Titelthema 4-25: Wie kann ich mit Schuldgefühlen umgehen?  

Wie kann ich mit Schuldgefühlen umgehen?

Fast jeder alkoholkranke Mensch hat in der nassen Zeit Dinge getan oder versäumt, die heute, mit klarem Kopf, unverzeihbar erscheinen. Da ist das Kind, das man nicht so umsorgt hat, wie man es als Mutter hätte tun sollen, und das vielleicht heute selbst abhängig ist. Da ist die Promille-Autofahrt, durch die jemand zu Schaden kam. Da ist der Partner, den man psychisch verletzt hat. Da sind die KollegInnen, die viel zu oft wegen Krankmeldung einspringen mussten. Und vor allem: Da ist, dass ich überhaupt abhängig geworden bin … Das kann Schuldgefühle verursachen, die schwer auf der Seele lasten. Für immer? Wir wollen heute mit Winfried Lintzen, Suchttherapeut des PBAM e.V., klären, wie sie entstehen und wie man mit ihnen umgehen kann.

Was sind Schuldgefühle?
Ganz einfach gesagt: Sie entstehen, wenn ich so gehandelt habe, wie es nicht zu meinen Werten passt.

Sie entspringen also dem Gedanken, ich hätte dies oder jenes nicht tun dürfen laut meinen Vorstellungen?
Ja. Sie entstehen aus der Diskrepanz zwischen dem, was ich für andere sein will und dem, was ich tatsächlich getan habe. Die Fachleute nennen das kognitive Dissonanz. Da passt etwas überhaupt nicht zusammen. Und das kann auch schon entstehen, bevor etwas Schlimmes passiert ist: Viele, die mit mir reden, sagen zum Beispiel, dass sie Schuldgefühle haben, weil sie mit zwei Promille ein Auto gesteuert hatten und Gottweißwas hätte passieren können … dass es aber gar nicht zu ihnen passt, andere Verkehrsteilnehmer zu gefährden.

Was wir mittlerweile auch neuropsychologisch wissen, ist, dass diese Dissonanzen im Kopf Stress auslösen, ein richtig unangenehmes Gefühl. Und wie reagiert das Gehirn darauf? Es versucht, die Dissonanzen irgendwie wegzumachen.

Wie denn?
Teilweise auf redliche, teilweise auf unredliche Art und Weise.

Was ist damit gemeint?
Unredlich wäre zum Beispiel, wenn ich sage, ich bin eigentlich nicht schuld, der andere hat mich ja besoffen gemacht, nur deshalb bin ich mit Promille Auto gefahren. Oder unredlich ist auch, dass man lieber gar nicht dran denkt. Oder es bagatellisiert: „Ach komm, so schlimm ist das nicht. Die anderen fahren mit vier Promille noch Auto, ich hatte bloß drei …“ So machen wir uns Dissonanzen erträglich. Die redliche Art wäre eine Fehleranalyse, zum Beispiel zu sagen: „Wie konnte ich das bloß tun! Wie ist es erklärbar, dass jemand, der solche Werte hat wie ich, derart dagegen verstoßen konnte! Was muss ich jetzt in meinem Leben in Ordnung bringen, damit das nicht wieder passiert?“ – Ich nenne das, sich aus der Schuld eine Pflicht zu machen, eine Verpflichtung.

Eine Pflicht? Kann ich damit die Schuldgefühle auflösen?
Schuldgefühle auflösen? Nein, das geht nicht. Das ist auch nicht der Sinn von Schuldgefühlen. Der Sinn von Schuldgefühlen ist ja, dass ich daraus immer wieder Kraft beziehe, die Pflicht, die die Schuld mir auferlegt, zu erfüllen.

Ich verstehe das mit der Pflicht noch nicht. Ein Beispiel bitte …
Wenn eine Mutter zum Beispiel ihr Kind abends immer vor die Spielekonsole gesetzt hat, damit sie in Ruhe Wein trinken kann und dieses Kind heute spielsüchtig ist – wenn die Mutter darüber zerknirscht ist, zu was verpflichtet sie diese Schuld? Immer, wenn sie dieses Schuldgefühl spürt, hat das Gefühl nur dann einen Sinn, wenn sie sich sagt: „Diese Schuld habe ich auf mich geladen, das geht nicht weg, mein Kind ist heute spielsüchtig, was kann ich denn jetzt gutmachen, zu was verpflichtet mich meine Schuld?“ So ganz spontan als Idee: Die Mutter könnte mit dem Kind die ersten Schritte zu einer Therapie gehen, das wäre ein Anfang. Sie könnte dann selber in Therapie gehen, um herauszufinden, wie es soweit kommen konnte, dass sie ihr Kind vernachlässigt hat, und dann an sich arbeiten, dass sie in Zukunft für ihr Kind verlässlich da sein kann. Der Ansatz ist: Ich habe diese Sch… gebaut – was kann ich jetzt tun, um nach Möglichkeit viel wiedergutzumachen.

