona-Lockdown: Eine Idee rettet das Dock Nord

„Suppe statt Gruppe“

Plötzlich keine Gruppetreffen mehr. Vereinsräume geschlossen. Kontaktsperre. Ohne zu wissen, ob und wann sich alles wieder normalisieren wird. Das traf damals im März natürlich auch die alkoholfreie Kontaktstelle „Dock Nord“ im Berliner Wedding. Kein „andocken“, kein „ankern“ im sicheren drogenfreien „Hafen“ mehr möglich. Normalerweise treffen sich Betroffene von 15 Uhr an dort, um Kaffee zu trinken, einen Imbiss zu nehmen, sich zu unterhalten. Und am Abend freie Gruppen oder Gruppen von Vereinen wie VAL, NA, AKB.
Nichts ging mehr. Was nun? Abwarten, bis alles vorbei ist? Abzuwarten hätte wahrscheinlich bedeutet, dass der Verein schließen muss. Diesen Verein für suchtfreies Leben Eigeninitiative e.V gründeten 1983 zwei Alkoholkranke, um Betroffenen eine Kneipenalternative zu schaffen. Einen Ort, an dem man sich wie in einem cleanen gemütlichen Wohnzimmer treffen und austauschen kann. DAS schließen? Nein, nicht mit Andrea Plath! Sie, Angehörige eines Alkoholikers, ist seit letztem Jahr Vorstandsmitglied und Kassenwartin des Dock Nord. Ihre neue Idee wurde zum Rettungsanker …

 

Weshalb waren die Corona-Beschränkungen so belastend fürs Dock Nord?
Andrea Plath: Das Problem waren vor allem Miete und Strom, die laufenden Kosten. Denn wenn der Geschäftsbetrieb ruht, das Essen, das Trinken, und die Nutzungsgebühr der Gruppen wegfallen … damit haben wir ja immer die 1000 Euro Monats-Miete bezahlt. Das war eine schlimme Zeit. Was tun? Müssen wir schließen? Aber die Menschen müssen doch weiterhin genesen können. Sie brauchen uns, die Gruppen, den Treff.

Woher kam Hilfe?
Eine Kaltmiete hat uns die Wohnungsverwaltung zum Glück erlassen. Und im Bürgerverein „Moabiter Ratschlag“ riet man uns dann, bei der IBB-Bank die Soforthilfe für kleine Unternehmen zu beantragen. Nach dem Antrag war gleich am nächsten Tag das Geld da. Miete und Strom waren nun vorerst damit abgesichert, aber wie sehen ja jetzt, es ist Juli und Corona noch lange nicht zu Ende. Was machen wir jetzt, fragten wir uns damals? Der Laden ist zu, aber wir müssen doch irgendwie noch etwas tun können …

Was war die Idee?
In der Landesstelle für Suchtfragen riet man uns, ein Catering aufzumachen, wir haben ja eine Küche.
Da hab ich zuerst gedacht: Wir sind doch ne Kontaktstelle, wir machen Selbsthilfe, wir wollen doch kein Essen verteilen! Naja, aber durch die Coronazeit waren ja nicht nur wir betroffen, viele mussten in Kurzarbeit gehen, waren zuhause mit wenig Geld. Der nächste Rat war: Schreib doch mal „Aktion Mensch“ an, die fördern Projekte, gerade in der Coronazeit sind Gelder zur Verfügung, vielleicht findest du da Ideen. So haben wir uns dann entschieden, dass wir nicht zu den Leuten hingehen mit dem Essen, sondern hier für die Leute kochen. Suppe statt Gruppe. Also habe ich acht Stunden lang einen Antrag ausgefüllt und nach drei Wochen kam wirklich ein Anruf von der zuständigen Bearbeiterin für unser Projekt: von Mai bis Ende des Jahres helfen wir Menschen in der Coronazeit mit einer täglich frischen Suppenmahlzeit. Nach einer Prüfung bekamen wir Gelder für einen neuen Herd und für die Personalkosten. 95 Prozent des Projekts werden gefördert, die 5 Prozent Eigenanteil erwirtschaften wir selbst. Der Koch, nun angestellt für 30 h, war vorher als MAE hier, zwei 450-Euro-Kräfte sind als Beiköchin und für die Ausgabe zuständig. Nachdem uns das Lebensmittelamt geprüft hatte, ging es Ende Mai los mit dem Außerhausverkauf an der Tür.

