TrokkenPresse 5/22: Arbeiten u n d trinken wie die Männer?

Interview mit Autorin Eva Biringer über den steigenden Alkoholkonsum von Frauen

Arbeiten u n d trinken wie die Männer?

Ur-Omi nippte damals am Eierlikör, und das vielleicht einmal im Monat mit einer Bekannten. Derweil kippte Ur-Opa in der Kneipe gegenüber Bier und Schnaps – und das nicht nur einmal im Monat. Doch seit 25 Jahren, besagt eine weltweite Studie, hat sich das Trinkverhalten angeglichen. Männer trinken etwas weniger, Frauen inzwischen viel mehr Alkohol. In Deutschland ist inzwischen fast die Hälfte aller Alkoholkranken eine Frau, besagen aktuelle Statistiken. „Je emanzipierter ein Land ist, desto eher trinken die dort lebenden Frauen“, stellt Eva Biringer in ihrem Buch „Unabhängig“ fest, das wir in der vergangenen Ausgabe vorstellten. Die heute trockene Autorin gehört mit ihren 32 Jahren und ihrer Karriere als Food-Journalistin selbst der Generation Frauen an, die es normal findet, zu arbeiten u n d zu trinken wie die Männer.

Was hat das mit Emanzipation zu tun, wenn Frauen heute viel mehr trinken?

Eva Biringer: Einerseits hat Alkohol die Wirkung, die er hat: Er nimmt scheinbar die Sorgen, man fühlt sich leicht beschwingt und das ist natürlich ideal, wenn man den ganzen Tag nicht weiß, wo einem der Kopf steht als Frau, vielleicht auch noch als Mutter, aber auch als Frau, die einen Job hat, der sie fordert. Dann ist da das Glas Wein am Abend der erste Moment, in dem man sich mal was Gutes tut – mal durchatmen, mal Zeit für sich. Andererseits wird Alkohol für Frauen heute auch als Emanzipation verkauft. Sie können heute alles machen, denselben Job wie Männer, können sich selbst verwirklichen, ihr eigenes Lebensmodell wählen: Warum sollen sie dann nicht auch trinken wie die Männer? Dieses „Sex in the City“-Beispiel, das sind Frauen mit tollen Jobs, die sich ihre 15-Dollar-Martinis gönnen und in der Öffentlichkeit trinken. Natürlich nicht zu viel, das ist das Perfide daran, dass das weibliche Trinken sehr wohl reglementiert wird, nämlich dass eine besoffene Frau total abstoßend ist, noch viel abstoßender als ein Mann. Das heißt, man bewegt sich auf einem sehr schmalen Grat zwischen nicht trinken, was komisch ist, denn dann hat man ja ein Problem, und viel trinken, was auch nicht geht – aber eine Frau, die nicht sichtbar betrunken, aber maßvoll in der Öffentlichkeit trinkt, die hat schon was Glamouröses, wenn es nicht der Wodka direkt aus der Flasche ist. Ein Cocktail, ein besserer Wein oder Prosecco, das ist so: Okay, die gönnt sich was.

Trinken Frauen anders und aus anderen Gründen als Männer?

Ich habe eher getrunken, um was zu erleben, zu fühlen, weil ich gerne starke Empfindungen mag, aber ich bin damit eher ein Gegenbeispiel: Viele Frauen trinken, um Gefühle nicht fühlen zu müssen, um sich zu betäuben. Sie trinken auch gegen Ängste und Depressionen an, anders als Männer, die oft nach außen gehen, auch im wortwörtlichen Sinn, nämlich eher in der Öffentlichkeit trinken als Frauen, die, wenn sie problematisch trinken, eher Zuhause trinken … weil es etwas Schambehaftetes hat, das weibliche Trinken – und weil sie da auch einfach sicherer sind, denn eine betrunkene Frau kann eher Opfer einer Gewalttat werden als eine, die nicht betrunken ist. Mit dem Trinken neigen Männer dann eher zu aggressivem, gewaltbereitem Verhalten, bei Frauen dagegen verstärken sich Angstzustände und Depressionen meist.

Werden Frauen schneller abhängig?

Ja, der weibliche Körper kann Alkohol schlechter abbauen, verstoffwechseln. Frauen werden aber nicht nur schneller abhängig, auch die körperlichen und die psychischen Schäden wie Depressionen und Angstzustände durch Alkohol sind sehr viel ausgeprägter als bei Männern, bis hin zu einem mehr als doppelt so hohen Sterblichkeitsrisiko. Deswegen gibt es auch die Empfehlungen, dass Frauen viel weniger trinken sollten als Männer, maximal die Hälfte.

Müsste es dann für Frauen nicht eine spezielle Frauentherapie geben?

Ja, ich bin sehr dafür, dass es eine geschlechterspezifische Suchttherapie gibt, oder mehr, als es gerade der Fall ist: Weil Frauen viel mehr aufgebaut werden müssen. Deswegen lehne ich auch das AA-Konzept ab, bei dem man sich erst mal klein machen muss und sich entschuldigen bei allen, denen man Unrecht angetan hat. Denn das machen Frauen doch sowieso die ganze Zeit. Ich glaube, Frauen müssen bestärkt werden. Das funktioniert, denke ich, am besten in einer Frauengruppe, nicht in einer gemischten Gruppe, ich habe es selbst erlebt. In einer gemischten Gruppe reißen die Männer dann doch wieder das Wort an sich – aber in einer Frauengruppe fühlt man sich doch eher wie in einem geschützten Raum und kann besser auf die geschlechtsspezifischen Probleme eingehen.

Mir ging es selbst so, in der Therapie gab es gemischte Gruppen und ich konnte mich da nur schwer öffnen …

Ja, diese Erfahrung haben viele Frauen gemacht. Ich sage jetzt nicht, dass es keine erfolgreichen gemischten Therapien gibt, aber ich hatte den direkten Vergleich, meine Aufnahmegruppe in der ambulanten Therapie war gemischt, später war es eine Frauengruppe. Das war eine ganz andere Stimmung. Ich glaube, Frauen trauen sich dann mehr, offenbaren sich eher vor anderen Frauen und man kann auch von Seiten der Therapeuten anders herangehen, also eine speziell auf Frauen zugeschnittene Therapie anbieten.

Auch die Werbung trägt ja dazu bei, dass Frauen mehr trinken, sie spricht sie zielgerichtet an, Frauen als Absatzmarkt. Woran kann frau das erkennen?

Durch die Art der Getränke, denn wie alles in der Welt ist ja auch das Trinken gegendert. Also wird der Mann eher durch die Werbung mit einem Whisky oder Cognac angesprochen und die Frau eher mit einem Rosé, mit Sekt, mit Getränken, die weniger Alkohol enthalten, süßlich schmecken und auch niedlich daherkommen, so wie sie aufgemacht werden. Dann ist es natürlich die Mädels-Prosecco-Runde, die dargestellt wird in der Werbung, bei den Männern eher der Biergartenbesuch. Das Perfide ist aber auch die versteckte Werbung. So viele Serien, Filme, Bücher sind bildprägend. Oder Instagram, die sozialen Medien, es ist ja überall das Bild der elegant trinkenden Frau, die sich auf jeden Fall unter Kontrolle hat und nicht betrunken vom Barhocker kippt, aber die trinkt. Und die das als selbstverständlichen Teil ihrer Weiblichkeit betrachtet. Das finde ich fast noch gefährlicher, weil man es gar nicht als Werbung erkennt und es sich sofort abspeichert: ah ok, ne Frau, die im Leben steht, etwas aus sich macht, die trinkt – na dann trink ich doch auch.

Warum hast Du eigentlich Dein Buch geschrieben?

Weil ich in der Zeit, bevor ich aufgehört habe, super viel gelesen hatte, alles, was ich gefunden habe zum Thema Alkoholismus. Jedes dieser Bücher hat mir etwas gegeben, manches mehr, manches weniger, aber die Geschichten von anderen fand ich sehr, sehr hilfreich auf meinem eigenen Weg, gerade die Geschichten von Frauen. Mir war immer klar, wenn ich es mal schaffe, aufzuhören, dann wird es für mich so krass sein, so lebensumwandelnd, dass ich das irgendwann aufschreiben muss. Auch für andere.

Du bezeichnest Dich heute nicht mehr als Alkoholikerin, warum?

Nicht „nicht mehr“, ich habe mich auch früher nicht als Trinkerin bezeichnet, weil ich den Begriff nicht mag. Ich weiß, es ist ein heikles Thema, aber ich habe das für mich so entschieden. Ich habe auch mal geraucht, dann aufgehört und bin seitdem keine Raucherin mehr. Ich hatte ein Problem mit Alkohol, auch eine Abhängigkeit, aber Alkoholikerin … das definiert dich ein Leben lang als Person, und so sehe ich mich nicht. Dieses klassische „Ich bin Eva, ich bin Alkoholikerin“, das passt für mich einfach nicht. Weil es sofort ein Bild aufruft, das wieder Teil des Problems ist, weil viele dann sagen, „Na, ich bin aber nicht die Frau, die morgens schon ihren Wodka reinkippt, die ist Alkoholikerin, ja. Ich trinke ja einfach nur ein bisschen zu viel.“ Da muss man aufpassen, dass es nicht andersrum funktioniert, als Rechtfertigung zum Trinken. Ich mag den Begriff nicht und jetzt erst recht nicht mehr. Ich trinke keinen Alkohol mehr, da bin ich doch erst recht keine Alkoholikerin mehr.

 

TrokkenPresse 4/22: Mit Butterbrot und Bibel

Als Suchthelfer in der Ukraine:

Mit Butterbrot und Bibel

„Ihr“ Mariupol ist heute ein anderes … eine hungernde und dürstende Stadt in Trümmern. 18 Jahre lang war dieser Ort für die Suchthelfer Heinz und Martina Nitzsche aus Mecklenburg eine zweite Heimat. In der sie hunderten alkohol- und drogensüchtigen Menschen, ihren Kindern, vielen Obdachlosen und Kranken halfen, ein neues, besseres Leben beginnen zu können. Sie bauten eine Gemeinde auf, eine Gottesdiensthalle, Blaues-Kreuz-Gruppen, ein Kinderheim, ein Hospiz, unterstützten eine Obdachlosenzuflucht und kleine Reha-Zentren.

Kartoffelkäfer also. Martina steht in ihrem weiten Garten, von Ferne summt die Autobahn nach Rostock herüber. Sie beugt sich über eine Kartoffelpflanze. Aha! Ein Gelbbraungestreifter wird sachte ins Schraubglas gelegt. Aus dem Nachbarbeet blinzelt es rot, ein paar Erdbeerchen könnten gepflückt werden. Und Unkrauthacken wäre auch mal dran. Aber immer kommt was anderes dazwischen, das ihr viel wichtiger ist: „Menschen gehen immer vor!“ Ebenso ergeht es Heinz, der gerade über die vorlauten Gänse lächelt, die Hände voll mit frischen, braunen Hühnereiern.

Ein beschauliches Rentnerdasein könnten sie führen, hier in ihrem Linstow, während in ihrer einstigen Wahlheimat Menschen sterben. Aber das kommt ihnen nicht mal in den Sinn. Erst heute Morgen waren beide schon unterwegs ins Nachbardorf zu einer ukrainischer Flüchtlingsfamilie, der Herd war kaputt, ein Elektriker schnell organisiert. Und jetzt, auf dem Weg über die stille Dorfstraße in ihre kleine Wohnung im Haus der Tochter, tönt ein helles „Hallo, Martina“ aus einem anderen Haus, an dem gerade gebaut wird. Ein kleiner ukrainischer Blondschopf winkt fröhlich aus dem Fenster. Flucht-Ende bei einem von Nitzsches erwachsenen Kindern.

Martina und Heinz haben seit Kriegsbeginn immer wieder organisiert, dass diese Menschen hier in der Gegend eine erste Unterkunft finden. Vor allem Freunde, Bekannte und Mitarbeiter aus Mariupol mit ihren Familien. Darunter viele ihrer früheren Schützlinge, einst alkohol- oder drogensüchtig, heute frei Gewordene, wie beide es nennen. Nun freuen sie sich, dass die Gemeinde Kuchelmiß zehn Wohnungen in einem älteren Mietshaus zur Verfügung gestellt hat …

Während Martina daheim dann die Kartoffeln aufsetzt, eigene Ernte vom letzten Jahr, und den frischen Heringssalat umrührt, den Heinz so gerne mag, blubbert die Kaffeemaschine friedlich. Alles ist so friedlich hier. So sorgenfrei. Und Martina denkt an Mariupol in Trümmern. „Aber auch, wenn die Häuser, die wir mitaufgebaut haben, nun kaputt sind oder nicht mehr nutzbar – sie waren doch nur ein Instrument, damit wir arbeiten konnten. Das Eigentliche sind die Menschen. Die meisten sind heute noch trocken, trotz des Krieges! Dafür braucht man ein Fundament. Bei uns ist das der Glaube, und dieses Fundament durften wir ihnen damals weitergeben. Also hat es sich gelohnt, das Leben dort.“

Als Blaukreuz-Suchthelfer in die Ukraine

 Wieso wollten Sie 2001 dorthin, um zu helfen?

Martina: Die Geschichte geht viel früher los. Heinz hatte schon immer ein großes Herz für die Randgruppen der Gesellschaft. Und zu denen gehörten in der DDR eben auch die russischen Soldaten.

Heinz: Bei uns nahe Riesa sind sie immer die Straßen lang gekommen in ihren Panzern, wir haben uns draufgesetzt als Kinder, die Mützen aufprobiert und Abzeichen ausgetauscht.

Martina: Und als wir dann verheiratet waren, haben wir immer was verteilt an diese Leute, russische Bibel-Schriften, Schokolade, später sogar eine große Weihnachtsfeier organisiert. Nach der Wende sind wir sofort nach Russland gefahren, um unsere Freunde zu besuchen. Zweimal hatten wir da ein Erlebnis: Betrunkene lagen am Straßenrand, ein LKW fuhr vor, zwei Männer öffneten die hintere Ladetür, griffen die Menschen an Armen und Beinen und schmissen sie ins Auto. Was passiert jetzt mit ihnen?, fragte ich. Die kommen erst mal einen Tag in die Ausnüchterungszelle. Das nächste Mal für zwei Tage, dann für fünf und dann ins Arbeitslager … Ich sagte, aber das geht doch nicht! Die Menschen werden doch schlimmer davon. Die brauchen Liebe und dass jemand ihnen Wege aufzeigt, wie man rauskommt aus der Sucht!

 Und da mussten Sie etwas tun?

Martina: Ja. Wir haben immer in christlichen Gemeinden übernachtet auf unseren Wegen, auch durch die Ukraine. Und dort unser Anliegen geschildert, Alkoholikern zu helfen. Da war gar kein Verständnis da. Das seien Menschen dritter Klasse, Schweine. Und so haben wir erst mal angefangen, ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass das Menschen sind, die das gar nicht wollen, wie sie sind. Und Erbarmen brauchen von uns. So entwickelte sich das, bis hin zu Gruppenstunden. Aber immer, wenn wir in unserem Urlaub wieder dort waren, war es wieder eingeschlafen. Heinz meinte, es müsse jemand immer vor Ort sein. Aber als Mutter von fünf Kindern wollte ich nicht weg, solange sie mich brauchen. Als dann später aber unser jüngster Sohn tödlich verunglückte, der uns noch am meisten gebraucht hatte, wusste ich: Ich bin jetzt freigestellt. So sind wir 2001 aufgebrochen. Ohne zu wissen, was auf uns zukommt.