Beispiel betrunkener Autofahrer, verletztes Opfer: Da kann man doch nichts wiedergutmachen?
Das Wort ist in solchen Fällen irreführend, ja. Wenn jemand wegen mir eine Kopfverletzung hat und dadurch für den Rest seines Lebens regelmäßig wiederkehrende Kopfschmerzen, das kann ich nicht wiedergutmachen. Aber dann ist die Frage, zu was verpflichtet mich die Schuld.

Genügt dann die Verpflichtung, nie wieder unter Alkohol zu fahren?
Es kommt immer darauf an. In diesem Fall könnte die Verpflichtung z.B. noch sein, sich dafür zu engagieren, dass das Thema Trinken und Fahren noch besser in der Öffentlichkeit diskutiert wird. – Da gäbe es noch viel zu tun. Denn was für eine Saufkultur wir Deutschen haben, zeigt sich z .B. daran: Ausgerechnet in der Zeit, als hier alle Angst vor Terroristen hatten, hat das oberste Verwaltungsgericht es abgelehnt, die Promillegrenze, ab der jemand zur MPU muss, von 1,6 auf 1,1 Promille abzusenken, obwohl wir rund 300 Tote pro Jahr durch Alkohol um Straßenverkehr haben und wissenschaftlich erwiesen ist, dass schon ab einer Auffälligkeit im Straßenverkehr mit 1,1 Promille davon ausgegangen werden muss, dass keine verantwortliche Einstellung mehr zum Thema Trinken und Fahren besteht.

Machen Verpflichtungen die Schuldgefühle leichter? Wird es besser?
Wenn das jemand zu dir sagt: „Wer weiß, was für eine Last dein Kind durchs Leben schleppen muss, weil du getrunken hast“, dann kannst du entgegnen: „Ja, stimmt, da hast du recht. Ich habe da eine Schuld auf mich geladen. Aber dafür habe ich dann auch das und das gemacht. Das hätte ich nicht machen müssen, aber ich habe mich dazu verpflichtet.“ Wie fühlt sich das an?

Etwas leichter, klarer … stimmt. Aber ich hatte damit geliebäugelt, dass man Schuldgefühle doch auflösen kann. Wegzaubern.
Ich denke, es gibt den auflös- und nichtauflösbaren Teil. Schuldgefühle können manchmal übertrieben sein, weil man sich übertrieben verantwortlich fühlt für etwas. Da sind wir jetzt an dem Punkt, der weder von der Philosophie noch von der Wissenschaft verstanden wird. Das ist die Frage des freien Willens, der moralischen Verantwortung. Die einen sagen, es ist alles determiniert – dann hätte ich natürlich überhaupt keine Schuld. Denn wenn alles vorherbestimmt ist, kann ich auch nichts daran machen, wie ich handle. Die anderen sagen, wir haben einen freien Willen und die Verantwortung für das, was wir tun. Und nur daraus entspringen ja auch die Schuldgefühle.

Ich denke, dass ein gewisses Leiden unter den Schuldgefühlen tatsächlich auflösbar ist: Wenn sich jemand aus der Schuld eine Pflicht zieht, diese Pflicht erfüllt und trotzdem noch sehr leidet, dann ist meist eine Illusion die Ursache. Eine Illusion von seinen Ich-Kräften. Von dem, was einem Menschen möglich ist. Auch das kenne ich aus Gesprächen mit Betroffenen: „Jemand wie ich muss doch in der Lage sein, so eine Fehlentwicklung rechtzeitig zu erkennen und zu stoppen!“ Da sage ich dann immer: „Vielleicht haben Sie eine Illusion davon, was ein Mensch kann? Vielleicht wollen Sie ein Supermensch sein?“ Da wäre dann genauer in der Therapie zu schauen, welche Vorstellungen von der eigenen Selbstbestimmung es gibt, welche Selbstbewertung, und wie realistisch diese Bewertung ist. Wenn z. B. ein Mensch als Kind jahrelang vernachlässigt wurde und deshalb den Rest seines Lebens damit zu kämpfen hat, dass er heftige Gefühlsreaktionen hat, bei so einem Menschen wäre es unrealistisch, wenn er von sich verlangen würde, ohne Training seine Gefühle genauso gut regulieren zu können wie jemand, der es im Leben nicht so schwer hatte.

Eine grundsätzliche Frage: Wenn Alkoholismus eine Krankheit ist, bin ich denn dann überhaupt schuld an all den schrecklichen Dingen, die ich im Zusammenhang damit getan habe?
Ich denke, Alkoholismus ist gar keine Krankheit, sondern ein bösartiger Trainingseffekt. Alkoholabhängigkeit entsteht durch eine Fehlentwicklung. Man kann den Alkohol zu etwas gut brauchen und denkt: „Naja, ist nicht toll, wie ich trinke, aber irgendwie kriege ich das schon mit meinen Lebenswerten unter einen Hut.“ Natürlich funktioniert das immer weniger. Aber weil man immer mehr angewiesen ist auf den Alkohol, findet man immer mehr Rechtfertigungen, bis man irgendwann einsehen muss, dass man sich seit Jahren belügt.