Wer sind die Kunden?
Wir haben viele Stammkunden aus den Häusern rundum, Omis kommen mit Rollator und ihrem Suppentopf an, Gäste der Kneipe an der Ecke, Pflegedienstmitarbeiter und Menschen, die sie betreuen. Und Betroffene, die sonst immer nachmittags hier waren. Etwa 60 Portionen brauchen wir inzwischen. Ein Essen kostet zwar 3 Euro, aber für Menschen in Hartz4 nur 2 Euro und wenn einer gerade gar kein Geld hat, weil er auf die Rente wartet, kriegt er sein Essen auch mal so.

Aus der Küche duftet es gerade himmlisch nach Kartoffelpuffern. Also gibt es inzwischen mehr als Suppe?
Ja. Dank der Aktion Mensch hatten wir gutes Wirtschaftsgeld und die Kunden baten uns, auch mal dies oder das zu kochen. Königsberger Klopse sind beliebt, Pellkartoffeln mit Leinöl/Kräuterquark, Putenspieße, Käse-Lauchsuppe ging gut, Nudelauflauf. Wir haben auch vegan, Eintopf z.B. mit oder ohne Fleisch. Umgetauscht hat noch keiner, gemeckert auch nicht. Wir kochen frische Hausmannskost.

Was läuft zurzeit noch im Dock Nord?
Mittlerweile sind einige Gruppen wieder da … Mit den nötigen Hygieneauflagen, Mundschutz, Abstand, Desinfektionsmittel, Kontaktdatenabgabe. Aber unsere normalen Öffnungszeiten, täglich 15-21 Uhr, sonntags bis 20 Uhr, müssen leider aufgrund der Einschränkungen noch warten.

Wie wird es weitergehen, wenn das Geld von Aktion Mensch verbraucht  ist?
Darüber denken wir gerade nach. Wir wollen ja auch, dass die Selbsthilfegruppen bei uns weiterexistieren können. Meine Erfahrung ist: Freiwillig klopft niemand an die Tür und sagt, wir haben hier Geld, wollt ihr was haben. Man muss etwas fordern, Anträge stellen. Das ist zwar viel, viel Schreibkram, aber lohnt sich wirklich! Vom Moabiter Ratschlag hatten wir letztes Jahr für Weihnachten und ein Skattournier je 100 Euro erhalten. Beim Berliner Kammergericht, wo man einen Antrag auf Gewährung einer Geldzuweisung aus Bußgeldern stellen kann, bekamen wir Geld für neue Kühlschränke und eine Waschmaschine. Jetzt brauchen wir zum Beispiel eine neue Webseite, einen PC. Mal sehen, ob wir wieder dabei sind. Auch mit den Selbsthilfegruppen, die von der AOK 600 Euro im Jahr bekommen können, habe ich Anträge ausgefüllt.
Ja, wie geht es weiter im nächsten Jahr, das bereitet schon Kopfzerbrechen. Wie weit ist Corona, wie sind die Lockerungen, die Öffnungszeiten, Versammlungen. Was wird mit Festen wie Tanz in den Mai, Sommerfest, dieses Jahr fiel alles aus.
Meine Idee ist gerade, das Samstagfrühstück wieder anzufangen, mit nur 15 Leuten, ohne Buffet, sondern mit fertig gepackten Tellern, um wieder die Kommunikation zu fördern, zu zeigen, wir sind da, ihr seid da, wir sind beieinander …

 

Titelthema 1/22: Kurt Wetzlinger – trocken dank seines Hobbys

Kurt aus Kärnten ist seit 25 Jahren trocken, dank eines Hobbys:

Gleitschirmfliegen … statt Biertrinken

Heute gucken wir mal über den bundesdeutschen Tellerrand hinaus, liebe Leserinnen und Leser: Grüß Gott nach Österreich! 340 000 Menschen von knapp 9 Millionen dort gelten als alkoholkrank. Einer von ihnen ist Kurt Wetzlinger (74), inzwischen 25 Jahre trocken. Und zwar seit seiner Therapie, die, ähnlich wie in Deutschland, aus Entgiftung, Entwöhnung und Nachsorge aufgebaut ist. Um trocken zu bleiben, hatte er sich damals selbst ein Ziel gesetzt, eine Art Belohnung ausgesetzt: Ich lerne Paragliding, wenn ich ein Jahr geschafft habe! Und so kam es auch … Seitdem hat er 4200 Flüge hinter sich und ist inzwischen sogar Obmann des Drachen- und Gleitschirmfliegerclubs Ossiacher See. Am Telefon antwortet er uns kurz und bündig, eher ein Mann der Tat eben: Einfach machen …

Wie wurdest Du alkoholkrank?

Ich war kein Trosttrinker, ich bin da so reingerutscht über 15 Jahre. Ich habe immer gerne Bier zum Essen getrunken. Und als Handelsvertreter hatte ich mit Privatkunden zu tun, du bekommst dann dort ein, zwei Bier, das geht Jahre. Dann bekommst du vier Bier und merkst noch immer nichts, und irgendwann beschließt du dann, bevor du nach Hause gehst, noch im Gasthaus zwei, drei Bier zu trinken. Sukzessive bist du dann bei 12 Bier am Tag. Man kommt sehr rasch hinein und eben schwer heraus …

 Aber Du musstest doch als Handelsvertreter täglich Auto fahren …?

Naja, das ist so lange „gut“ gegangen, bis ich den Führerscheinentzug hatte. Danach hat meine Tochter mich chauffiert, so hat das weiterfunktioniert.

 Jeder zweite Österreicher trinkt täglich Bier. Woran hast Du gemerkt, dass es bei Dir zu viel wurde?

In der Zeit, wo man mittendrin ist, ging es mir gar nicht so schlecht. Aber dann zum Schluss, gesundheitlich ging es mir zwar noch ganz gut, aber es war nicht mehr so lustig, keine Aktivitäten mehr zu haben.

 Keine Aktivitäten, was meinst Du damit?

Zum Beispiel bin ich früher viel Angeln gegangen, dann hat das aufgehört. Das Schifahren hat dann auch aufgehört. Man verliert die Lust an den ganzen Geschichten, die Sauferei war dann viel wichtiger. Ich lebte von einem Tropfen zum nächsten, vegetierte dahin.

 Wann ist Dir das aufgefallen?

Als ich 49 Jahre alt war, hatte ich einen klaren Moment, in dem ich dachte: War das jetzt alles vom Leben, dass man morgens in der früh schon beim Bier steht? Dabei lebe ich gerne! Das war so ausschlaggebend, dass ich dann zum Entzug gegangen bin. Ich musste einfach was unternehmen und das habe ich getan.

 Du bist von selbst zum Entzug?

Es wurde vorher lange auf mich eingeredet, dass ich das machen muss, machen soll. Die Firma, die Familie … ich dachte damals, ich trinke doch nur Bier, Alkoholiker ist jemand, der Schnaps kauft. Ich hatte schon eine Bauspeicheldrüsenentzündung wegen der Trinkerei. Hatte oft versucht, aufzuhören. Einmal habe ich vier Monate lang nichts getrunken, aber wieder begonnen. Da war auch für mich persönlich dann Schluss und ich bin in die Klinik. Mein Gedanke war ursprünglich, dass ich das dann reduzieren kann und nur ein Glas Bier am Tag trinke … aber das klappt ja nicht. Deshalb gibt’s bei mir seitdem nur null Alkohol.