Und ohne Geld …

Heinz: Unser Antrag bei der EU auf Finanzhilfe für das Projekt wurde abgelehnt. Wir verließen uns nun auf Gott.

Martina: Und dann hat der riesige Freundeskreis uns hindurchgetragen. Ein Geschenk von Gott, dass er die Menschen dazu bewegt hat. Wir hatten viele und lange Durststrecken, aber wir haben immer wieder das Wunder erlebt, nicht hungern zu müssen und immer das zu haben, was wir zum Leben brauchten. Und dass wir bauen konnten, herrichten. Wir haben wirklich den lebendigen Gott erlebt: Dass er da ist und die Seinen nicht im Stich lässt.

Wo habt ihr gelebt?

Martina: Freunde hatten uns ein uraltes kleines Häusel gekauft. Und schon die verrotteten Fenster und Türen rausgerissen, um uns was Gutes zu tun. Aber wir hatten ja kein Geld. Der Müll war noch nicht abgefahren, also haben wir alles wieder eingebaut. Die Leute dort haben uns beobachtet und gesehen, dass wir nichts Besseres sind und genauso im Dreck sitzen müssen wie andere, die immer arbeiten und arbeiten und es reicht hinten und vorne nicht. Inzwischen hatten wir auch schon Straßenkinder angesprochen, bei denen Vater und Mutter tranken. Sie kamen dann regelmäßig zu uns zum Essen, weil es zuhause nichts gab.

Heinz: Bei einem der Kinder, einem sechsjährigen Mädchen, stellte sich bei einer ärztlichen Untersuchung Syphilis heraus – die Mutter hatte das Kind verkauft für Alkohol und Drogen …

Wie war damals die Suchtsituation dort?

Heinz: Schlimmer als in Deutschland, es gab mehr Alkoholiker …

Martina: Unsere Alkoholkranken wurden ja sozial aufgefangen seit der Wende. Und so war das dort nicht.

 Gab es Therapien?

Heinz: Nicht so wie hier. In Mariupol gab es eine Psychiatrie, wo Abhängige entgiftet wurden. Der Doktor sagte: Ich entgifte sie, dann kommen sie wieder. Da ist keine Perspektive da. Als einige seiner Drehtürpatienten später aber nicht mehr kamen, weil sie inzwischen unsere Gruppenstunden und Gottesdienste besuchten, wusste er, dass wir ihnen mit dem Glauben ein Fundament anbieten. Diese Chance sollen alle bekommen, sagte er – und so begann unsere Arbeit in der Klinik.

Aber was genau haben Sie nun gemacht?

Martina: Einfach das Leben geteilt. Zum Beispiel zu jedem Besuch in der Klinik einen großen Berg Butterbrote mitgebracht …

Butterbrote?

Martina: Ja, anders als bei uns mussten Kranke von ihren Verwandten mit Essen versorgt werden – aber diese wollten von den Trinkern ja nichts mehr wissen. Also hatten sie immer Hunger. Wir haben ihnen Bibeln gebracht, mit ihnen gesungen, Andachten gehalten oder einfach nur mit ihnen geredet. Sie sind dann in unsere Gottesdienste, zu Blaukreuzstunden gekommen, wieder gegangen, manche sind geblieben oder irgendwann wiedergekommen. Eine Sache über Jahre. Die, die „frei“ geworden sind, haben sich dann auch mit eingebracht und wieder etwas aufgebaut. Oder sind in eine Art Rehazentrum, kleine Häuser mit vier bis fünf Zimmern, pro Zimmer fünf Menschen. Da wird zusammen gelebt, gebetet, mit Garten und Vieh das Leben gemeinsam bestritten. Und wir waren zu Hausbesuchen unterwegs, wenn wir Hinweise bekommen haben, wer Hilfe braucht, haben eine Kleiderkammer aufgemacht, jeden Montag im Obdachlosenasyl Suppe ausgeteilt, später auch ein Hospiz gegründet …

Woher kam das Geld dafür?

Martina: Aus vielen Gemeinden und Kirchen, von vielen, vielen Freunden und Bekannten, die haben das alles mitgetragen, auch die Lebensmittel-, Kleider- und Möbelspenden, die Baumaterialien. Unmengen an humanitärer Hilfe in LKWs kamen an. Da sind wir sehr, sehr dankbar!

In welcher Sprache haben Sie sich ausgetauscht?

Martina: Ich habe jeden Tag mit Zetteln an der Wand acht neue Worte Russisch gelernt, mein Wortschatz wurde groß, nur reden konnte ich damit nicht. Die Dolmetscherin meines Mannes, er brauchte sie für die Behördengänge, sagte: Du musst einfach reden! Und je mehr ich mit den Menschen sprach, verstanden sie mich besser. Den Heinz haben seine Männer auch so verstanden, in seiner Gestik, Mimik, der Art des Umgangs – sie wussten genau, er wollte ihnen nur Gutes. Wir haben einfach Liebe ausgeteilt. Der Mantel der Liebe passt jedem – da brauchts nicht viele Worte.

Und wie ging Ihre Arbeit mit den Alkoholikerkindern, die zum Essen kamen, weiter?

Heinz: Im ärmsten Gebiet von Mariupol haben wir den Bau eines Kinderhauses organisiert …

Martina: … und was da passiert ist an den Kindern, kann man sich nicht vorstellen. Regelmäßiges Duschen, Hausaufgabenhilfe, Wäsche waschen, Spiele, zwei Mahlzeiten am Tag, sie waren ja immer hungrig, weil sich die suchtkranken Eltern nicht um sie kümmern konnten. Unsere Bedingung war, wenn sie in die Schule gehen, dürfen sie nachmittags in die Betreuung kommen, also sind sie in die Schule gegangen … wurden gute Schüler, fingen an, ihr Leben anders zu leben als die Eltern. Die Kinder haben dann ihre Eltern zu uns eingeladen, so sind wir an die Eltern gekommen – und so haben auch viele von ihnen dann ein neues Leben beginnen können. Als unser Sohn verunglückte, das war eine sehr harte Zeit, aber Gott hatte seinen Plan. Denn wie viele Kinder hätten keinen guten Weg gehabt, wie viele Mütter und Väter, wenn der Herrgottt Andreas nicht genommen hätte. Ich wäre sonst ja nicht dorthin gegangen. Und jetzt sind das alles meine Kinder …

Zum Beispiel Tanja

Eines Winters bat ein Mädchen aus dem Kinderheim darum, ihre Mutter suchen zu helfen, sie könnte sonst draußen erfrieren, alkohol- und drogensüchtig. Heinz und Martina machen sich mit Helfern auf den Weg durch die Stadt. Gefunden wurde sie in einem Krankenhaus, auf 33 kg ausgemergelt, an Aids erkrankt im letzten Stadium, der Arzt gab ihr nur noch wenige Monate … Sie wollte Nitzsches unbedingt sprechen, von denen sie zuvor gelesen hatte. „Ich muss mich bekehren“. Sie legte ihre Lebensbeichte ab, entschlossen, ab jetzt Gott zu leben. Später, aus dem Krankenhaus entlassen, wollte niemand die Obdachlose aufnehmen, aus Angst vor Ansteckung. Also nahmen Nitzsches sie in ihre eigene Enge mit auf, die Stube bekam eben ein Bett. Denn jemanden, der ein neues Leben angefangen hat, wollten sie nicht auf die Straße zurückschicken. Und heute? Sie lebt! Und zwar glücklich und fröhlich in Deutschland. Trocken und clean. „Und so hatten wir viele, viele Menschenschicksale, die wir mitbegleiten durften … ja, einfach durchs Leben teilen“, erinnert sich Martina.

Der Krieg

Das Dach des Hospizes ist heute zerbombt. Das Obdachlosenheim auch. Einiges steht noch, darunter die Gottesdiensthalle. Aber niemand ist mehr da, der sie nutzen könnte. Die meisten Mitarbeiter und Freunde sind geflohen. Viele in die Westukraine oder nach Deutschland – einige auch über große Umwege wie Schützling Dima, erzählt Martina. Er wurde in Mariupol in einem russischen Zug nach Kasachstan in ein Lager geschafft, entkam aber über Georgien bis nach Fulda. In die Sicherheit. Wenn er noch in seinem alten Leben gesteckt hätte, hätte er das nie geschafft, meint Heinz. Dima habe ein Fundament. Den Glauben. Wie viele der Geflüchteten, die bis hierher nach Linstow oder Kuchelmiß in die offenen Arme der Nitzsches fanden.

Während Martina die Mittagsteller spült und Heinz es sich mit seinen 78 im Sessel etwas bequemer macht, sind sie wie oft in Gedanken bei denen, die nicht hier sein können. Bekommt der eine überhaupt noch sein Insulin? Haben alle zu essen und zu trinken? Ein befreundetes Ehepaar meldet sich schon lange nicht mehr, niemand weiß etwas … Nitzsches telefonieren viel. Es soll kaum Trinkwasser geben, wenige und dann sehr teure Lebensmittel und nur mit einem russischen Pass zu erhalten, dafür täglich russische Propagandafilme per Bildschirmen auf Autos. Versuchte Gehirnwäsche. Und bei der 9. Mai-Kundgebung zwar jubelnde Mariupoler im russischen TV, aber mit Kalaschnikows im Rücken.

Heinz und Martina sind jedenfalls der Meinung, ihre Ukrainer werden sich niemals ergeben. Sie wollen nicht in die Knechtschaft zurück, nachdem sie das Leben in Freiheit kennengelernt haben, weiß Martina. Selbst die Russischstämmigen seien jetzt ukrainisch denkend. Ein Freund habe am Telefon gesagt: „Ich gehe keinen Schritt zurück. Wir verteidigen die Ukraine bis aufs Letzte.“

Auch und erst recht in großen Krisen wie dieser hilft ihnen und ihren Schützlingen der Glaube. „Ich darf immer wissen, er hält mich. Ich fühle mich getragen wie ein Kind,“ lächelt Martina.

Ob Kartoffelkäfer also oder Krieg. Ob Tod des Sohnes oder Errettung von Süchtigen – mit allem verfolge Gott einen Zweck, einen bestimmten Plan. Manchmal verstehe man ihn erst später und zweistimmig sind sich Nitzsches sicher: „Gott macht keine Fehler.“

Anja Wilhelm

Übrigens waren Martina und Heinz Nitzsche auch in Mecklenburg als Suchthelfer tätig: Sie haben vor über 50 Jahren die Suchthilfeeinrichtung der Diakonie in Serrahn aufgebaut (heute eine Reha-Klinik). Auf einem alten Pfarrhof, mit einer besonderen Therapiemethode. Dazu in der nächsten Ausgabe der TrokkenPresse mehr …

TrokkenPresse 3/22: Klaus – Alles ist möglich, wenn …

Serie: Trocken bleiben – aber wie?

Alles ist möglich, wenn man an sich glaubt

Seit unserer ersten Ausgabe 2019 stellen wir Menschen vor, die seit einiger Zeit trocken leben. Wir wollen wissen, wie sie das erreicht haben, jeden Tag aufs Neue, bis daraus Monate und Jahre wurden. Ihre Erfahrungen können vielleicht dem einen oder anderen Betroffenen auch hilfreich sein. Heute erzählt uns unser Leser Klaus-Dieter Wehmeier, wie er trocken wurde und blieb …

Als ich am 17.07.1986 zur Entgiftung ging, war nicht klar, welch spannender, aufregender und steiniger Weg vor mir lag.

Alkohol, Medikamente und Drogen hatten mein bisheriges Leben bestimmt. Hiermit sollte es zu Ende sein. Ich wollte mein Leben wieder in die eigene Hand nehmen. Aber wie, das war die Frage.
Ich liebte es, Pläne zu machen und traf mit einem Stapel Papieren, meinem Konzept, bei der Entgiftung ein.
Als ich am nächsten Tag erwachte, hatte der Entzug eingesetzt und mein Konzept war dahin. Die Realität meines Handelns, meines Missbrauchs hatte mich eingeholt.

Nach Beendigung der 3-wöchigen Entgiftung ging es dann zur Therapie nach Bad Tönisstein und mein Weg in ein nüchternes Leben begann.
In Bad Tönisstein beschäftigten mich viele Fragen, von denen ich einige aufzählen werde: Da ich ein bequemer Mensch war, beschäftigte mich die Frage, wie ich im weiteren Leben an mir arbeiten solle. Dieses erschien mir zu anstrengend. Meine Therapeutin antwortete mir, ich solle mir mein Leben als Glaskugel vorstellen. Diese Glaskugel müsse ich am Laufen halten. Dieses gelänge mir nicht, indem ich auf sie einschlüge. Meine Aufgabe bestünde lediglich darin, die Glaskugel am Laufen zu halten. Also keine Schwerstarbeit. Ich war erleichtert.
Zu Beginn der Therapie drückte mir meine Therapeutin Conny ein Buch in die Hand. Der Titel „Die Realitätstherapie“ von William Glasser. Glasser schreibt über die Grundbedürfnisse des Menschen und welche Dinge für ein zufriedenes Leben notwendig sind.
Meine Vorstellung von Grundbedürfnissen war eine völlig andere. Mir waren Dinge wichtig, welche Glasser als Luxus bezeichnete und ich war gezwungen, über mein bisheriges Weltbild, über Zufriedenheit und Notwendigkeiten, nachzudenken.
Der Sozialarbeiter bremste mich aus: Ich war schon während der Therapie mit der Zeit nach der Therapie beschäftigt. Wollte mich lieber mit Dingen beschäftigen, auf die ich noch keinen Einfluss hatte, um mich nicht mit meiner momentanen Situation auseinandersetzen zu müssen …
Immer wieder wurde ich mit meiner Realität konfrontiert, wurde mir aufgezeigt, wo meine Probleme lagen und ich begann, mich dieser Realität zu stellen.

Die tatsächliche Arbeit an mir begann allerdings erst, als ich nach 12 Wochen Bad Tönisstein verließ und wieder in meine gewohnte, noch immer konsumierende Umgebung zurückkam.

LichtBlick

In Tönisstein hatte ich erfahren, wie wichtig der Besuch einer Selbsthilfegruppe ist. Also machte ich mich auf die Suche nach einer für mich passenden Gruppe: In Bad Tönisstein wurde die Therapie nach den Regeln der AA (Anonyme Alkoholiker) durchgeführt, also versuchte ich es mit einer AA-Gruppe. Ich konnte aber mit den Erzählungen der „Gruppenfürsten“ nichts anfangen, die stetigen Wiederholungen ihrer Geschichten nervten mich.
Dann besuchte ich über Jahre eine Gruppe des deutschen Guttempler-Ordens. Gründete mit anderen Besuchern den LichtBlick, welcher sich Jahr 1995 aus dem Guttemplern-Orden verabschiedete und sich als e.V. selbstständig machte.
In den Jahren der Gruppenbesuche lernte ich mich, im Spiegel der anderen Gruppenbesucher, immer besser kennen. Ich erkannte meine Fehler und Schwächen, aber auch meine Stärken. Ich begann mich selbst zu achten und lernte mich als Gesamtpersönlichkeit zu akzeptieren. C. G. Jung schrieb sinngemäß: Erst wenn ich meine dunkle Seite akzeptiert habe, bin ich als Person ganz.