Wir sind mitverantwortlich dafür, wie wir unsere Erfahrungen auswerten. Zum Beispiel, wenn jemand sagt, „Eigentlich weiß ich gar nicht, ob ich so abhängig bin, ich hatte jetzt ein halbes Jahr lang am Wochenende nur ein paar Bier getrunken. Vor drei Wochen war es doch mal ein bissel viel, da bin ich ausgerutscht und habe mir den Kopf aufgeschlagen, und das hätte auch weit schlimmer enden können. Trotzdem habe ich wieder getrunken. Ich dachte, ausrutschen kann man auch ohne Alkohol“ … Hier sehen wir, wie jemand Ereignisse so interpretiert, dass er weitertrinken kann. Er könnte ja auch sagen: „Das geht gar nicht, wenn ich einmal mit Alk ausgerutscht bin, dann ist für mich Schluss! Ich sehe doch, dass ich so trinke, dass das immer wieder passieren kann!“ Und wir sehen, welche Verantwortung wir bei einer Fehlentwicklung in unserem Leben haben. Doch es ist sehr menschlich, in eine Fehlentwicklung zu geraten, die so tückisch ist wie die Sucht. Jeder, dem das im Leben nicht passiert, muss erstmal beweisen, dass er unter vergleichbaren Bedingungen nicht auch beginnen würde, sich was vorzuflunkern, um weiter auf falschem Kurs zu bleiben.

Ich hatte aber nicht das Gefühl, noch entscheiden zu können, wie ich die Ereignisse interpretiere, an denen ich hätte ablesen können, in welchen Sog ich geraten bin, es war wie eine Fernsteuerung …
Dass du das sagst und deine Verantwortung für deine Abhängigkeitsentwicklung relativierst, das ist ganz, ganz wichtig. Deshalb haben Betroffene auch die richtige Intuition, sich in Selbsthilfegruppen zusammenzuschließen, weil es niemand anderen geben kann, der wirklich beurteilen kann, wie tückisch die Sucht ist und unter welchen Zwang sie einen stellt. Wie ferngesteuert sich das anfühlt, weiß nur jemand, der das selbst erlebt hat.

Wir werden auf die Frage hier keine Antwort finden. Deshalb ist es immer nur sinnvoll, dass jeder Mensch sich eine sinnvolle Antwort selbst gibt: „Mir ist das passiert, ich bin abhängig geworden, habe Sch… gebaut. Meine erste Konsequenz ist, dass ich abstinent lebe. Meine zweite, dass ich schaue, wie ich mir aus dem, was ich angerichtet habe, eine Verpflichtung auferlegen kann.“

Das wäre ein gutes Schlusswort. Aber nochmal zur Verpflichtung: Wie groß muss sie sein, wie schwer?
Ganz wichtig: Es gibt eine Pflicht zur Ökonomie der Pflichterfüllung! Zu denken, ich muss mich ganz toll engagieren, für die Alkoholabhängigen, für die Kinder, für was auch immer, das führt ganz schnell dazu, dass man keinen Bock mehr hat, weil es einen völlig überfordert. Und wenn es nicht dazu führt, führt es zum Burnout. Nein, egal was für einen Sch… jemand gebaut hat, wenn er sich seiner Schuld verpflichtet fühlt, hat das nur Sinn, wenn er die Verpflichtung so dosiert, dass er sie in sein Leben gut integrieren kann. Das Fundament darf nicht wackeln. Erst das Leben, dann die Pflicht.

Für das Gespräch bedankt sich: Anja Wilhelm

Die TrokkenPresse 5/25 erscheint …

Die Ausgabe 05/25 der TrokkenPresse erscheint ab 15. Oktober:

+++ Inhalt: trokkenpresse.de/aktuelle-trokkenpresse/titelinhalt/.

+++ Aktuelle Leseproben:

-ABC der Sucht: trokkenpresse.de/aktuelle-trokkenpresse/kolumne/,

-Stolz statt Scham: trokkenpresse.de/aktuelle-trokkenpresse/thema/,

-Hausdestille: trokkenpresse.de/aktuelle-trokkenpresse/erfahrungen/.

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TrokkenPresse 02-20

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TrokkenPresse 3-25: Eine Therapiegruppe nur für Frauen

Frau und Sucht heute, Teil 2:

Eine Therapiegruppe nur für Frauen

Weshalb immer mehr Frauen – in einem Jahrzehnt hat sich die Zahl verdoppelt – alkoholkrank werden, haben wir in der vergangenen Ausgabe dargestellt. Auch, dass da Unterschiede zu den Männern sind, zum Beispiel im Trinkverhalten, in den Trink“gründen“, stark abhängig von der Rolle der Frau in der Gesellschaft. Inzwischen gibt es deshalb bereits so einige Fachkliniken (s. S. XX) speziell für Frauen oder es werden reine Bezugsgruppen nur für Frauen angeboten. Wie zum Beispiel auch in der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Entwöhnungstherapie in Berlin. Suchttherapeutin Jutta Lammers im TrokkenPresse-Gespräch …

Wenn ich jetzt einen Therapieplatz für mich suchen würde … wann würden Sie mir Ihre Frauen-Bezugsgruppe empfehlen?