 Wie erging es Dir in der Klinik?

Acht Wochen ist dort der Mindestaufenthalt.  In den ersten drei Wochen geht’s einem ziemlich schlecht, man zweifelt viel: Wieso ich, ich bin so stark, ich brauch das alles nicht … das muss man durchlaufen für diese drei Wochen und dann wird es sowieso mit jedem Tag besser.

 In der Klinik hast Du Dir eine Belohnung versprochen …

Auf dem Berg überm Krankenhaus war der Startplatz einer Flugschule und unterm Krankenhaus der Landeplatz. Ich wollte schon immer fliegen, schon als Kind! Zwar hatte ich mal einen Grundkurs gemacht in Drachenfliegen, aber das hatte ich nicht weiter verfolgt wegen der Trinkerei. Als es mir dann besser ging nach etlichen Wochen Therapie, habe ich mir gedacht: Wenn ich es ein Jahr lang ohne Bier aushalte und es mir gut geht, dann gehe ich auch zum Gleitschirmfliegen. Bevor ich nach Hause gegangen bin, habe ich das meinen Mitpatienten gesagt, da haben alle gelacht. Aber genau ein Jahr später, als ich die Kurse gemacht hatte, begann ich dort zu fliegen …

 Dieses Ziel hat dir also geholfen, trocken zu bleiben?

Ja!

 Wie?

Ich tue etwas, was mir Spaß macht. Wenn ich ein, zwei Tage nicht fliegen kann, werde ich schon kribbelig und dann geh ich wieder hin. Es ist ein schönes Gefühl, zu fliegen – und was einem Spaß macht, sollte man öfter tun …

 Du hast Dir damals auch einen Hund „angeschafft“, der dann auch mitgeflogen ist?

Ja, einen Jack Russel-Terrier. Meine Frau wollte eigentlich keinen, so musste ich den kleinen Hund ab und zu mitnehmen und dann ist sie halt auch mitgeflogen und war ganz närrisch darauf. Sie wurde über 17 Jahre alt – ihr Leben ist wie im „Fluge“ vergangen. Danach kam Kyra, sie ist schon mit fünf Monaten mitgekommen und hat mittlerweile über 780 Flüge.  Für Hunde habe ich ein extra Hundegeschirr, Kyra sitzt entspannt auf meinem Schoß. Mich kennt man nur mit Hund beim Fliegen.

 Alkohol und Paragliding zusammen geht nicht?

Das geht prinzipiell sowieso nicht und bei mir überhaupt nicht. Paragliding ist wie Segelfliegen, wir müssen die Thermik beobachten und nutzen können, um oben zu bleiben und zu fliegen, manchmal stundenlang …

 Also hält Dich Dein Hobby auf seine Weise mit trocken?

Ja natürlich! Ich habe nie ein Glas Alkohol getrunken in der Zeit und werde es, so wie es heute ausschaut, auch nicht tun. Es geht mir bestens!

 Ist das auch Dein Rat für alle, die abstinent bleiben wollen?

Jeder hat, wenn er zurückdenkt an die Zeit vor der Trinkerei, irgendwelche versteckten Ziele, irgendwas, was er immer gerne mal tun wollte. Das sollte er sich dann als Hobby nehmen. Es hilft zum Beispiel, ein Haustier zu haben, einen Hund. Es hilft, irgendein altes Hobby wieder aufleben zu lassen, so dass man irgendein Ziel hat, etwas tut, was einem Freude macht. Was einen ausfüllt, die Akkus auffüllt. Womit man die Zeit nützlich verbringt. Früher ist man ja stundenlang an der Theke gestanden, und jetzt hat man stundenlang Zeit übrig. Bei uns heißt es: Wenns dem Esel zu gut geht, geht er aufs Eis tanzen … das heißt, man muss irgendwas unternehmen, was einem Spaß macht, und dann vergisst man, dass man Alkohol „braucht“ … deshalb sage ich immer: Lebensqualität pur!!

Das Gespräch führte Anja Wilhelm