Ich lernte also meine Fehler und Schwächen kennen und akzeptierte diese.
Ich lernte meine Krankheit „Alkoholismus“ als Teil meiner Persönlichkeit zu akzeptieren. Ich söhnte mich mit dieser vermeintlichen Schwäche aus.

Heute beginne ich jede Gruppenstunde mit den Worten: Mein Name ist Klaus. Ich bin alkohol-, medikamenten- und drogenabhängig und damit einverstanden.
Ja, ich bin mit meiner Krankheit einverstanden. Mir fehlen weder der Alkohol noch irgendwelche anderen Drogen. Ich fühle mich befreit und habe das Gefühl, endlich im Rahmen meiner Möglichkeiten entscheiden zu können.
Hierbei hilft mir, dass ich kurz nach Beendigung der Therapie meine Ehefrau Ellen kennenlernte. Ellen brachte einen Sohn mit in die Beziehung und zwei Jahren später bekamen wir unsere Tochter Naima.
Innerhalb unserer Beziehung, unserer Ehe, lernte ich, Verantwortung zu übernehmen. Dieses war mir zu Zeiten meines Konsums nicht möglich und schreckte mich ab. Im Rückblick sehe ich, dass ich an dieser Verantwortung gewachsen bin.
Ich habe gelernt, mich und mein Lustprinzip nicht mehr so wichtig zu nehmen. Dieses hilft mir, entspannter mit mir und meinen Mitmenschen umzugehen.
Hohe, nicht erreichbare Maßstäbe sind in den Hintergrund getreten. Ich gehe liebevoller mit mir und meinen Mitmenschen um.

Meine Selbsthilfegruppe LichtBlick e.V. besuche ich auch nach 35 Jahren der Abstinenz immer noch wöchentlich. In den ersten Jahren war der LichtBlick mein Übungsfeld. Hier konnte ich wieder Vertrauen in mich und meine Mitmenschen fassen. Dieses Vertrauen war mir während der Jahre meiner Abhängigkeit verloren gegangen: Am Ende, kurz vor Beginn meiner Therapie, fühlte ich mich nicht mehr als Teil der menschlichen Gemeinschaft. Ich verachtete mich und meine Mitmenschen. Ich bin heute dankbar, die Verachtung überwunden zu haben, mich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen.

Ich übernahm Verantwortung

… für den LichtBlick e.V. und bin seit 1995 Vereinsvorsitzender.

Die AA sagen: „Gib es weiter“: Dieses tue ich heute. Mit großer Freude berichte ich anderen Gruppenbesuchern über meinen Weg. Ich weiß, dass ich für viele ein Vorbild bin, bilde mir hierauf aber nichts ein. Jeder steht auf einer anderen Stufe seines Weges und kann von den anderen lernen. Ich hatte das Glück, dass ich meinen Weg ohne Suchtmittel gradlinig gehen kann. Ich baute keine Rückfälle und lebe nun 35 abstinent. Hierbei helfen mir meine Gruppe, meine Familie und vieles mehr.
Was soll ich sagen, ich habe mich nicht vom Saulus zum Paulus gewandelt. Ich besitze noch immer meine Fehler und meine Schwächen. Ich habe allerdings gelernt, dass diese Schwächen meine Menschlichkeit ausmachen. Wie gesagt, ich bin milder geworden.
Die Erziehung unserer Kinder stellte eine wichtige Erfahrung für mich dar. Als Familienmann habe ich die beiden erzogen. Ich lernte hierbei, mich nicht immer im Vordergrund befinden zu müssen.
Erziehung bedeutet Selbsterziehung und das Vorleben der geforderten Werte. In meiner Ursprungsfamilie erlebte ich keine Stabilität, keine Liebe oder Geborgenheit. Ich war bemüht, die Fehler meiner Eltern nicht zu wiederholen. Das bedeutete Selbstdisziplin und Arbeit an mir.

All die geschilderten Dinge, und vieles mehr, lassen mich heute zufrieden nüchtern sein.

Ich bin dankbar, diesen Weg gehen zu dürfen …

… und bereue nichts. Dieser, mein Weg, hat mich zu dem Menschen werden lassen, der ich heute bin.
Mit dem heutigen Klaus bin ich einverstanden und ich liebe mich.

Im Jahr 1992 begann ich mich mit meiner Lese- und Rechtschreibschwäche zu beschäftigen.
Schon in Bad Tönisstein hatte ich damit zu kämpfen, meinen täglichen Tagesbericht abzuliefern. Lag ein Blatt Papier vor mir, brach mir der Schweiß aus und ich hörte die Worte meines Deutschlehrers: „Rechtschreiben, das lernt der Junge nie!“
Ich setzte mich hin und schrieb einen Lebensbericht. Ich sammelte Lebensberichte anderer Abhängiger und stellte diese zusammen. Schrieb ein Vorwort und fand im Fischer Taschenbuch Verlag einen Verlag, der dieses Buch veröffentlichte. Titel des Buches: „Trocken und clean, Süchtige berichten“.
Ich fand Freude am Schreiben und stellte fest, wie gut es für mich ist, meine Gedanken und Gefühle schriftlich festzuhalten. Seit dieser Zeit schreibe ich immer wieder kleine Artikel für Suchtzeitschriften. Reichte einen Artikel zu dem Projekt „Stationen Alkohol: Wege in die Sucht, Wege aus der Sucht“ im TrokkenPresse Verlag ein, welcher unter der Überschrift: „Auch das tiefste Elend bietet eine Chance“ in das Buch aufgenommen wurde.
In etwa zur selben Zeit arbeitete ich an einem Film-Projekt des Medienprojektes Wuppertal mit. Unter dem Titel „Pillenlos“ berichte ich 33 Minuten über meine Abhängigkeitserkrankung.

All diese Projekte nahmen mir das Schamgefühl und ich begriff, du bist mit deiner Krankheit nicht allein und was viel wichtiger war, es ist keine Schande, krank zu sein, es ist nur eine Schande, nichts gegen diese Krankheit zu unternehmen.

Für die letzten Jahre meines Lebens wünsche ich mir, Zeit mit meinen Lieben verbringen zu können. Meinen Enkel aufwachsen zu sehen und noch viele Jahre an diesem spannenden Leben nüchtern teilnehmen zu dürfen.

Mein Name ist Klaus, ich bin alkohol-, medikamenten- und drogenabhängig und damit einverstanden.

 

Titelthema 02/22: Burkhardt Blienert im Interview

Burkhard Blienert:

„Die Menschen trinken einfach zu viel und zu sorglos“

Der neu gewählte Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, Burkhard Blienert, ist nun seit über drei Monaten in seinem Amt. Die TrokkenPresse wollte wissen: Was hat er vor? Was wird sich ändern? Was sind seine Ziele? In einem aktuellen Interview gibt er Antworten und spricht über Prävention, Werbebeschränkungen, Alkoholsteuer, Cannabisfreigabe …

Herr Blienert, die erste suchtpolitische Handlung der neuen Bundesregierung war die Umbenennung Ihres Amtes von „ Drogenbeauftragter der Bundesregierung“ in „Beauftragter der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen“. Welche neuen Aufgaben gehen damit einher, welche alten Aufgaben bleiben bestehen?

Es ist mir wichtig, einen Neuanfang nicht nur im Titel, sondern insbesondere inhaltlich deutlich zu machen. Suchtkrankheiten als solche zu akzeptieren, Menschen zu helfen und zu schützen, anstatt sie zu bestrafen – all das ist mir wichtig. Meine Aufgabe verstehe ich insbesondere darin, mich um die Menschen, die Suchtprobleme haben, zu kümmern, auf der Basis des Koalitionsvertrages. Darin sind ja viele neue Ansätze: Von regulierter Cannabis-Freigabe über Werbe- und Sponsoringbeschränkungen bei Alkohol und Tabak. Somit ist nicht nur die Hülle, sondern auch viel Inhalt neu.

Die letzte Drogenbeauftragte mit SPD-Parteibuch war Sabine Bätzing-Lichtenthäler, von 2005 bis 2009. Mit ihren Forderungen z.B. nach Anhebung von Alkoholsteuern sowie der Absenkung Blutalkoholkonzentrationswerte im Straßenverkehr ist sie auch an der eigenen Partei gescheitert. Wie sehen Ihre alkoholpolitischen Pläne im Hochkonsumland Deutschland aus, was ist davon mit Ihrer Partei und den Koalitionspartnern umzusetzen?

Ich möchte eine neue Debatte anstoßen, gerade beim Thema Alkohol, und – das ist das Mindeste – das umsetzen, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Wenn wir uns die vergangenen Jahrzehnte bei der Alkoholprävention anschauen, haben wir zwar ein paar positive Entwicklungen, zum Beispiel bei dem Einstiegsalter, aber Deutschland ist nach wie vor ein Hochkonsumland. Wie haben also sowohl bei der Verhaltens- als auch bei der Verhältnisprävention immensen Nachholbedarf. Das muss auch so deutlich gesagt werden und daran müssen wir in den kommenden Jahren arbeiten. Fakt ist: Die Menschen trinken einfach zu viel und zu sorglos.

Wie u.a. die enorm hohen Zahlen von Krankenhauseinweisungen von Kindern und Jugendlichen mit Alkoholvergiftungen zeigen, funktioniert in Deutschland der Jugendschutz hinsichtlich Rauschgiften nicht. Welche Pläne hat die Bundesregierung, dies zu verbessern?

Indem wir die Prävention ausbauen. Und zwar angefangen von Lebenskompetenzprogrammen in der Kita bis zur Aufklärung und Prävention in den Schulen. Es gibt ja bereits gute Präventionsmaßnahmen, diese müssen aber den aktuellen Entwicklungen und Anforderungen angepasst werden. Auch ein Werbeverbot für Alkohol steht ja zur Debatte. Wir wissen, dass gerade Kinder und Jugendliche sehr auf Werbung, auch im Netz, reagieren. Auch hier müssen wir nachjustieren.

Damit einhergehend sind auch die „Rauschgift-Kollateralschäden“ bei Ungeborenen, Kindern und Jugendlichen sowie Partner*innen in suchtbelasteten Familien. Wird es, wie schon in anderen Ländern, Warnhinweise auf Alkoholika und anderen Drogen geben, die vor dem Gebrauch warnen?

Ich denke, dass es nicht reicht, Warnhinweise auf Flaschen zu drucken. Wir müssen die Menschen insgesamt noch viel direkter erreichen. Am besten durch persönlichen Kontakt, direkte Ansprache beispielsweise durch die Gynäkologen. Dafür braucht es ein funktionierendes, auch personell gut ausgestattetes Gesundheitswesen, was die Zeit und die Möglichkeit hat, am Ball zu bleiben. Die Pandemie hat uns extrem deutlich gemacht, wo wir in Deutschland zu schwach aufgestellt sind. Dazu gehört auch die Hilfe für Angehörige von suchtkranken Menschen und hier insbesondere deren Kindern. Diese Hilfsangebote gilt es zu stärken und in die Fläche bringen. Wir müssen die bürokratischen Hürden zu mindern, damit diese Hilfe schneller ankommt.“

In Deutschland werden die volkswirtschaftlichen Kosten des Alkoholgebrauchs, wissenschaftlich seriös, auf über 50 Milliarden Euro geschätzt. Dem stehen Steuereinnahmen von ca. 3 Milliarden gegenüber. Sind Schritte hin zum volkswirtschaftlich gerechteren Verursacherprinzip in der Alkoholbesteuerung zu erwarten? Wird es mit der neuen Bundesregierung eine steuerliche Gleichstellung von Wein mit anderen Alkoholika geben oder wird dieses erst seit 1926 bestehende Privileg weiterbestehen? Wird es also eine einheitliche und schadensabhängige Alkoholsteuersystematik geben?

Diese Fragen kann ich Ihnen aktuell nicht im Detail beantworten. Einfach, weil wir am Anfang einer Legislaturperiode stehen, die uns allen aktuell unglaublich viel abverlangt. Lassen Sie es mich so formulieren: Ich bin grundsätzlich offen für eine Überprüfung der bisherigen Besteuerung, gerade weil Alkohol in Deutschland nach wie vor viel zu billig über den Ladentisch geht. Aber am Ende des Tages müssen wir dafür das federführende Finanzministerium unter der Führung von Christian Lindner überzeugen.

Jährlich werden tausende Verkehrsteilnehmer*innen durch alkoholisierte Verkehrsteilnehmer*innen getötet oder verletzt. Plant die Koalition die Wiedereinführung der Nullkommanull-Promille-Regelung bei Fahrzeugführenden?

Bisher haben wir Themen wie Sponsoring, Werbebeschränkungen und die Stärkung der Prävention für Kinder, Jugendliche und Schwangere im Fokus. Natürlich heißt das nicht, dass wir alles andere ausblenden, aber der Koalitionsvertrag ist unsere Leitlinie, und die gilt es abzuarbeiten. Schon da müssen wir dicke Bretterbohren.

Im Gegensatz zu Ihren Vorgängerinnen im Amt befürworten Sie eine sogenannte Legalisierung von Cannabis. Ist das Alkohol-Hochkonsumland Deutschland nicht schon mit den bisherigen legalen Giften, Nikotin und Alkohol, überfordert? Sollte bei diesen Giften nicht erst wirksame Maßnahmen umgesetzt werden, bevor sich die Gesellschaft mit einem weiteren Gift auseinandersetzen muss?

Ich würde das eine Suchtmittel nicht gegen das andere ausspielen wollen. Wichtig ist bei allem doch in erster Linie: Wie stärke ich die Gesundheits- und Lebenskompetenz der Menschen, damit sie keinen problematischen oder pathologischen Konsum betreiben? Wie mache ich Kinder fit, auf ihren Körper und ihre Gesundheit zu achten, selbstbewusst und stark aufzuwachsen? Wie lerne ich auch als Erwachsener, auf meinen Körper zu hören und ihn zu schützen, auf mich und meine Mitmenschen acht zu geben? All diese Fragen stehen für mich am Anfang der Debatte.

Wäre es nicht konsequenter, wie im EU-Land Portugal, alle Drogen freizugeben? Wo liegt die logische, medizinische oder sozialwissenschaftliche Grenze zwischen Cannabis und z.B. LSD oder Kokain? Die Gründe für eine Cannabis-Legalisierung, Entkriminalisierung der Nutzer, Austrocknung des Schwarzmarktes, Steuereinnahmen usw. gelten genauso für andere „illegale“ Drogen.

In Portugal sind sowohl Heroin als auch Kokain und Cannabis nach wie vor illegal. Nur wird der Besitz kleiner Mengen dort anders geahndet als bei uns. Wir haben einen klaren Rahmen für diese Legislatur aufgestellt. Als Ziel haben wir die regulierte Freigabe von Cannabis an Erwachsene definiert und nicht die Freigabe aller Drogen. Cannabis ist keine tödliche Droge wie Heroin oder Kokain, das muss man schon differenzieren. Es macht also in vielerlei Hinsicht Sinn, diesen Schritt zu gehen.

Wird es wieder einen substantiellen Sucht- und Drogenbericht wie bis 2019 geben oder wird der Bericht über Ihre Tätigkeit auch, wie 2020 und 2021, in einem kleinen bunten Heft erscheinen?