Wenn Sie mir erzählen, dass Sie in ihrem Leben Erfahrungen gemacht haben, die auf Gewalt oder Missbrauch hindeuten oder wenn ich es aus Vorbefunden entnehmen kann. Oder wenn im Vorgespräch deutlich ist, dass das Thema Gewalterfahrungen stark abgewehrt wird (Schweigen, „möchte nicht darüber reden“), weil diese Erfahrungen sehr schambesetzt sind. Mit Männern in einer Gruppe zu sein und dort über sich sprechen zu müssen, ist ja dann fast unmöglich. Obwohl es natürlich auch traumatisierte Männer gibt, die Gewalt und Missbrauch erlebt haben. Wir denken, dass sich Frauen untereinander besser öffnen können, wenn ähnliche Erfahrungen des Gefühls von Machtlosigkeit/Ohnmacht gemacht wurden. Das ist ja ein Therapieziel, zu sprechen und offen mit dem umzugehen, was einen bewegt. Es gibt auch Frauen, die sagen schon gleich von selbst, dass sie nicht mit Männern in eine Gruppe wollen, das muss man dann auch hören, ohne erstmal Genaueres zu wissen.

Was erwartet mich, was ist anders als in einer gemischtgeschlechtlichen Gruppe?

Das ist mannigfaltig. In psychotherapeutischen Gruppen geht es um das Sprechen, um das Sich-mitteilen. Und Frauen, unabhängig davon, ob Männer dabei sind oder nicht, haben oft erstmal Schwierigkeiten, sich untereinander zu öffnen. Es ist eine essenzielle Erfahrung, die diese Menschen gemacht haben – wie viele, die eine Suchterkrankung entwickelt haben –, dass man eben nicht vertrauen kann. Erst nach einer gewissen Zeit, wenn sich alle gesehen fühlen voneinander, entwickeln Betroffene Vertrauen um sich anderen gegenüber zu öffnen.

Woher kommt diese Erfahrung zum Beispiel?

Sie ist oft auf die Kindheit zurückzuführen, also zum Beispiel durch Mütter, die nicht sich gut gekümmert haben oder es nicht konnten … es ist so eine Generationsschleife, auch deren Mütter haben es oft nicht gutgehabt und konnten dann nicht entsprechend auf die Kinder eingehen. Väter, abwesende, suchtkranke, gewalttätige oder auch missbrauchende, sind nicht selten in den Biografien vorhanden. Und diese frühe Erfahrung setzt sich dann u. U. fort mit aktuellen Beziehungen. Viele Frauen, die Gewalt erlebt haben, haben dann in der Wiederholungsschleife Männer, die ihnen Gewalt antun. Ein stabiles Selbstwertgefühl konnte sich im Laufe der Entwicklung nicht ausbilden und offenbar entsteht das Narrativ: Ich habe es gar nicht anders verdient!

Was wir hier erreichen wollen, ist, dass das Vertrauen in die Gemeinschaft, in die Menschen langsam wieder aufgebaut wird, aber das ist nicht einfach in der Kürze der Rehabilitationszeit. Aber ein Anfang vielleicht.

Manchmal kann man sich ganz schön wundern, wie sehr Frauen untereinander in therapeutischen Gruppen ins Schweigen kommen. Das hat seine Gründe, psychotherapeutisch gesehen, aber es ist immer auf fehlendes Vertrauen zurückzuführen. Man kann dem Menschlichen nicht vertrauen. Der Flasche oder anderen Suchtmitteln ja, sie sind jederzeit verfügbar, immer zur Stelle. Das reale Leben mit realen Menschen als sicher und wertvoll zu erfahren, braucht seine Zeit.

Welche Themen haben Frauen noch gemeinsam?

So einige, meistens jene, die sie ähnlich durchlebt haben. Oft sind es traumatische Erlebnisse aus der erinnerten Kindheit und Jugend. Ein häufiges Thema – aber das ist in anderen gemischten Gruppen auch nicht anders – ist all jenes, was Betroffene durch die Suchterkrankung verloren haben, Beziehungen, Arbeit, Wohnraum … bei Frauen aber ganz besonders ihre Kinder, die u. U. in Pflegefamilien gegeben wurden oder dass Kinder Beeinträchtigungen aufweisen, weil die Mutter vielleicht in der Schwangerschaft konsumiert hat. Wir haben hier oft Mütter, die häufig mit den Jugendämtern in Kontakte standen. Und viele Frauen sind durch Trennungen alleinerziehend oder „stecken“ immer noch in unheilvollen Beziehungen, wo der Partner noch konsumiert. Ein Wichtiges Thema ist häufig Selbstunsicherheit – auch in Bezug auf Weiblichkeit und Sexualität. Essstörungen und Konsumstörung sind nicht selten Themen, die gemeinsam sind, jedoch lieber im Einzelgespräch angesprochen werden.

Sind auch Schuldgefühle gegenüber den Kindern ein gemeinsames Thema?