Lassen Sie es mich so formulieren: Mit meinem Amtsantritt ändert sich nicht nur die Hülle, sondern auch der Inhalt. Woran mir gelegen ist, ist Transparenz. Ich möchte, dass die vielen Daten und Zahlen, die wir erheben lassen, in Zukunft nicht nur einem kleinen Kreis von Fachleuten zur Verfügung stehen, sondern allen, die sich an der Debatte über die richtige Drogen- und Suchtpolitik beteiligen wollen. Und die sprechen ja für sich, gerade auch, wenn es um Alkohol geht.

Herzlichen Dank, Herr Blienert!

Die Fragen stellte Torsten Hübler

Titelthema 6/20: Wie Reittherapie auch Suchtkranken helfen kann

Wie Reittherapie auch Suchtkranken helfen kann:

Manchmal macht schon das Streicheln glücklich …

Sie erfüllt sich gerade einen Traum: Rebecca Böde, Mitarbeiterin eines Berliner Bezirksamtes, bringt Menschen und Pferde heilsam zusammen. Menschen mit psychischen Problemen und ihr Therapiepferd Snowy. Sie ist, neben ihrem Hauptberuf, inzwischen auch Reittherapeutin, Heilpraktikerin, Pferdekundlerin – und betriebliche Suchtberaterin. Da sie künftig auch suchtkranken Menschen mit ihrem Pferd helfen will, meldete sie sich Ende des Sommers bei uns. Sie möchte gerne drei TrokkenPresse-LeserInnen eine Erstberatung spendieren. Natürlich mit Snowy, ihrem Therapiepferd, gemeinsam. Das war ein Grund für uns, sie einmal zu besuchen …

Liebe Rebecca, es war ein wundervoller Ausflug zu Dir auf den „Pferdehof Müller“ bei Nauen! Den Großstadtlärm von Millionen Autos und Menschen noch in Ohr und Gemüt – dann plötzlicher Frieden inmitten der Felder und Bäume. Aaaah! Reine Luft. Nur Hühnergackern. Blätterwispern. Pferdeschnauben. Quer über den weiten Acker stapfen bis hin zur Sommerweide, Snowy zurück zum Hof führen. Striegeln, streicheln, fühlen. Weiche Pferdelippen und warmer Atem neugierig an meiner Hand. Anlehnen an das große, starke, warme Tier. Mein Herz geht auf. Es gibt nur das Jetzt, jedes „Muss-noch-dies“ und „Soll-ja-das“ ist verschwunden aus meinem Kopf. Es liegt wohl nicht nur AUF dem Rücken der Pferde, das Glück dieser Erde … Nähe reicht auch schon. Die Reittherapie, die Rebecca Böde anbietet, könnte auch einfach Pferdetherapie heißen. Denn es geht ihr gar nicht darum, dass ein Klient unbedingt hinauf muss in den Sattel. Mit dem Tier zusammen zu sein in der Natur genüge manchem schon, sagt sie. Deshalb bekommt jeder Mensch, der bei ihr Hilfe sucht, ganz individuell genau das, was er gerade braucht. Ihr Motto: „Ängste, Probleme und psychische Erkrankungen aller Art sind nicht in Stein gemeißelt. Das Gehirn ist fähig, neue und gesunde Strukturen zu entwickeln.“ Wie das mit einem Tier gelingen kann? Dazu später im Interview mehr.

Wie bist Du als Nichtabhängige zum Thema Sucht gekommen?

Mein Vater war Alkoholiker. Er hat sein halbes Leben lang viel getrunken, ist irgendwann in der Klinik gelandet, auch mit Korsakow-Symptomen und Diabetes. Er konnte nicht mehr selbst für sich sorgen, starb vor drei Jahren. Ich hatte zwar seit der Scheidung meiner Eltern fast keinen Kontakt mehr, aber ich habe mich oft gefragt, warum konnte ihm keiner helfen? Denn manche Menschen schaffen es ja, machen eine Entwöhnung, finden wieder Perspektiven für ihr Leben. Die Frage hat mich immer begleitet.

Nun bist Du kollegiale Suchtberaterin, was heißt das?

Ich arbeite im Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf. Kollegen, die Suchtprobleme haben, kommen zu mir und fragen um Rat: ich kann so nicht mehr weitermachen, was kann ich machen … Ich hatte mich dafür beworben und eine einjährige Ausbildung am Institut für betriebliche Suchtprävention gemacht.

Wenn ich als Suchtkranke heute eine Therapie bei Dir beginnen würde …

Wir würden ein Erstgespräch führen. Klären, was möchtest du erreichen, was versprichst du dir von der Reittherapie? Geht es für dich mehr ums Streicheln, Liebhaben, Pflegen, um eine schöne Zeit in der Natur, mit dem Pferd? Oder geht’s dir nur ums Reiten, willst du nur aufs Pferd rauf, willst du nur von oben die Welt erkunden? Oder möchtest du dein Selbstbewusstsein stärken und Snowy durch einen Parcours führen, das nennt man Bodenarbeit. Man kann lernen, durch Gassen zu gehen, eine Führposition zu übernehmen und das Pferd folgt einem. Oder magst du geführtes Reiten im Schritt und von oben einfach genießen? Vielleicht hast du Reiterfahrung, du könntest den Snowy selbst reiten, auf der Reitbahn durch kleine Parcours … so würde ich erstmal rangehen und dann gucken, wie man in den nächsten Stunden Bedürfnisse und Kompetenzen weiter ausbaut.

Ich muss als Klient also noch nicht reiten können?

Bei mir musst du nichts können, nicht reiten, nicht die Zügel festhalten, du darfst einfach nur genießen. Obendrauf sitzen, dich führen lassen. Du kannst dich natürlich ranarbeiten: Ich möchte jetzt selbst ein bisschen die Führung übernehmen. Mich weiterentwickeln mit dem Pferd bis dahin, dass ich selbst reiten oder führen kann. Ich achte schon sehr genau drauf, ob meine Klienten überfordert damit sind oder ver/erschreckt, dann kann man darauf eingehen und einen Schritt zurückgehen. Und ich sage meinen Menschen da oben immer, dass sie auch sagen können, wie es ihnen damit geht.

Apropos „oben“: Wie „sicher“ ist Dein Therapiepferd für Unerfahrene?

Snowy ist ein ruhiger, ausgeglichener Trabermix, Traber haben ein großes Herz, auch im übertragenen Sinne. Er ist ein sehr soziales Tier, vielleicht auch, weil er als Fohlen fast verhungert wäre, wenn Herr Müller ihn nicht hierhergeholt und aufgepäppelt hätte. In der Herde, als Rangmittlerer, nimmt er sich eher anderer an, als jemanden wegzubeißen. Auch allen anderen Tieren hier begegnet er freundlich, den Hühnern, den Hunden, dem Ganter. Ich habe ihn zum Beispiel auch an fremde Gegenstände gewöhnt, an große Bälle, Plastikplanen auf Wegen und viele Schrecksituationen geübt. Snowy ist zwar noch jung, aber ich kann mich zu 100 Prozent auf ihn verlassen. Er passt auf den Reiter auf, der auf ihm sitzt.

Wie kann Deine Therapie süchtigen Menschen helfen?

Suchtkranke, die trocken sind, eine Entgiftung hinter sich haben, sitzen vielleicht nun Zuhause, in der Wohnung und fragen sich, was sie jetzt mit der ganzen Zeit anfangen wollen, mit dem Leben. Vielleicht  fange ich ja doch wieder an zu trinken, weil alles so sinnlos ist? Sich bewegen, in der Natur zu sein und gerade das Zusammensein mit Tieren setzt ganz viele positive Gefühle frei, die derjenige braucht, der sich innerlich leer fühlt oder Saufdruck hat. Ein Tier lenkt ab, die Nähe, das Streicheln senken den Cholesterinspiegel, den Blutdruck, den Herzschlag, und zwar bei beiden, beim Pferd und bei demjenigen, der es zum Beispiel putzt. Und man kann vielleicht auch seine Zukunft klarer sehen: Ok, es gibt also nicht nur meine vier Wände, den Alkohol, die Selbsthilfegruppe – ich muss vielleicht auch wieder was für mich tun und kann in der Natur neue Ressourcen für mich finden, Freude, ich fühl mich da wohl … Das Pferd kann lehren, eigene Bedürfnisse wieder wahrzunehmen, eigene Gefühle, das Reiten kann helfen, die eigene Stärke, den Selbstwert wieder zu entdecken.

Du arbeitest momentan viel mit Kindern. Weshalb kommen sie zu Dir und Snowy?

Bei Kindern soll meist das Sprechen gefördert werden oder der Gleichgewichtssinn geschult. Oder das soziale Verhalten, um überhaupt wieder eine Bindung eingehen zu können zu einem verlässlichen Partner – zur Therapeutin, zum Pferd. Vieles geschieht nebenbei. Es ist so spielerisch, Pferde haben einen so hohen Aufforderungscharakter, dass die Kinder gar nicht merken, in welchen Bereichen sie gefordert werden, die Feinmotorik durchs Putzen zum Beispiel.

Was brauchen die erwachsenen Klienten?

Erwachsene kommen meist zu mir, weil sie Depressionen haben und die herkömmlichen Gesprächstherapien in irgendwelchen Büros sie gar nicht weitergebracht haben. Sie sagen immer: „Ja, er sagt mir, ich soll dieses und jenes machen, aber irgendwie ändert sich nichts für mich, ich habe immer noch Ängste, immer noch Depressionen.“ Da ist für mich schlüssiger: Geht raus in die Natur, macht was, setzt dem Gehirn neue Bilder, neue Eindrücke, geht in die Sonne, bewegt euch, kommt auf andere Gedanken, dann kommt der Rest vielleicht von ganz alleine. Oder: Denkt überhaupt mal gar nicht an Probleme. Wenn man hier und jetzt sein muss mit dem Pferd, gelingt das.

Viele wollen sich auch nur einfach mal Anlehnen ans Pferd. Oder wenn sie Berührungsängste mit Menschen haben, können sie sich mit dem Pferd langsam rantasten. Manche bleiben einfach eine halbe Stunde beim Pferd, putzen es, schnuppern am Pferd, die riechen so wunderbar, spüren das warme Fell, genießen die Zeit mit so einem großen Tier, dem Therapiepartner.

Also eine andere Herangehensweise an Depressionen ?

Ich rate jedem, macht was draußen, fahrt Fahrrad, lernt Menschen kennen, setzt euch in die Sonne … bleibt nicht zuhause, auch wenn es schwerfällt, sich aufzuraffen. Holt euch positive Dinge ins Leben, die Spaß machen, probiert Dinge aus, macht einen Zeichenkurs, nehmt ein heißes Bad, kocht einen tollen Tee, Hauptsache, ihr bewegt euch, holt euch neue Eindrücke. Das trifft auch auf Suchtkranke zu.

Das Besondere an Deiner Therapie ist, dass sie heilpraktisch stattfindet, ganzheitlich?

Ja, ich nutze zum Beispiel die euthyme Therapie, in der man bewusst alle fünf Sinne benutzt. Statt nur in einem Zimmer zu sitzen und mit einem Therapeuten zu sprechen, spüren wir Wind und Sonne auf der Haut, nehmen Gerüche wahr, wie riecht eigentlich Heu, das Pferd, die Tanne neben mir, wir hören Vögel zwitschern, Pferde schnauben … Diese Freude kann man mit in den Alltag nehmen … oder in ein Schatzkästchen packen: Das holst du dir vielleicht mal raus, wenn es dir mal nicht so gut geht. Es ist eine Genuss-Therapie, bei der es einem schon von sich aus besser geht.

Man kann auch tolle Entspannungsübungen machen auf dem Pferderücken, durch Atmung Stress abbauen. Dieses Getragenwerden, diese Schaukelbewegung kann auffangen, nachsorgen, was man vielleicht all die Jahre vermisst hat in einer nicht so guten Kindheit.

Woher weißt Du, dass Deine Therapie etwas bewirkt?

Ich frage meine Klienten vorher, wie es ihnen geht auf einer Skala von 1 bis 10 und danach auch. In der Ausbildung hatten wir 50 Klienten aus psychotherapeutischen Einrichtungen, 90 Prozent ging es vorher 2, sie hatten einen schlechten Tag, waren traurig. Und nach der Therapie waren sie auf 8, auf 9. Sie haben sich immer auf die Reittherapie gefreut, da wollten immer alle hin.

Wie viel Therapie braucht man?

Ich biete einmal wöchentlich eine Stunde an. Etwa 5-10 Stunden sollte man ausprobieren, ob und bis eine Verbesserung stattfindet.

Die 65 Euro pro Stunde zahlen die Krankenkassen aber nicht?

Die gesetzlichen leider nicht. Private bezahlen es ab und an, wenn man nachweisen kann, dass man innerhalb von drei Monaten keine passende Psychotherapie gefunden hat. Manchmal gibt es auch Zusatzversicherungen für heilpraktische Behandlungen. Einige meiner Klientinnen haben bei Stiftungen um einen Zuschuss für eine Reittherapie gebeten. Stiftungen, die eventuell spenden würden, sind unter vielen anderen z.B. die Uwe–Seeler–Stiftung und die Deutsche Bank Stiftung. Der Bedürftige muss genau begründen, warum er dringend eine Reittherapie benötigt. Bei Kindern gibt es noch viel mehr Förderung …

Liebe Leserinnen und Leser, haben Sie Interesse an einer Erstberatung bei Rebecca Böde? Dann melden Sie sich bitte. Wir verlosen dann aus allen Teilnehmern drei GewinnerInnen.

Weitere Infos zur Reittherapie unter:

www.meinereittherapie.de

Titelthema 5-21: Gruppe ist meine Lebensversicherung

Serie: Trocken bleiben – aber wie?

„Gruppe – das ist meine Lebensversicherung“

Seit unserer ersten Ausgabe 2019 stellen wir Menschen vor, die seit einiger Zeit trocken leben. Wir wollen wissen, wie sie das erreicht haben, jeden Tag aufs Neue, bis daraus Monate und Jahre wurden. Ihre Erfahrungen können vielleicht dem einen oder anderen Betroffenen auch hilfreich sein.

Heute erzählt uns Björn Grube aus Leegebruch (Brandenburg) in einem Interview, wie er trocken wurde – und es bleiben konnte.

Wie bist Du vom Alkohol abhängig geworden?

Mit 20 fing es an: Feierabendbesprechungen mit Kollegen und einem Bier. Ein Jahr später saß ich länger dabei und hatte sogar noch Durst, wenn ich nach Hause kam. Später, auf Montage, gehörte Alkohol abends sowieso dazu. Ein Ritual. Da habe ich auch gemerkt, Alkohol hilft, wenn ich mal wütend bin, ich schlafe besser, es ist lustig und entspannend, mal nicht über die Probleme des Alltags nachdenken zu müssen. Daheim, wenn meine Frau abends schlafen gegangen war, habe ich einen Grund gesucht, noch sitzen zu bleiben, ja, ich komm gleich nach … bin zum Kühlschrank und habe ganz leise mit einem Handtuch den Sekt entkorkt. Irgendwann hat eine Flasche nicht mehr gereicht. Ich war voll drin, nur angekommen war das nicht bei mir. 2007 bin ich dann bei meiner ersten Frau ausgezogen, weil mir damals ihr Gejammer auf den Keks ging …

 Das „Gejammer“, weil Du so viel getrunken hast?

So ist es. Ich war Pegeltrinker, tagsüber ging ja nicht, abends musste das dann aber rein. In der kurzen Zeit so viel wie möglich, Druckbetankung. In den sieben Jahren, die ich nach der Trennung alleine lebte, trank im mich dann ganz nach unten. Ich konnte ja jeden Abend trinken, es war ja niemand da. Ich habe es selten bis ins Bett geschafft. Bis ich dann 2014 zusammengebrochen bin, richtig. Da habe ich erkannt, dass es so nicht mehr weitergeht.

 Zusammengebrochen?

Na, auf allen Vieren durch die Wohnung gekrochen, im Bett liegengeblieben, um das Geschäft zu verrichten, das hat mich alles gar nicht mehr interessiert …

Ich hatte gerade drei Wochen Urlaub und vor, mich mal richtig zu erholen – auch vom Alkohol. Aber die erste habe ich nur durchgetrunken von früh bis spät. Na, hast ja noch zwei Wochen. In der zweiten aber habe ich Angst bekommen. Und gewusst, dass das nichts mehr wird bis zum Urlaubsende. Ich bin zu meiner Hausärztin und habe ihr gesagt, wie es ist. Die hat mich krankgeschrieben und gemeint, „Wenn das nix bringt, dann kommen Sie nochmal wieder.“ Ich bin dann nach zwei Wochen wieder hin, und zwei Tage später war ich schon in der Entgiftung …

Aus freien Stücken, selbst entschieden?

Ja! Ich habe auf dem Weg zum Krankenhaus in der U-Bahn auf meinem großen Koffer gesessen und sogar geheult. Weil endlich etwas passiert! Das war ein richtiger Befreiungsschlag für mich!

Wie erging es dir nach der Entgiftung?

Ich kam nach neun Tagen nach Hause und es war glücklicherweise auch kein Alkohol mehr in der Wohnung. Die Reste hatte ich vorher ausgetrunken, das Leergut war entsorgt. Mir ging es ganz gut, weil ich ein Ziel hatte. Ich habe nur geduscht, mich umgezogen und bin dann am Schäfersee gleich in die Gruppe. Die hatte ich kennengelernt bei einem Ausgang während der Entgiftung. Und zwei Tage später, montags, bin ich zum AKB (Anonyme Alkoholikerhilfe Berlin, d.Red.), gleich Dienstag habe ich die 6-Wochen-Therapie dort angefangen.

 Hattest Du in der Zeit Suchtdruck?

Nein, gar nicht.

 Wäre es dann nicht auch ohne Therapie gegangen? Einfach nicht mehr trinken, entgiftet warst du ja?

Nein! Ich hatte ja Sorge, Bedenken. Denn ich wollte nicht mehr trinken. Der Oberarzt in der Klinik hatte zu mir gesagt, „Suchen Sie sich eine Gruppe, eine Therapie.“ Und ich habe aus dem Krankenhaus heraus schon einen Vorstellungstermin in einer Entwöhnungsklinik organisiert bekommen. Das hat mir ein bisschen Sicherheit gegeben. Und weil ich nicht wusste, wie lange es dauert bis dahin, kam mir der AKB gerade recht. Dass jetzt irgendwas passieren muss, war für mich beschlossene Sache.

 Wie hat Dir die AKB-Therapie geholfen?

Die Therapie wird ja ausschließlich von trockenen Alkoholikern geleitet, und da werden vom ersten Tag an die ganzen Aussagen wiederholt, wie ich sie auch in den Gruppen schon gehört hatte. Sechs Wochen lang 12 Stunden am Tag immer das Gleiche, wie bei einem kleinen Kind, dem das Einmaleins beigebracht wird.

 Was zum Beispiel?

Nein ist ein ganzer Satz.

Ich bin der wichtigste Mensch.

Geduld, Geduld, Geduld, die drei großen G’s.

Abgrenzen … den Begriff hab ich natürlich auch gehört, konnte aber noch nicht so viel damit anfangen wegen meines Helfersyndroms. Zu erkennen, wo meine Hilfe endet anderen gegenüber, um mir nicht zu schaden …ich habe aber im Laufe der Zeit gelernt, wenn mich jemand um Hilfe bittet, abzuschätzen, wie weit das gehen wird mit der Hilfe. Sag ich vorher besser nein oder lasse ich mich darauf ein. Ich bin ja inzwischen als Sucht-Lotse unterwegs, da ist das auch wichtig. Da telefoniere ich zum Beispiel nicht mehr hinterher. Ich bin da, die Menschen wissen das, und wenn sie Hilfe brauchen, sollen sie sich melden. Ich bin für niemand anderen das Kindermädchen, das habe ich ablegen können.

Inwiefern half dir das, nicht zu saufen?

Ich schaffe mir damit Freiräume im Kopf, habe weniger Druck. Ich muss mir den Druck ja nicht selber auferlegen. Druck von außen kann ich nicht immer beeinflussen, wenn ich einen Job habe, muss dies und jenes fertig werden, aber in meinem persönlichen Umfeld kann ich mir das aussuchen. Das hat lange gedauert, bis ich alleine zuhause sitzen konnte, meine Hilfe und Nase nicht überall reinstecken musste – das habe ich ja früher auch aus bestimmten Gründen gemacht …

Aus welchen Gründen?

Ich habe mir über andere Menschen mein Selbstwertgefühl geholt, über das Schulterklopfen der anderen. Sicher freue ich mich auch heute, wenn ich jemanden unterstützen kann und der sagt, haste gut gemacht. Aber das ist nicht mehr so ausgeprägt wie früher, ich brauch das nicht mehr so dringend.

Wo kommt denn dein Selbstwertgefühl heute her?

Ich sehe heute selber, was ich schaffe.

 Zum Beispiel?

Aktuell das mit dem Wohnungsumzug im Januar. Ich hatte vorher registriert, du kriegst jetzt nur noch Krankengeld, aha, reicht nicht für diese Miete. Tu was! Ich habe mich um eine neue Wohnung gekümmert, den Termin zum Renovieren für die Wohnungsübergabe eingehalten, mich um meine Kaution gekümmert, diese Dinge eben, und das sehe ich ja selbst. Mich braucht heute keiner mehr daran zu erinnern, guck mal, was du geschafft hast in deiner trockenen Zeit. Denn das weiß ich selbst, das ist angekommen bei mir.

Wie ist das so gekommen?

Durch lernen. Durch zuhören. Zuhören in den Gruppen. Im AKB in den Monologgruppen. Denn da musste ich sitzen und nur zuhören. Durch die Geschichten der anderen eben. Aus denen konnte ich für mich selbst raussuchen, wo ich mich wiederfinde, wie die Leute damit oder damit umgegangen sind. Da habe ich auch was für draußen mitgenommen, an den Arbeitsplatz zum Beispiel.

 Zuhören?

Ja. Ich hab ja zu vielen Dingen meine Meinung, ich muss sie aber nicht immer rausposaunen: Lass die doch reden, wenn du jetzt deinen Senf noch dazugibst, hast du eine Situation, die du gar nicht haben willst. Die nur anstrengend wird. Also lass es. Und irgendwann später kam dann dazu, meine Situation, die ich vertrete, auch in Worte zu fassen. Also ein Schritt nach dem anderen.

 Was hast Du außer Gruppenbesuchen und AKB noch gemacht, um trocken zu bleiben?

Früher habe ich ja nur gearbeitet, mich um andere gekümmert und konsumiert. Ich selbst bin auf der Strecke geblieben. Inzwischen habe ich gelernt, gut für mich zu sorgen. Das wichtigste ist, auch heute: Ich kann mich mit Sorgen oder Problemen in der Gruppe entlasten und bekomme dort Antworten – aber wenn ich sie dort nicht kriege, habe ich zum Beispiel immer noch Ärzte, die ich um Rat fragen kann. So bin ich 2018 in eine Tagesklinik gekommen. Es ging mir vorher überhaupt nicht gut. Meine zweite Ehefrau litt unter Depressionen und fing an, mich für alles verantwortlich zu machen. Das hatte mich runtergezogen. Ich konnte damit nicht umgehen. Ich bin fünf Mal die Woche in eine Gruppe gerannt. Aber die Gruppen haben mir nicht mehr gereicht. Ich habe mehr Hilfe gesucht. In einer Gruppe hatte ich was von einer psychosomatischen Tageklinik gehört, ich bin zu meiner Hausärztin, da will ich hin, und sie hat mir eine Einweisung geschrieben. Da habe ich für mich gemerkt, dass ich mich im Vorfeld erkundigen kann, was ich will, an die richtigen Stellen gehen und das kann zum Erfolg führen.

Selbstwirksamkeit erleben, wird das wohl genannt … Und was hat dir die Tagesklinik dann gebracht?

Dort habe ich dieses ganze Thema Psyche kennengelernt, die haben mir zu dem „Ich bin der wichtigste Mensch“ auch noch Werkzeuge mitgegeben. Und ich hatte dort mal Zeit, über mich selbst nachzudenken.

Als Deine auch alkoholabhängige Frau rückfällig wurde, wie ging es Dir damit?

Sie kam zur Entgiftung, aber es wurde nicht besser. Mit ihr und ihren zwei Kindern, die ich geliebt habe, dachte ich damals, hätte ich das gefunden, was ich immer gesucht hatte, eine Familie. Aber ich wusste, ich musste da raus. Ich war bereits co-abhängig, weiß ich heute. Ich bin dann noch einmal in die Tagesklinik, weil ich da gut aufgehoben war. Trinken war also wieder keine Option. Und dort konnte ich den Entschluss fassen, mir eine eigene Wohnung zu suchen. Dann bin ich in Brandenburg gelandet, ich hab mir gesagt, je weiter ich weg bin von diesem Umfeld, desto besser für mich.

Bestand nicht die Gefahr, dass Du wieder trinkst?

Nein. Ich kann mich erinnern, als meine Frau in der Entgiftung war, mal wieder, habe ich auf dem Balkon gesessen und geheult und wusste nicht, wohin mit mir. Aber schon wie automatisch griff ich zum Telefon, habe Freunde aus dem AKB angerufen und geredet. Die haste sowieso verloren, sagten sie, du weißt das doch, da kannst du nichts machen. Sie muss jetzt auch zu Ende trinken. Also, Flasche war zu keiner Zeit Thema. Sondern: Anrufen, reden … Das war schon so drin. Ich habe ja mit kleinen Sachen angefangen, mit dem alltäglichen Leben und da gelernt, dass das alles ohne Alkohol geht, hatte den Alltag ohne Alkohol schon geübt …Außerdem erinnere ich mich jederzeit an mein Schlüsselerlebnis. Auch so ein Rat aus dem AKB. Bei mir sind das meine drei Wochen vor der Entgiftung, die waren so lebensunwürdig!

Also wenn ein Problem auftaucht – bevor Du überhaupt an Alkohol denken könntest …

… Gruppe, reden. Ja. Gruppe ist meine Lebensversicherung. Ich gehe zur Zeit dreimal in der Woche, habe auch selbst eine gegründet. Jetzt habe ich zum Beispiel gerade das Thema mit meiner Arbeitsunfähigkeit, ich weiß nicht, was kommt … ich krieg meine Themen also dreimal die Woche ausgesprochen. Und durch Telefonate mit meinen besten, trockenen Freunden kann ich meine Dinge immer irgendwo erzählen und ich krieg was zurück. Ich habe mir ein gutes, soziales, nicht zu großes trockenes Umfeld geschaffen. Letztlich hat sich das ja von alleine ergeben durch die vielen Gruppenbesuche. Auch die Facebookgruppe „Alkoholiker – gemeinsam gegen die Sucht“ war und ist eine große Unterstützung für mich, da lese ich ja auch, wie Leute mit ihren Themen umgehen, wie das Leben so gehen kann, und auch da kann ich etwas zurückgeben, da habe ich Freude dran …

Wie kommst Du außerhalb des trockenen Umfeldes klar, zum Beispiel mit Feiern im Kollegenkreis?

Wenn ich kurzfristig weiß, ich werde mich in irgendeiner Gesellschaft nicht wohlfühlen, dann gehe ich gar nicht erst mit. Mir ist vollkommen egal, was andere denken. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es mir, wenn ich meins gemacht habe, immer besser ging. Ich habe keine Ahnung, ob mich mein gesunder Egoismus jemals vor etwas bewahrt hat. Ich war bisher jedenfalls immer gut gelaunt, wenn ich abends trocken im Bett lag. Und das soll so bleiben.

Was unterscheidet dich heute von dem Trinker von früher?

Ich gehe viel entspannter durchs Leben, habe so gut wie keine Ängste mehr, weil ich gelernt habe, dass es immer einen Weg gibt, für alles. Ich bin zufriedener, ruhiger geworden, ich kann mich mit Menschen austauschen auf eine ganz andere Art und Weise als früher, ich muss nicht mehr rechthaben… es ist so anstrengend, recht haben zu wollen. Ich kann mich so leiden, wie ich bin. Und ich habe viel, viel seltener ein schlechtes Gewissen, ob ich was richtig oder falsch mache, weil, falsch und richtig gibt’s nicht mehr für mich, das haben sie mir auch im AKB beigebracht: Was soll denn daran falsch sein, wenn du mal einen Fehler machst, du lernst doch daraus, wie soll es anders funktionieren? Ich achte mehr auf mich, es geht ja um mich. Und und und …Und ich gebe gerne weiter, was ich beim AKB und unterwegs auf meinem Weg gelernt habe, in meiner eigenen Gruppe, als Lotse oder bei Facebook. So habe ich ja auch gelernt. Auch das hält mich trocken. Und mein größter Wunsch heute ist: Ich möchte einmal trocken sterben, so wie mein Freund Ralf …

Das Gespräch führte Anja Wilhelm

Titelthema 3/21: Jason Sante – auf lebenslanger Lesereise gegen Alkoholmissbrauch

Jason Sante ist mit dem Wohnmobil unterwegs:

Auf lebenslanger Lesereise gegen Alkoholmissbrauch

Vor über einem Jahr haben sie ihre Wohnung in Bayern aufgelöst. Traudl und Jason, beide trockene Alkoholiker, zogen um: Nämlich in ihr Wohnmobil. Seitdem sind sie unterwegs. Und zwar auf einer „lebenslangen Lesereise gegen Alkoholmissbrauch“, wie Jason seine Mission beschreibt. Jason ist Autor mehrerer Krimis, aber auch der Trilogie „Alkohol ist ein Blender“. Daraus liest er in Suchthilfevereinen und Gruppen in ganz Deutschland. Naja, so war es jedenfalls geplant. Dann kam Corona dazwischen. Trotz aller Widrigkeiten hielt und hält er an seinem Plan fest – und hofft auf bessere Zeiten …

Wo lebt ihr gerade, jetzt im Mai?

Momentan auf einem Wohnmobilstellplatz in Neuöttingen/Oberbayern, wo ich herkomme. Einer der wenigen, der offen hat zur Zeit.

Weshalb muss es denn unbedingt ein Wohnmobil sein?

Ich hatte ja vorher auch schon viele Lesungen, da musste ich immer mit dem Zug hinfahren. Ich hatte viele Verspätungen, man konnte von der Stadt nix ansehen, weil man wieder zurückmusste. Ein Wohnmobil ist da super geeignet. Die letzten Lesungen hatten wir im Februar 2020 in Sonneberg in Thüringen und im Dezember 2019 in einer Mittelschule, da haben wir drei Tage hintereinander gelesen, ich kann ja problemlos überall hinkommen mit dem Wohnmobil.