Ja, das ist ein Riesenthema. Viele fühlen sich schuldig, sich nicht gut genug gekümmert zu haben, weil die Sucht wichtiger war. Das ist für die Mütter selbst ganz unverständlich: „Ich liebe meine Kinder doch, warum konsumiere ich trotzdem?“ Diese Verzweiflung darüber ist sehr spürbar! Aber an uns liegt es, immer wieder zu vermitteln, dass es eine chronische Erkrankung ist, die wieder mal durchbrechen kann, aber dass es möglich ist, schon vorher die Notbremse zu ziehen. Auf die inneren Signale zu achten lernt man bereits in den ersten Wochen der Rehabilitation. Rückfallpräventionstraining, Achtsamkeit und vor allem immer wieder Sprechen dienen hierzu, sich immer besser zu sensibilisieren. Wieviel Stress, innere Anspannung, Konflikte, Überforderungsgefühle kann ich aushalten? Hier muss die individuelle Dosis erst herausgefunden werden, da ist jeder unterschiedlich. Nicht zu viel, nicht zu wenig – in der Mitte lässt es sich ganz gut einrichten.

Es gilt auch zu vermitteln, sich über Schuld und Scham hinwegzusetzen und stattdessen die Verantwortung für sich zu übernehmen. Schuld und Scham sind „Verführer“ des Rückfalls.

Die Krankheit an sich beschämt Betroffene natürlich auch, weil die Sucht in der Öffentlichkeit immer noch auf wenig Verständnis stößt. In der „Hierarchie der Erkrankungen“ scheinen Herzinfarkt oder Diabetes „nicht selbst verschuldet“. Es sind aber eben alles Erkrankungen und die Konsumstörung ist sogar eine todbringende, wenn man sich nicht für die Abstinenz entscheidet.

Welches Thema eint Frauen noch?

Der Raubbau mit dem eigenen Körper, auch außerhalb der Sucht. Ich erwähnte bereits das Thema Essstörung, aber auch Selbstverletzungen spielt eine Rolle. Wie gesagt, viele habe sich im Konsum gar nicht mehr um sich gekümmert. Weder um ihre Gesundheit noch um die äußere Erscheinung. Es ist schön, zu sehen, wie sich das wieder verändert im Laufe der Therapie. Seien es Kleidung, Frisur oder Schminke. Oft zeigt sich schon hierüber, dass sich auch im Inneren etwas bewegt …

Manche haben Versorgungsansprüche: In der Konsumzeit habe sich viele Frauen wenig um sich kümmern können, im Rausch war nichts dringend oder drängend (allenfalls noch die Bedürfnisse andere zu stillen). Im abstinenten Leben wird nun wieder das Bewusstsein über die Eigenverantwortung stärker. Das erleben viele Frauen als Überforderung.

Versorgungsansprüche – was ist damit gemeint?

Wenn Frauen zum Beispiel ihre Wohnung verloren haben oder lange nicht zum Arzt gegangen sind, dann ist der Anspruch, dass wir das hier alles regeln, relativ groß. Aber das ist nicht nur frauenspezifisch. Da muss man manchmal ausbremsen und sagen, zum Amt müssen Sie alleine gehen, ich kann Ihnen sagen, wohin sie müssen. Wir helfen im Sinne der Eigenverantwortung, wegweisend. Das fällt vielen schwer, man muss Dinge tun, Verantwortung übernehmen, selber aktiv werden. Aber das Gefühl, wenn es gemacht ist, ist unverwechselbar schön: Ich habe das alleine geschafft. Selbstbestimmt Verantwortung für sich zu übernehmen fällt vielen Frauen schwer, weil dieses Sich-um-andere-kümmern so ausgeprägt ist. Man kümmert sich, so gut es geht auch unter Alkohol, um die Kinder, dass sie zur Schule kommen, kocht ihnen Essen unter Alkohol, versorgt andere … dabei geht man selbst mit dem Suchtmittel immer mehr baden. Dieses Gefühl, ich muss etwas für mich tun, ist schlecht ausgeprägt.

Warum wenden sich Frauen den Suchtmitteln zu, warum Männer, ist da ein Unterschied?

Nein, das ist individuell. Bei Sucht geht es immer darum, irgendetwas im Inneren besser aushalten zu können. Die Frage ist, was muss ausgehalten werden? Welche Funktion hat das Suchtmittel? Das kann bei Männern und Frauen etwas Ähnliches sein. Ein Beispiel: Sie hat mit 16 angefangen zu konsumieren, weil sie gemerkt hat, wenn sie konsumiert, fühlt sie sich cooler und selbstsicherer. Es fängt oft erstmal so an wie bei allen anderen. Das Selbstwertgefühl wird gestärkt oder es wird etwas beruhigt, für das man keine Worte hat. Nur dass es dann ausufern kann bei den Menschen, die eine Vulnerabilität haben, suchtkrank zu werden. Bei ihnen liegt dann offenbar noch etwas zugrunde, was man im Laufe der Therapie diagnostizieren wird. Unterschiedliche Persönlichkeitsstörungen sind oft die Ursache dafür, dass man sich nicht richtig geerdet fühlt in dieser Welt, das Sich-selbst-aushalten in der Welt scheint mit dem Suchmittel viel besser zu gelingen. Oft hat in solchen Fällen die bedürfnisorientiere Versorgung in der Kindheit gefehlt, Beachtung, Fürsorge. Und das setzt sich natürlich fort im Leben.