Dann kamen die Lockdowns. Sind nun wieder Lesungen in Aussicht?

Es waren viele Lesungen geplant. Die sind aber alle, verständlicherweise, abgesagt worden wegen Corona. Ich hoffe, dass die Lesungsanfragen wieder kommen, wenn sich alles wieder lockert. Ich mache auch Online-Lesungen, aber die Diskussionsrunden nach realen Lesungen sind etwas ganz anderes.

Wovon lebt ihr jetzt, ohne Lesungen?

Traudl macht Markthandel, verkauft auf Jahrmärkten Spielsachen. Aber das findet ja gerade auch nicht statt. Jetzt haben wir nur die Einkünfte aus meinen Büchern, die in Buchhandlungen oder über Internet gekauft werden, das bekomme ich jeden Monat ausbezahlt. Das zweite, was uns gerettet hat: Seit November letzten Jahres bekomme ich eine kleine Teilerwerbsminderungsrente, weil ich nicht mehr so viele Stunden in meinen Berufen arbeiten kann als Kellner. Von dem leben wir momentan.

Das klingt nach sehr wenig.

Es ist sehr wenig. Normalerweise habe ich, meine Lesungen sind ja kostenlos bis auf das Benzingeld, meistens einen kleinen Büchertisch und danach werden ein paar Bücher gekauft. Oder ich bin in Fußgängerzonen, mache einen Tisch, stelle da meine Bücher hin, so wie Musiker zum Beispiel ihre CDs verkaufen. Da kommen oft Diskussionen über Alkoholsucht, ich mache immer irgendwie auf das Thema aufmerksam und es entstehen ganz interessante Gespräche, aber das war alles weggefallen. Es reicht gerade so zum Überleben.

Es wird besser werden …

… ja, ich hoffe auch, dass die Märkte wieder öffnen. Im letzten Sommer war ja alles lockerer, wir waren in Brandenburg in Wandlitz, da war es schön, super Stellplatz und Märkte am Wochenende, wir haben ein bisschen Geld verdienen können. Oder am A10-Center, an den Wochenenden auf den Flohmärkten haben wir unsere Sachen verkaufen können, unter der Wochen konnten wir einen Campingplatz ansteuern können zum Wäsche waschen, ich hoffe, dass es bald wieder so wird …Wir müssen jetzt zwar jeden Cent umdrehen, aber wir sind trotzdem glücklich!

Glücklich – warum?

Weil wir uns haben! Und weil wir ein ganz anderes Leben jetzt haben, so richtig frei. Auch wenn wir gerade viel auf Stellplätzen stehen müssen, nicht so rumfahren können, das können aber andere auch gerade nicht. Weil wir trotzdem immer wieder die Plätze wechseln, immer wieder was Neues entdecken können. Man wird minimalistischer, naturverbundener, es ist total schön, so ein Nomadenleben.

Frei, sagst Du, wovon frei?

Von einer Wohnung zum Beispiel … in der Wohnung bist du immer am selben Ort, Freiheit ist, dass ich überall meine Bücher schreiben kann: Ich kann an einen See fahren, mich überall hinstellen, wo es uns gefällt. Wir können uns Städte anschauen auf Reisen und verdienen, wenn alles wieder normal ist, unser Geld auf Reisen, auf Märkten, ob es in Italien ist oder in Berlin oder Hamburg, wir können hinfahren, wohin wir wollen …vor kurzem waren wir in Leipzig zu einem Interview, das war auch schön.

In Deiner Trilogie beschreibst Du unter anderem Deine Suchtgeschichte, wie verlief sie?

Als Kind schon war ich nervös und ängstlich, teilweise habe ich dann als Jugendlicher nicht mal mehr einkaufen können, hab da Panik bekommen, ich habe nicht mehr Zug fahren können. Ich war ständig beim Arzt, hatte Herzrasen, Atemnot, war völlig verzweifelt. Und dann als 20-Jähriger war das immer noch so schlimm. Ich war oft krankgeschrieben, keiner konnte mir helfen, damals war die Medizin auch noch nicht soweit bei Angsterkrankungen. Irgendwann habe ich dann entdeckt, wenn ich Alkohol trinke, geht’s mir besser, ich kann wieder einkaufen, mit dem Bus oder der Bahn fahren … dann habe ich den Alkohol als Medizin missbraucht, täglich. Ich bin durch diese Angstzustände und den Alkohol als Medizin in die Sucht geraten, über viele Jahre war ich da drin gefangen. So zum Ende hin waren die Trinkmengen enorm, Schnaps und Wein, Bier gar nicht mehr. Bis zu einem körperlichen und seelischen Zusammenbruch. Über den Nervenzusammenbruch ist dann die erste Hilfe gekommen, bin ich das erste Mal aufgeklärt worden, dass es Entgiftungen gibt, dass es überhaupt Hilfe gibt, das habe ich damals noch gar nicht so gewusst. Nun bin ich trocken stabil seit 2014.

Du willst aufklären, Hilfe bieten, Mut machen … wie gelingt das?

Mir selbst hat damals ein Buch sehr geholfen, ich habe es immer wieder in den Entgiftungen gelesen, es war ein richtiges Mutmachbuch. Da hab ich mir gedacht, ich schreib ja eh Bücher, sowas möchte ich auch machen. Damit andere einfach sehen, Mensch, der hat es geschafft, der hat so gekämpft, hat so viele Rückfälle gehabt, hat aber nie aufgegeben – das schaffe ich doch auch!

Ich hab für jedes Thema, zum Beispiel Suchtmittel-Missbrauch, eigene Lesungen, ich lese nicht nur aus dem Buch, sondern habe zum Beispiel für Schulen einen jugendlich gestalteten Text. Auf Entgiftungsstationen dagegen geht’s mehr ums Mut machen, hey ihr seid aufm Superweg, bleibt dran, in meinem Buch schildere ich ja meinen Weg, wie ich reingekommen und wieder rausgekommen bin. Der dritte Band, den habe ich dann geschrieben, als ich drei Jahre trocken war, und gebe Sachen weiter, die mir persönlich geholfen haben, trocken zu bleiben.

Ich ermutige zum Beispiel auch, indem ich sage, dass für mich jede Entgiftung wie eine Weiterbildung war, dass ich da immer irgendwas dazugelernt habe, auch wenn ich das am Anfang gar nicht so gemerkt habe. Irgendwann bin ich dann da angekommen, wo ich so stabil war, dass ich auf Therapie wollte, und davon erzähle ich auch. Was da alles behandelt wird, da geht’s auch um die ganzen Sachen rundrum, manche haben ein Trauma, manche Angstzustände, manche Panikattacken – das wird ja alles mitbehandelt, was auf reinen Entgiftungen nicht so ist. Zum Ermutigen gehört auch: Sucht euch eine Therapie, sucht euch eine Selbsthilfegruppe, befasst euch mit eurer Krankheit, setzt euch damit auseinander, ich spreche den Leser dann auch direkt an.

Ich bin jetzt kein professioneller Suchthelfer, ich würde mich nie auf diese Stufe stellen. Aber bei den Lesungen ist meistens ein Suchthelfer dabei. Wenn dann Fragen kommen, bei denen ich sagen muss, ich bin nicht qualifiziert für, find ich das immer ganz toll, wenn ein Suchtprofi da ist, der dann mit antwortet, das ist auch für die Leute ganz toll. Ich kann ja nur Fragen aus Sicht eines Betroffenen beantworten.

Wie kommst Du klar, wenn die Camper neben Dir Alkohol trinken?

Nicht zu trinken ist für mich wirklich von Jahr zu Jahr leichter geworden. Aber es war immer mal wieder schwierig, auch am Anfang jetzt auf den Stellplätzen, die Camper sitzen draußen und machen ne Flasche Wein auf. Das hat mir aber nur kurz zu denken gegeben, hat sich schnell gelegt, ich habe gemerkt, wie stabil ich bin. Die meisten trinken ja normal, werden kein Alkoholproblem haben, aber am andern Tag kriegt man mit, wenn so einige früh rauskommen, dass sie einen Kopf haben. Dann denke ich so, bin ich froh, dass ich das nicht mehr habe. Bei uns war es ja noch viel schlimmer, in der Früh dann schon schaun, wie man den Alkohol drinnen behält … ich muss nicht mehr fühlen, was die jetzt fühlen, dieses Verkaterte, das ist kein Leben, du lebst nur noch für das Zeug, alles dreht sich nur noch um das Zeug, das Entsorgen der Flaschen, ums Besorgen, schlimm, das will ich nie mehr erleben.

Ist das Dein neuer Lebensinhalt, etwas zu tun gegen Alkoholmissbrauch?

Ganz klar: ja. Als ich dieses Buch geschrieben hab, wusste ich nicht, was dann passiert: Diese ganzen Reaktionen der Leser, diese Leserbriefe, ich habe so oft Gänsehaut bekommen. Da haben wir gedacht, das hat einfach so sein müssen, dass ich mein Leben lang über dieses Thema reden und versuchen werde, anderen Mut zuzusprechen. Ich möchte mich natürlich nicht in Therapien einmischen, da bin ich nicht befugt dazu, aber einfach zusätzlich Mut machen, den Therapiealltag durch eine Lesung auflockern, Jugendliche in den Schulen aufklären … was ich da alles erlebt hab, einige suchen das Gespräch dann nach der Lesung mit mir, interessieren sich total für das Thema. Es muss Alkoholiker geben, die auch öffentlich darüber reden, finde ich, die es sich zur Lebensaufgabe machen, dass dieses Thema nicht einschläft, weil es einfach so verharmlost wird, das ärgert mich immer. Anfangs sagen die Leute, der ist lustig, der ist trinkfest, aber sobald du dann abhängig wirst, biste bei der Gesellschaft unten durch, zeigen alle mit Finger auf dich, du bist dann der Alki. Ich möchte halt einfach, dass das Thema nie einschläft, niemals.

 

Anja Wilhelm

Info, Lesungsbuchung und Bücherkauf über:

www.jasonsante.beepworld.de/

 

 

Titelthema 6/21: Nathalie Stüben: Ohne Alkohol – die beste Entscheidung meines Lebens

Ohne Alkohol:

Die beste Entscheidung meines Lebens

Wie ergeht es eigentlich jenen Menschen, die alkoholabhängig sind, aber nicht im Suchthilfesystem ankommen? Wenn laut Statistik nur 15 Prozent der Betroffenen den Weg zu Suchtberatung, Entgiftung und Therapie finden … dann müssen Abertausende tagtäglich allein mit ihrer Sucht kämpfen! Viele von ihnen zum Beispiel, weil sie sich so sehr für ihre Abhängigkeit schämen. So wie einst die junge Nathalie Stüben. Heute ist sie fünf Jahre trocken. Wie sie dennoch allein trocken wurde, erzählt die Journalistin in ihrem Podcast „Ohne Alkohol mit Nathalie“. In ihren Programmen gibt sie ihre Erfahrungen und Strategien an Betroffene weiter. Nun ist ihr Buch „Ohne Alkohol: Die beste Entscheidung meines Lebens“ (s. S.XX) erschienen. Darin räumt sie mit den größten Irrtümern in Bezug auf Alkohol, Alkoholabhängigkeit und Abstinenz auf.

Du hast viele Jahre lang tageweise bis zum Absturz getrunken. Wie hast Du aufgehört?

Als alle Versuche, „normal“ zu trinken, kontrolliert zu trinken, nicht funktionierten, wurde mir klar, dass ich süchtig bin. Da habe ich mich so langsam dem Gedanken angenähert: Wenn ich überhaupt da rauskommen will, dann muss ich ganz aufhören. Ich habe ja bis zuletzt nicht jeden Tag getrunken, aber eben alle paar Tage bis zum Absturz. Und an einem dieser nächsten verkaterten Morgen war der Leidensdruck dann so groß, dass ich dachte: Jetzt ist es so weit. Jetzt musst Du springen, sonst gehst Du zugrunde. Von diesem Tag an habe ich mich dann Tag für Tag in dieses nüchterne Leben reingehangelt. Also es war nicht so „zack ich hör auf, und alles ist mega“. Nein, am Anfang hatte ich eine Scheißangst.

Wovor hattest Du Angst?

Ich wusste nicht, wie das gehen soll, ein Leben ohne Alkohol. Was mache ich zum Beispiel, wenn ich bei der Arbeit gelobt werde und mich belohnen will? Oder wenn ich abends nach Hause komme, in eine leere Wohnung und nichts trinken kann? Was mache ich dann bloß? Was machen Menschen dann? Einfach hinsetzen und lesen? Einen Film schauen? Das erschien mir absurd. Wie man mit solchen Situationen umgehen kann, habe ich mir dann Stück für Stück beigebracht und zusammengepuzzelt. Und ich muss auch sagen: Es war nicht nur schwierig. Es gleichzeitig auch von Beginn an eine Erleichterung, nicht mehr zu trinken. Weil ich wusste, ok, jetzt wird es anders. Ich hab zwar keine Ahnung, wie es wird, aber es ist nicht mehr das, was ich die letzten Jahre über hatte.

Hattest Du keine Entzugserscheinungen?

Nein, körperliche Entzugserscheinungen hatte ich keine, ich habe weder gezittert noch geschwitzt, noch war mir übel oder so. Aber ich hatte Cravings. Momente, in denen ich dachte: Ich scheiß jetzt auf alles und trink einfach wieder. Und auch Momente, in denen diese Suchtstimme sagte: Komm, jetzt haste so viele Tag geschafft, jetzt kannste mal wieder ein Glas…

Was hast Du gegen den Suchtdruck gemacht?

Ich habe mich in die Thematik eingearbeitet und Strategien ausprobiert, die mir bei meinen Recherchen begegnet sind. Zum Beispiel: Timer auf 20 Minuten stellen und mich ablenken mit Dingen, die andere Hirnbereiche aktivieren. Schubladensortieren zum Beispiel oder von 1800 in Dreierschritten runterzählen, rausgehen, wenn ich drinnen bin, nach Hause gehen, wenn ich unterwegs bin. Das waren so Tricks, die habe ich mir eingehämmert und immer wieder gemacht habe. Und als die immer wieder funktionierten, habe ich Vertrauen in meine Fähigkeiten gefasst, solche Situationen zu überstehen. Ich wusste mit der Zeit: Ich kann das und es geht immer vorbei.

Weshalb bist Du nicht einfach in eine Suchtberatungsstelle gegangen?

Zum einen, weil ich mich so geschämt habe. Und zum anderen, weil ich mich bis zuletzt gar nicht angesprochen gefühlt habe vom Suchthilfesystem. Ich hatte ja dieses Extrembild von einem Alkoholabhängigen im Kopf und dachte, für jene seien solche Angebote nicht für mich. Ist natürlich Unsinn, aber so habe ich damals empfunden. Außerdem hatte ich unheimliche Angst vor dem Begriff „Alkoholikerin“. Das klang für mich nach einem Leben zweiter Klasse. Nach gesellschaftlichem Todesurteil.

Du nennst Dich heute auch nicht mehr Alkoholikerin?

Nein, weil ich keine mehr bin. Medizinisch betrachtet war ich damals alkoholabhängig. Jeder Fachmann hätte das gemäß den ICD-Kriterien bei mir diagnostiziert. Aber heute erfülle ich eben kein einziges dieser Kriterien mehr. Ich bin geheilt. Ich bin gesund. Mir ist natürlich bewusst, dass das in der Szene eine Aussage ist, bei der manche die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Aber ich definiere meine Identität schon lange nicht mehr über mein Verhältnis zum Alkohol. Ich bezeichne mich ja auch nicht mehr als Raucherin, obwohl ich mal eineinhalb Schachteln pro Tag geraucht habe. Und trotzdem ist mir klar, dass ich mir nicht eben mal so eine Zigarette anstecken könnte. Heißt: Den Respekt vor der Sucht und vor dem, was da in meinem Hirn los war, den verliere ich nicht. Aber ich muss nicht ein Leben lang auf der Hut sein und kämpfen. Ich habe schlichtweg kein Bedürfnis mehr zu trinken.

Sind Dein Podcast und Dein 30-Tage-Programm für Betroffene wie Dich einst gedacht?

Mein Podcast richtet sich an alle, die ein Leben ohne Alkohol führen wollen. Meine Programme an jene, den durch den riesengroßen Graubereich zwischen Genusstrinken und körperlicher Abhängigkeit wabern. Es ist unter Fachleuten schon lange bekannt, dass die Suchthilfe diese Menschen kaum erreicht – und ich bin ja ein gutes Beispiel dafür. Meine Programme kann man online absolvieren, das erleichert den Einstieg und führt dazu, dass viele Menschen früher die Reißleine ziehen. Ich biete da also eine Ergänzung an, die hoffentlich dazu führt, dass wir Menschen früher helfen können. Ich kenne allerdings auch einige Teilnehmer, die mein Programm parallel zu anderen Angeboten nutzen, zum Beispiel nach oder während einer Langzeittherapie. Das funktioniert für viele auch gut. Das Programm begreift sich sowieso nicht als Gegenangebot, sondern als Zusatzangebot. Für manche reicht es. Andere kombinieren es. Und manchen reichen meine Podcastfolgen, um den Schalter umzulegen. Das ist superindividuell.

Was passiert in dem Programm?

Meine Teilnehmerinnen und Teilnehmer bekommen einen Mix aus Hintergrundwissen und konkreten Strategien, die sie sofort in ihrem Alltag anwenden können. Aufbereitet habe ich das in Videos, Audios, Texten und E-Mails. Außerdem bekommen sie noch ein Tagebuch, in dem sie einen Teil der Aufgaben direkt erledigen können. Teil des Programms ist auch eine eigenen Online-Gruppe, in der sich die Teilnehmenden austauschen können. Thematisch geht es am Anfang vor allem darum, wie es gelingen kann, nüchtern zu bleiben – also um Themen wie Cravings und Trigger zum Beispiel. Und später geht‘s eben auch darum, wie man dafür sorgen kann, dieses abstinente Leben als Gewinn zu betrachten. Wie man es schafft, seinen Blick zu korrigieren, auf sich selbst und auf die Welt. Denn man ist irgendwann ja so in dieser Weltuntergangsstimmung. Ich glaube, das ist ein großer Teil des Heilungsprozesses, wieder eine liebevolle Haltung zu bekommen, vor allem zu sich selbst. Und ein großer Schwerpunkt liegt darin, eine Lösungskompetenz zu entwickeln und wieder Vertrauen in seine Fähigkeiten zu fassen. Sodass man irgendwann klar erkennt: Ok, ich habe da die und die Baustelle, wie komme ich dahin, dass ich das lösen kann?

Ist Dein Programm auch für noch nasse körperlich Abhängige geeignet?

Nein! Es ersetzt natürlich keine medizinisch begleitete Entgiftung. Also für Menschen, die noch trinken und körperlich abhängig sind, sind meine Programme definitiv kein Einstieg in die Abstinenz.

Besteht nicht die Gefahr, dass ein schwer Betroffener denkt, statt Klinik versuche ich doch lieber erst mal das? Dass er den einfachen Weg geht?

Einen kalten Entzug halte ich nicht für den einfacheren Weg. Das kann der Horror sein – und im Extremfall sogar lebensgefährlich. Ich weise deshalb in meiner Arbeit auch immer wieder drauf hin – im Podcast, auf YouTube, auf meiner Website. Wer körperlich abhängig ist, gehört unter medizinische Aufsicht. Zumal ein Entzug mit medikamentöser Begleitung deutlich einfacher ist als ohne.

Wie hoch ist die Erfolgsquote Deines Programms?

Gute Frage. Ich habe es noch nicht wissenschaftlich ausgewertet. Mein Eindruck ist, dass es sehr erfolgreich ist. Ich bekomme täglich Dutzende von Rückmeldungen, in denen sich Menschen bei mir für das Programm bedanken, weil es funktioniert hat. Dennoch würde ich’s gern mal auswerten. Wobei ich mich dann auch frage: Was heißt Erfolg? Heißt es, ich fang an mit dem Programm und trinke von Tag 1 an nichts mehr? Heißt es, dass es mir beim dritten Mal gelingt? Ich kenne zum Beispiel eine Teilnehmerin, die hat über ein Jahr lang immer wieder mit Tag 1 angefangen. Erst dann hat es „klick“ gemacht. Nun ist sie seit über acht Monaten nüchtern. Dann gibt es zum Beispiel Leute, die haben das Programm gemacht und bemerkt: Ok, ich kriege das so in meinem Alltag einfach nicht hin. Dann haben sie sich für stationäre Reha entschieden und mir geschrieben: Danke, ohne Dein Programm hätte ich das noch ewig hinausgezögert. So etwas werte ich auch als Erfolg. Also ja, ich habe den Eindruck, das Programm hilft sehr vielen Menschen dabei, nüchtern zu werden. Allerdings ist mir auch klar, dass die, bei denen es nicht funktioniert, eher nicht diejenigen sind, die mir schreiben. Wo wir wieder beim Thema Scham wären.

Dein Programm kostet nicht wenig Geldböse Stimmen sagen, Du bereicherst Dich am Leid anderer …

Die Alkoholindustrie bereichert sich am Leid anderer. Ich verdiene mein Geld damit, dass ich Menschen dabei unterstütze, ihrer Sucht zu entkommen. Mittlerweile beschäftige ich zudem fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die mich dabei unterstützen – alles ehemalige Teilnehmer meiner Programme. Wir verdienen unseren Lebensunterhalt damit. Aber ja, mir ist klar, dass sich meine Programme nicht jeder leisten kann. Deshalb setzen wir uns dafür ein, die Programme oder Teile davon vollständig oder teilweise über die Krankenkasse abrechnen zu lassen. So etwas ist allerdings mit viel Aufwand verbunden – und dauert.

Meinst Du, es fehlt in heutigen Programmen und Therapien so etwas wie die freudige Aussicht aufs Nüchternsein? Oft wird ja eher vermittelt, dass Trockenbleiben Verzicht und Kampf bedeutet …

Ich persönlich konnte mich nicht damit anfreunden, ein Leben lang gegen Alkohol kämpfen zu sollen. Das hat mir Angst gemacht, mich eher davon abgehalten, nüchtern zu werden. Aber schlussendlich denke ich, das ist Geschmackssache. Mich haben diese positiven Ansätze von Menschen wie Marc Lewis oder Holly Whitaker halt total angesprochen. Zumal ich wirklich von Beginn an positive Dinge gesehen habe, und sei es nur der nächste Morgen, an dem ich nüchtern wachgeworden bin und diesen unfassbaren Stolz in mir hatte: Wie geil, schon wieder ein nüchterner Morgen, ich kann in diesen Tag starten und bin nicht verkatert, brauche mich nicht zu schämen, zu hassen. Das geht mir übrigens bis heute so: Ich feiere noch immer jeden einzelnen Morgen und denk mir, ist das geil, dass ich so leben kann. Aber zurück zum Thema: Schlussendlich denke ich, das eine ist nicht besser als das andere. Verschiedene Menschen springen eben auf verschiedene Dinge an. Und für mich hat es halt am besten funktioniert, mich wieder und wieder auf die positiven Aspekte zu konzentrieren und meine Nüchternheit zu feiern.

Du bist Deinen ganz eigenen Weg gegangen aus der Trinkerei. Braucht jeder seinen eigenen Weg?

Hm, zumindest möchte ich dazu ermutigen, dass man – wenn man merkt, dass der eine Weg nichts für einen ist –, dass man dann schaut, was gibt’s denn noch. Also ruhig mal irgendwo anfangen und gucken, wie es funktioniert. Wenn Du auf die die AA-Gruppe um die Ecke stößt, dann geh doch da mal hin und schau’s Dir an. Vielleicht sind das genau die Menschen, die Du brauchst, um nüchtern zu werden. Und wenn nicht, dann schau, was es noch gibt. Man muss jedenfalls nicht jahrelang einen Weg gehen, der offensichtlich nichts für einen ist. Wenn etwas nicht funktioniert, hilft die Frage: Was kann ich anders machen?

Du sagst, Deine Abstinenz war der Schlüssel zu Dir selbst. Was meinst Du damit?

Als ich nüchtern geworden bin, habe ich einen Zugang zu mir bekommen, wie ich ihn in all den Jahren mit Alkohol nie hatte. Dieser Nebel breitet sich nicht nur im Kopf aus, er legt sich ja übers komplette Leben. Als der sich dann lichtete, sah ich Dinge, die ich jahrelang nicht sah. Und sah dann eben auch recht schnell, dass da vieles gar nicht stimmt. Mein Selbstbild zum Beispiel, ich wollte immer jemand sein, der ich überhaupt nicht war: Ich sah mich damals als Jetsetterin, die mit ihrem supertollen, erfolgreichen Alphatiermann in schicken Clubs abhängt und Champagner schlürft. Das bin ich aber halt eigentlich so gar nicht. Ich hasse Clubs. Alphatiere finde ich nicht attraktiv und ein Jetsetleben auch nicht. Überhaupt nicht! Ich lebe heute mit meinem superlieben Mann zusammen, der sich um unsere Kinder kümmert und mit dem ich abends mit Leggings und dicken Wollsocken auf der Couch liege und … lese (lacht) – und das geil finde. Ich bin voll die Spießerin. Und ohne Alkohol konnte ich das nicht nur erkennen, sondern auch lernen, dass das ok ist. Nüchtern konnte ich endlich sehen, welche Bedürfnisse ich wirklich habe. Außerdem habe ich dadurch, wie ich mir beigebracht habe, nüchtern zu leben, eine Art Lebenskompetenz erhalten. Ich habe mittlerweile Selbstvertrauen in meine Fähigkeit, Probleme zu lösen und weiß, wenn eine Schwierigkeit auf mich zukommt, dass ich es irgendwie schaffe. Ich kann mir selbst vertrauen und ich mag mich. Das ist unglaublich schön.

Buch, Podcast, Programm: Warum machst Du das alles?

Ich möchte mit meiner Arbeit einen Bewusstseinswandel herbeiführen. Zum einen möchte ich dafür sensibilisieren, dass Alkoholprobleme viel früher anfangen, als wir es gemeinhin denken. Damit Betroffene früher die Reißleine ziehen und nicht erst, wenn sie so tief drinstecken wie ich oder noch tiefer. Vor allem aber möchte ich ein Bewusstsein dafür schaffen, dass ein nüchternes Leben ein Riesengewinn ist. Es ist tatsächlich so viel besser als das, was man hat, wenn man noch trinkt. Das ist mein allergrößtes Anliegen.

Das Gespräch führte Anja Wilhelm

Info: Programm, Blog und Podcast finden Sie unter www.oamn.jetzt

Titelthema 1/21: Robby Clemens – Laufen gegen die Sucht

Vor 23 Jahren beschloss Robby Clemens, trocken zu werden:

„Lauf, Robby, lauf!“

So feuerten ihn damals Nachbarn aus ihren Fenstern an, im kleinen Städtchen Hohenmölsen in Sachsen-Anhalt. Die ersten mühseligen Trainingsmeter mögen wohl damals an Forrest Gumps Anfänge erinnert haben … denn 200 Meter fühlten sich für Robby, den damals übergewichtigen, untrainierten Alkoholiker, wie ein Marathon an. Inzwischen hat er viele echte Marathons hinter sich. Er lief einmal um die Welt. Er lief vom Nordpol zum Südpol. Darüber berichtet er in seinen Büchern. Inzwischen arbeitet er als Motivationscoach, auch für Alkohol-und Drogensüchtige. Und: Seit seinen ersten 200 Metern trank er nie wieder Alkohol …

Mehr als 23 Jahre zurück: Wie wurden Sie alkoholabhängig?

Robby Clemens: Ich hatte damals eine große Firma, hatte mich schon zu DDR-Zeiten selbständig gemacht. Dann kam die Wende und jeder wollte plötzlich neue Heizungen, neue Bäder. Wir wurden einer der größten Arbeitgeber in der Region, alles lief wunderbar. Bis wir an diesen Baulöwen Schneider in Leipzig gerieten … er war ein Hauptauftraggeber, der konnte dann aber irgendwann nicht mehr zahlen. Wir verloren 2,2 Millionen D-Mark, als privat aufgestellte Firma verloren wir alles. Als auch das Haus meiner Eltern zwangsversteigert, ihr ganzes Vermögen eingezogen wurde, war mir klar: Ich hatte 40 Jahre harte Arbeit meiner Eltern vernichtet. Ich griff dann immer mehr zur Flasche. Zuerst Bierchen, dann Fusel. Später oft in einer Runde vor der Kaufhalle … Im Rausch habe ich diese Dramatik vergessen können, habe mich betäubt, denn jeder klare Gedanke schmerzte. Klar, am nächsten Morgen war das alles wieder da. Irgendwann konnte ich das alles überhaupt nicht mehr steuern. Ich nahm gar nicht mehr wahr, dass ich trinke. Da kamen Bekannte, „Meeensch, was säufste denn hier schon wieder rum“, und ich dachte, d i e sind besoffen und nicht ich. Ich hatte Wahrnehmungsstörungen durch das Trinken. Die waren mit ein Grund, warum ich zum Hausarzt ging.

Ihr Hausarzt hat Ihnen sogar Schellen verpasst, um Sie „wachzurütteln“, schreiben Sie im Buch?

Der Arzt kannte mich ja schon von klein auf … und irgendwie muss bei diesen Ohrfeigen etwas in meinem Gehirn passiert sein. Die müssen ausgelöst haben, dass ich begriff, wie sehr meine Familie unter meinem Trinken gelitten hat. In der Schule, wenn meine Kinder ein Problem hatten, gabs tatsächlich Lehrer, die gesagt haben, „Was wollt denn ihr, kümmert euch mal lieber um euren Vater, der liegt wieder stockbesoffen auf der Kreuzung rum.“ Ich bin heute froh, dass ich nie handgreiflich geworden bin, gegen niemand, gegen die Familie nicht, gegen Saufkumpels nicht, aber eben dieser Schmerz, den ich meiner Familie zugefügt habe mit der Betrunkenheit, ihre Scham, mit der sie leben mussten … Deshalb ist es auch so außergewöhnlich, dass ich mit meiner Familie heute noch komplett zusammenlebe, es ist bemerkenswert, dass sie immer zu mir gestanden haben, auch wenn es für sie am allerallerschwierigsten war. Ich kann da nur danke sagen!

Sie hatten sich dann entschieden, etwas gegen die Abhängigkeit zu tun, ein Kliniktermin stand schon fest – aber dann versuchten Sie es doch ganz anders?