Gibt es während der Therapie auch um Themen wie Trauma oder Angststörung?

Wir sind eine Rehabilitationseinrichtung, vom Rentenversicherer oder auch den Krankenkassen finanziert, es geht darum, eventuell wieder in den Berufsalltag zurückkehren zu können. Das Augenmerk ist sehr auf soziales Erproben mit anderen gerichtet, denn das ist ja auch auf der Strecke geblieben. Es geht darum, Ressourcen herauszufinden und zu aktivieren, sich zu erproben. Das soll den Menschen im besten Fall befähigen, wenn sie entlassen sind und abstinent bleiben, dass ihr Leben besser funktioniert. Trauma und alles, was früher „gelaufen“ ist, hat einen Platz, meistens verankert im Einzelgespräch oder auch in der Bezugsgruppe. Aber wenn wir beispielsweise sehen, da hat jemand Anzeichen einer posttraumatische Belastungsstörung, oder es werden traumatische Erinnerungen berichtet, haben wir eine spezielle Gruppe, die therapeutisch begleitet wird. In unserer Gruppe „Sicherheit finden“ für Frauen und Männer wird in mehreren Gruppensitzungen erarbeitet, sich insgesamt in Achtsamkeit zu üben, eigenen Gefühle zu benennen und sich besser zu verstehen. Für manche ist es das erste Mal, dass sie sich mit ihrem inneren Erleben verstanden fühlen.

Selbstverständlich werden auch alle anderen seelischen Befindlichkeiten wie Angst, Trauer und Leere in der Therapie berücksichtigt. Die Konsumstörung steht meist nie allein, sondern die Selbstmedikation des Darunterliegenden.

Ist eigentlich auch der Umgangston in der Frauengruppe anders?

Das ist unterschiedlich. Ich habe viele Jahre in einer Männergruppe gearbeitet. Da war es etwas lauter, stimmt, es durfte auch mal lustig sein, es war oft sehr angeregt. Aber auch Männer können verharren in Schweigen, „dicht machen“. Auch Aggressivität liegt manchmal in der Luft. Aber auch Frauen können sehr aggressiv sein oder auch mal laut streiten. Schweigen kann auch eine Form der Aggressivität sein.

Insgesamt würde ich sagen, dass Frauen sehr liebevoll miteinander sein können, aber auch sehr „hart

Ich dachte wirklich, es gibt mehr und größere Unterschiede, aber das haben sie jetzt relativiert …?

Das Selbstwertgefühl und die Selbstsicherheit eines kleinen Jungen oder eines kleinen Mädchens kann gleichermaßen zerstört werden. Der Umgang damit kann dann natürlich ein unterschiedlicher werden … Wir haben hier die Aufgabe, die Frauen zu schützen, schon, weil sie rein körperlich oft das schwächere Geschlecht sind. Aber es gibt auch Männer, die seelisch sehr verwundet sind. Was die Motivation zu konsumieren angeht: die Funktion des Suchtmittels ähnelt sich immer wieder bei diversen Geschlechtern.

Bei der Suchterkrankung kann man davon ausgehen, dass die Defizite darin bestehen, sich selber in dieser Welt nicht gut auszuhalten. Was ist die Funktion des Suchtmittels? Wenn wir das fragen, sind wir ganz schnell beim Menschen, nicht beim Geschlecht.

Für das Gespräch bedankt sich: Anja Wilhelm

TrokkenPresse 2-25: Ich darf nochmal leben!

Serie: „Trocken bleiben – aber wie?“

Ich darf nochmal leben!

Seit fünf Jahren stellen wir Menschen vor, die seit einiger Zeit trocken leben. Wir wollen wissen, wie sie das erreicht haben, jeden Tag aufs Neue, bis daraus Monate und Jahre wurden. Ihre Erfahrungen können vielleicht dem einen oder anderen Betroffenen auch hilfreich sein. Für den folgenden Text haben wir mit Nancy aus Niedersachsen telefoniert und ihre Erfahrungen dann für sie und Sie aufgeschrieben.

Ich hatte gestern einen meiner drei Geburtstage im Jahr. Neben dem originalen und dem Tag meiner Notoperation ist mir der Trockengeburtstag der allerwichtigste überhaupt. Ich bin sooo dankbar dafür!

Ich hatte an diesem Tag vor zwei Jahren endlich ein Bett in einer Entgiftungsstation bekommen. Seitdem bin ich trocken. Vor allem auch dank der Facebook-Gruppe „Alkohol – Gemeinsam gegen die Sucht“. Dort habe ich viel lernen dürfen aus den Erfahrungen der anderen. Und 24 Stunden ist immer jemand da. Die ersten zwei Wochen waren nämlich wirklich schlimm, und da habe ich mir das zu Herzen genommen, was ich dort las. Es heißt ja, gute 24 Stunden das Glas stehen lassen … aber der besondere Tipp war: Wenn es ganz dicke kommt, mach eine Stunde daraus. Und wenn die um ist, wieder eine Stunde. Ich habe für mich daraus immer 30 Minuten gemacht, die ersten Wochen nach der Entgiftung. Ah, und wenn ich die geschafft hatte, dachte ich, dann schaffst du bestimmt die nächsten 30 auch. Das hat mich gerettet.