Ein Kumpel erzählte mir von einem Buch eines süchtigen Menschen: „Der ist einfach losgelaufen, das ist doch viel einfacher als Klinik, du weißt ja, die Erfolgsaussichten sind ja nicht so groß, versuch doch das mit dem Laufen mal.“ Ich dachte, ja, klingt viel einfacher, hab mir Laufschuhe besorgt und bin los. Nüchtern, von da an habe ich keinen Tropfen mehr angerührt. Anfangs war ich schon nach einer halben Runde auf dem Sportplatz völlig am Ende. Aber von Tag zu Tag wurde es besser.

Wie hielt das Laufen vom Trinken ab?

Als ich loslief, fühlte ich plötzlich in mir: Du machst was ganz Tolles, du machst was Richtiges! Denn mit der Bewegung – natürlich noch nicht am Anfang – merkte ich, wie es mir immer besser ging. Schon diese ersten Schritte wirkten so befreiend auf mich und jeden Tag kam mehr Klarheit in mein Gehirn zurück. Als ich diese Entzugsschmerzen hatte, konnte ich mich natürlich auch mit dem Laufschmerz betäuben, und was konnte ich da rauskotzen, alles, was da drin war, das war auch so ein Punkt, nachdem ich gesucht habe in dieser Zeit. Die paar Kilometer, die ich da dann irgendwann zurückgelegt habe, reichten schon, um mich zu verausgaben, um am Straßenrand niederzusinken und mir die Seele leer zu kotzen, das war befreiend.

Ja und dann die Straße an sich, das Drumherum, völlig neue Wege zu gehen, das hat mich total beeindruckt. Bald verlor ich Kilos und konnte wieder klar denken, das war ja der absolute Wahnsinn – als wenn sich Nebelschleier vor dem Gesicht langsam lichten und du klare Sicht hast. Und dann habe ich versucht, immer aus der Freude heraus, mir Ziele zu setzen, heute 1 km schaffen, später 5 km, und als ich das dann jeweils schaffte, war die Freude so groß und die Befreiung so riesig, dass ich mir ein Leben ohne dieses Laufen gar nicht mehr vorstellen konnte und es auch heute nicht mehr kann.

Laufen hat auch eine Art berauschende Wirkung?

Ja, aber dieser Rausch hat eine andere Wirkung, der stählte mich, der machte mich glücklich, der ließ mich klar denken. Das ist gar nicht zu vergleichen mit dem Alkoholrausch, ein Unterschied wie Tag und Nacht.

Hatten Sie die geplante Therapie abgesagt, weil das Laufen so gut gewirkt hat?

Ja, ich hatte dann gar nicht wieder drüber nachgedacht mit dem Laufen. Das sind ja immer ganz, ganz kleine Schritte, die du da tust, für dich ist ja schon überhaupt ein Riesenerfolg, dass du eine Runde schaffst, die 400 m,– ich war in der Lage, das auch so zu werten, mich daraufhin auch aufbauen und immer wieder neue 400 m in Angriff nehmen zu können.

Laufen kann also das Trockenbleiben unterstützen – aber wenn nun jemand nicht joggen kann oder darf?

Ich schlage jedem die Bewegung vor, die er ausüben kann, schwimmen, Fahrrad fahren, Rollstuhl fahren, es kann langsames Gehen sein, in der Natur sein und gehen, da kann man sich ja auch Ziele setzen: Heute kann ich mal von Zuhause bis zum Bäcker gehen. Man darf die Ziele nur nicht so groß setzen, es sollten kleine Ziele sein. Und man sollte sich überhaupt auch schon über den ersten Schritt freuen, den man dann tut, den ersten Schwimmzug… Ich halte Bewegung für wichtig, gleich welcher Art sie ist, und wenn es Gewichtestemmen ist. Jeder muss für sich die Freude an einer Art Bewegung finden. Ich propagiere fürs Laufen, weil es die einfachste Art der Bewegung ist und preiswert. Was brauchst du dafür? Keine teure Mitgliedschaft in einem Golfklub oder Ausrüstung, sondern nur die Klamotten am Leib und Schuhe.

Ich glaube, laufen, Bewegung an sich, erhöht auch das Selbstbewusstsein, das bei vielen Alkoholkranken auf Null steht, oder?

Ja, man kann sich auf die Schulter klopfen! Auch, wenn andere sagen, ne Runde um den Block, das ist doch gar nix, nee, da muss man sogar für sich sagen: Für mich ist das ein Marathonlauf, wenn ich eine Runde laufe. Das ist ganz wichtig, man muss lernen, sich auch mal selber zu lieben und sich zu sagen: Das hab ich heute aber klasse gemacht, ich will das morgen unbedingt wieder machen. Auch wenn dein Umfeld dir andere Dinge erzählt, bleib da stark, das machst du nicht für andere Leute, du machst es erst mal nur für dich.

Was bringen Bewegung oder eben Laufen noch, wozu sollte man sich aufraffen vom Sofa?

Es bringt dich einfach in ein neues Leben. Der Weg des Alkoholikers raubt dir die Freuden des Lebens  und mit diesem Laufen bekommst du das wieder zurück – wenn du es verstehst, dich an kleinen Dingen zu erfreuen und mit einigen wenigen Schritten etwas ganz Großartiges für dich zu tun. Nur dieses Aufstehen, das musst du selber machen. Es gibt dieses bekannte Sprichwort, jedes Abenteuer, jedes Ziel beginnt mit einem kleinen ersten Schritt … deshalb ist es einfach wichtig, aufzustehn und diesen ersten Schritt zu machen.

Als Motivationscoach haben Sie auch mit alkohol-und drogenkranken Menschen zu tun. Wie motivieren Sie sie?

Da gibt es doch diese Worte von Antoine de Saint-Exupéry: Wenn Menschen auf einer einsamen Insel sind und sie wollen da wegkommen, dann gib ihnen keine Pläne in die Hand, sondern erzähle ihnen davon, wie schön es auf dem Meer ist. Das ist es vom Prinzip her das, was ich mache …

Laufen ist ja das eine, aber vom Nordpol zum Südpol zu laufen … Weshalb haben Sie das gemacht?

Weil ich es großartig finde, den Blick über den eigenen Gartenzaun hinaus richten zu können und Natur und Menschen kennenzulernen und ihre Geschichten zu hören, zu erleben, wie sie leben. Es riecht alles anders, schmeckt alles anders, alle Sinnesorgane nehmen völlig andere Dinge wahr als die, die du Zuhause hast, das bildet doch. Und das mit der einfachsten Fortbewegungsart zu machen, mit meinen Füßen, bedeutet Langsamkeit. Und die lässt dich alles viel intensiver wahrnehmen, als wenn du mit dem Auto unterwegs bist. Und es ist spannend: Welches Abenteuer erwartet dich hinter der Bergkuppe dort, welches hinter der nächsten Kurve, die du noch lange nicht einsehen kannst? Das kannst du nur so voll erleben, wenn du läufst.

Ihnen geht es also nicht so sehr um die Kilometerzahl …

Mich interessieren keine Kilometer. Meine Kilometer sind die Menschen, denen ich begegnen darf. Du kannst hinkommen, wohin du willst, du findest immer Leute, die dir helfen. Wenn du mal nichts zu essen hast, gibts Leute, die dir sogar von dem Wenigen, was sie selbst nur haben, abgeben. Gerade von diesen Menschen, über die viele denken würden, dass sie selbst über denen stehen, weil sie sehr arm sind oder krank, habe ich so unendlich viel Weisheit für das Leben erfahren. Solche Menschen haben mich auf meinen Reisen unendlich viel gelernt, vor allem Bescheidenheit, Dankbarkeit und Demut.

Das Interview führte Anja Wilhelm

 Info: Mehr Informationen, auch über die Bücher, finden Sie unter www.robbyclemens.de

 

Titelthema 4/20: Suppe statt Gruppe, Dock Nord

Im Corona-Lockdown: Eine Idee rettet das Dock Nord

„Suppe statt Gruppe“

Plötzlich keine Gruppetreffen mehr. Vereinsräume geschlossen. Kontaktsperre. Ohne zu wissen, ob und wann sich alles wieder normalisieren wird. Das traf damals im März natürlich auch die alkoholfreie Kontaktstelle „Dock Nord“ im Berliner Wedding. Kein „andocken“, kein „ankern“ im sicheren drogenfreien „Hafen“ mehr möglich. Normalerweise treffen sich Betroffene von 15 Uhr an dort, um Kaffee zu trinken, einen Imbiss zu nehmen, sich zu unterhalten. Und am Abend freie Gruppen oder Gruppen von Vereinen wie VAL, NA, AKB.
Nichts ging mehr. Was nun? Abwarten, bis alles vorbei ist? Abzuwarten hätte wahrscheinlich bedeutet, dass der Verein schließen muss. Diesen Verein für suchtfreies Leben Eigeninitiative e.V gründeten 1983 zwei Alkoholkranke, um Betroffenen eine Kneipenalternative zu schaffen. Einen Ort, an dem man sich wie in einem cleanen gemütlichen Wohnzimmer treffen und austauschen kann. DAS schließen? Nein, nicht mit Andrea Plath! Sie, Angehörige eines Alkoholikers, ist seit letztem Jahr Vorstandsmitglied und Kassenwartin des Dock Nord. Ihre neue Idee wurde zum Rettungsanker …

 

Weshalb waren die Corona-Beschränkungen so belastend fürs Dock Nord?
Andrea Plath: Das Problem waren vor allem Miete und Strom, die laufenden Kosten. Denn wenn der Geschäftsbetrieb ruht, das Essen, das Trinken, und die Nutzungsgebühr der Gruppen wegfallen … damit haben wir ja immer die 1000 Euro Monats-Miete bezahlt. Das war eine schlimme Zeit. Was tun? Müssen wir schließen? Aber die Menschen müssen doch weiterhin genesen können. Sie brauchen uns, die Gruppen, den Treff.

Woher kam Hilfe?
Eine Kaltmiete hat uns die Wohnungsverwaltung zum Glück erlassen. Und im Bürgerverein „Moabiter Ratschlag“ riet man uns dann, bei der IBB-Bank die Soforthilfe für kleine Unternehmen zu beantragen. Nach dem Antrag war gleich am nächsten Tag das Geld da. Miete und Strom waren nun vorerst damit abgesichert, aber wie sehen ja jetzt, es ist Juli und Corona noch lange nicht zu Ende. Was machen wir jetzt, fragten wir uns damals? Der Laden ist zu, aber wir müssen doch irgendwie noch etwas tun können …

Was war die Idee?
In der Landesstelle für Suchtfragen riet man uns, ein Catering aufzumachen, wir haben ja eine Küche.
Da hab ich zuerst gedacht: Wir sind doch ne Kontaktstelle, wir machen Selbsthilfe, wir wollen doch kein Essen verteilen! Naja, aber durch die Coronazeit waren ja nicht nur wir betroffen, viele mussten in Kurzarbeit gehen, waren zuhause mit wenig Geld. Der nächste Rat war: Schreib doch mal „Aktion Mensch“ an, die fördern Projekte, gerade in der Coronazeit sind Gelder zur Verfügung, vielleicht findest du da Ideen. So haben wir uns dann entschieden, dass wir nicht zu den Leuten hingehen mit dem Essen, sondern hier für die Leute kochen. Suppe statt Gruppe. Also habe ich acht Stunden lang einen Antrag ausgefüllt und nach drei Wochen kam wirklich ein Anruf von der zuständigen Bearbeiterin für unser Projekt: von Mai bis Ende des Jahres helfen wir Menschen in der Coronazeit mit einer täglich frischen Suppenmahlzeit. Nach einer Prüfung bekamen wir Gelder für einen neuen Herd und für die Personalkosten. 95 Prozent des Projekts werden gefördert, die 5 Prozent Eigenanteil erwirtschaften wir selbst. Der Koch, nun angestellt für 30 h, war vorher als MAE hier, zwei 450-Euro-Kräfte sind als Beiköchin und für die Ausgabe zuständig. Nachdem uns das Lebensmittelamt geprüft hatte, ging es Ende Mai los mit dem Außerhausverkauf an der Tür.

Wer sind die Kunden?
Wir haben viele Stammkunden aus den Häusern rundum, Omis kommen mit Rollator und ihrem Suppentopf an, Gäste der Kneipe an der Ecke, Pflegedienstmitarbeiter und Menschen, die sie betreuen. Und Betroffene, die sonst immer nachmittags hier waren. Etwa 60 Portionen brauchen wir inzwischen. Ein Essen kostet zwar 3 Euro, aber für Menschen in Hartz4 nur 2 Euro und wenn einer gerade gar kein Geld hat, weil er auf die Rente wartet, kriegt er sein Essen auch mal so.

Aus der Küche duftet es gerade himmlisch nach Kartoffelpuffern. Also gibt es inzwischen mehr als Suppe?
Ja. Dank der Aktion Mensch hatten wir gutes Wirtschaftsgeld und die Kunden baten uns, auch mal dies oder das zu kochen. Königsberger Klopse sind beliebt, Pellkartoffeln mit Leinöl/Kräuterquark, Putenspieße, Käse-Lauchsuppe ging gut, Nudelauflauf. Wir haben auch vegan, Eintopf z.B. mit oder ohne Fleisch. Umgetauscht hat noch keiner, gemeckert auch nicht. Wir kochen frische Hausmannskost.

Was läuft zurzeit noch im Dock Nord?
Mittlerweile sind einige Gruppen wieder da … Mit den nötigen Hygieneauflagen, Mundschutz, Abstand, Desinfektionsmittel, Kontaktdatenabgabe. Aber unsere normalen Öffnungszeiten, täglich 15-21 Uhr, sonntags bis 20 Uhr, müssen leider aufgrund der Einschränkungen noch warten.

Wie wird es weitergehen, wenn das Geld von Aktion Mensch verbraucht  ist?
Darüber denken wir gerade nach. Wir wollen ja auch, dass die Selbsthilfegruppen bei uns weiterexistieren können. Meine Erfahrung ist: Freiwillig klopft niemand an die Tür und sagt, wir haben hier Geld, wollt ihr was haben. Man muss etwas fordern, Anträge stellen. Das ist zwar viel, viel Schreibkram, aber lohnt sich wirklich! Vom Moabiter Ratschlag hatten wir letztes Jahr für Weihnachten und ein Skattournier je 100 Euro erhalten. Beim Berliner Kammergericht, wo man einen Antrag auf Gewährung einer Geldzuweisung aus Bußgeldern stellen kann, bekamen wir Geld für neue Kühlschränke und eine Waschmaschine. Jetzt brauchen wir zum Beispiel eine neue Webseite, einen PC. Mal sehen, ob wir wieder dabei sind. Auch mit den Selbsthilfegruppen, die von der AOK 600 Euro im Jahr bekommen können, habe ich Anträge ausgefüllt.
Ja, wie geht es weiter im nächsten Jahr, das bereitet schon Kopfzerbrechen. Wie weit ist Corona, wie sind die Lockerungen, die Öffnungszeiten, Versammlungen. Was wird mit Festen wie Tanz in den Mai, Sommerfest, dieses Jahr fiel alles aus.
Meine Idee ist gerade, das Samstagfrühstück wieder anzufangen, mit nur 15 Leuten, ohne Buffet, sondern mit fertig gepackten Tellern, um wieder die Kommunikation zu fördern, zu zeigen, wir sind da, ihr seid da, wir sind beieinander …

 

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