Nach einem Jahr ohne Rückfall hatte ich dann auch eine ambulante Therapie bei der Caritas angefangen, aber die Bahnverbindung war zu schlecht, drei Stunden habe ich dahin gebraucht, dazu ständige Zugausfälle. Also abgebrochen. Die Therapeutin sagte: Sonst heiße ich das nicht für gut, aber in Ihrem Fall bejahe ich das, denn Sie kamen hier schon mit einem sehr guten Fundament an durch ihre Facebookgruppe, ihre Gruppe vor Ort und die Suchtberatung und deshalb bin ich sicher, sie werden ihren Weg gehen.

Der Alkohol und ich

In meiner Jugend war ich einmal so richtig besoffen, danach habe 15 Jahre keinen Alkohol getrunken. 2010 dann saß ich wiedermal einsam in meiner Wohnung und dachte, könntest ja mal ein Schorle trinken. Damit hat es angefangen. Dann habe ich auch mit meinen Freunden getrunken. Und zuhause täglich. Ich hatte nie was auf dem Tisch stehen, sondern immer nur im Glas auf der Küchentheke neben dem Kühlschrank, immer ein Schluck Wein oder später Bier vor und ein Schluck nach der Zigarette … bis es irgendwann zwei Liter Wein am Tag wurden. Mit einem Hauch Wasser drin, denn brauchste nicht mal zu erwähnen, so ein Hauch war da drin. Wein hat viele Kalorien, also bin ich umgestiegen auf Bier. Im Höchstfall habe ich auch mal vier bis fünf Liter davon am Tag geschafft, sonntags meist. Ich habe aber immer erst getrunken, wenn alles am Tag erledigt war. So war mein Zuhause mein Gefängnis, das ich mir selber geschaffen hatte.

Ich hatte schon mal zwei Entgiftungen hinter mir. Danach habe ich es immer mit alkoholfreiem Bier und Wein versucht. Und war schnell wieder bei den prozentigen Sachen. Auch mit Baclofen habe ich es probiert. Es half nur die ersten zwei Wochen.

Und vor der letzten Entgiftung ging dann gar nichts mehr. Ich war am Ende und habe mir das Bier nur noch reingequält, damit ich keinen kalten Entzug habe – teilweise so, dass mein Stressmagen das gleich wieder rausgebracht hat.

Da war aber dieser Klick schon in meinem Kopf: Ich kann nicht mit und ich kann nicht ohne. Ich bin seelisch und körperlich abhängig … und gestern und heute Morgen noch standen mir die Tränen in den Augen, dass mir dieser Klick vergönnt war.

Warum ich getrunken habe?

Vielleicht von vorne: Der Alkoholismus liegt wohl in unserer Familie. Mutter, Stiefvater, Onkel, Bruder …man weiß ja nicht, ob es vererbt werden kann, auf jeden Fall vorgelebt. Ich habe eine sehr schlechte Kindheit gehabt. Meine Mutter hat mich geschlagen, bis der Kochlöffel zerbrochen ist. Mein Erzeuger auch. Oma und Opa mütterlicherseits wurden sozusagen meine Eltern, leider sind sie jetzt tot.

Dann hatte ich neun Jahre lang schwere bulämische Magersucht, dann Depressionen – als meine Schilddrüse behandelt wurde, verschwanden sie aber. Später bin ich vier Mal im Jahr zur Krebsvorsorge beim Frauenarzt: Man vermutet einen seltenen Gen-Defekt, ich hatte 19 schwere Krebsvorstufen. Das ist das Gleiche wie bösartiger Krebs, nur dass die Mauer zum Bindegewebe noch intakt ist. Dazu kamen dann Notoperationen, zum Beispiel die Gebärmutterentfernung, nach der ich geheilt sein sollte, aber nix war geheilt. 2008 kam noch die seltenste Form der Akne dazu, mit Lichtwellentherapie in Behandlung. Ich habe einen Gendefekt an der Lunge, einen Herzklappenfehler. Hatte Fuß- und Rippenbruch … so komme ich seit 1998 auf über 50 Operationen.

Und dann eben dieses Alleine-sein. Ich bin jetzt fast 19 Jahre Single, gehe aber nicht auf die Suche, entweder jemand findet mich oder ich finde jemanden.

Aber ich will nicht jammern, es ist so, ich kann es nicht ändern. Es war nur irgendwann alles zu viel für zwei Schultern.

Und dann noch der Streit über meinen Sohn, heute 27, mit Großeltern, dem Vater, dem Jugendamt, ich stand alleine gegen vier Parteien und der Alkohol bot mir seine offenen, falsch-warmen Arme an.

Der Trink-Druck …

… ist heute sehr selten geworden. Die leichte Form ist, wenn die rechte Gehirnhälfte flüstert: Hey, wir beide, heute Nachmittag? Oder wie vor ein paar Tagen, ich hatte einen Termin in der HNO-Ambulanz, da sprang mein Suchtgedächtnis an, ich fühlte mich auf einmal an Alkohol erinnert, weil ich zur nassen Zeit mal dort lag. Da habe ich tief ein- und ausgeatmet, geguckt, was mich unruhig macht, bin stehengeblieben und dann war es auch wieder weg.

Was mir in der ersten, schweren Zeit geholfen hat: Viel essen, viel trinken. Das hatte ich auch aus der Facebookgruppe. Wer einen vollen Magen hat, dem ist nicht nach trinken. Oder aufräumen, irgendwas Unnützes putzen. Mir hat das geholfen: Ich mache jetzt das, dann mach ich die andere Schrankseite weiter, eins nach dem anderen. Ich habe mich abgelenkt, so dass ich dem Gedanken ans Trinken gar keinen Raum geboten habe. Und ich muss sagen, ich habe ein gnädiges Suchtgedächtnis. Ich weiß aber, es kann jederzeit anders kommen, aber dann weiß ich auch, trinken, trinken oder essen oder betrifft es mich hier zuhause, ziehe ich mich an und geh raus.

Ich mache dreimal die Woche Sport, immer 10 Minuten Laufband, normales Gehen, das ist besser für meine Gelenke, und Herz und Lunge funktionieren dadurch schon wieder viel besser als vorher, und Krafttraining im Studio. Ich versuche ein bisschen von dem, was ich durch das Saufen kaputt gemacht habe, vielleicht wieder gutmachen zu können. Ich habe 36 Kilo abgenommen, einfach auch, weil das Bier wegfiel. Ich trinke jeden Tag entweder grünen oder weißen Tee, aber nicht aus dem Beutel, sondern richtige Blütenblätter, koche mir morgens einen Liter frisch geriebenen Ingwer auf, der stärkt meinen Magen. Ich brauche außer meinen Schilddrüsentabletten nun keine anderen Medikamente mehr. Auch nicht mehr die Schlaftabletten, die ich 19 Jahre lang genommen habe, es hat sieben Monate gedauert, sie auszuschleichen. Ja, ich schlafe beschissen, heute Nacht war ich wach von halb 1 bis 2 Uhr. Aber egal, mir würde es im Traume nicht mehr einfallen, irgendwas Chemisches dagegen anzufassen.

Ich bin auch in einem Tanzverein, Hip Hop. Wenn mein Fuß wieder verheilt ist, will ich einen Tanzkurs machen. Ich tanze für mein Leben gern, schon immer. Stöpsel in den Ohren, so kennt man mich auch hier im Ort. Das lenkt auch ab. Musik. Wenn ich meine Musik nicht gehabt hätte, wäre ich heute, glaube ich, nicht mehr.

Als meine Lieblings-Katze Lilly letztes Jahr plötzlich starb, war es das Schlimmste in meinem Leben … ich hatte immer gedacht, wenn ich sie mal gehen lassen muss, würde ich wohl wieder anfangen mit Trinken. Aber mein Suchtgedächtnis ist nicht mal aufgeflammt. Lilly hatte mich noch mehr geliebt, als ich nicht mehr getrunken habe. Dass ich ihr das noch ermöglichen konnte, dass sie mich so kennenlernen durfte … jetzt muss ich gerade wieder weinen … ich habe mir gesagt, was ändert es, Trinken bringt sie nicht wieder. Und sie wäre so traurig darüber. Und ich sage dir, sie ist gestern an meinem zweiten 2. Trockengeburtstag da oben rumgehopst und hat miaut: „Ich habs euch gesagt, sie schafft es. Zwei Jahre und sie fängt nicht an zu trinken, ich bin ganz stolz!“

Nie mehr every bodys darling

Mein Charakter hat sich auch völlig verändert, ich habe an mir gearbeitet und bin irgendwie entspannter geworden. Das Hörbuch „Drauf geschissen! Wie dir endlich egal wird, was die anderen denken“ von Michael Leister höre ich mir immer und immer wieder an. Und er hat vollkommen recht. Was nützt es dir, zu entscheiden, wie andere es gerne hätten und du selber musst dann mit den Konsequenzen leben. Ich wollte immer every bodys darling sein … aber ich kann die Meinung anderer über mich nicht ändern, egal, wie ich es mache, ich würde mich nur verbiegen, damit ich denen gefalle. Heute sehe ich das so: Ich bin so, wie ich bin. Ich bin ein Mensch. Ich habe mein Herz am rechten Fleck. Ja, ich weiß, Arschlöcher kommen weiter. Aber bis zum Ende ziehe ich das jetzt durch. Ich laufe trotzdem nicht wie ein Holzpfahl durch die Gegend, ich nehme Rücksicht auf andere.

Und egal, was ist, ich lasse die schlechte Laune nie an anderen aus. Die können ja nix dafür. Ich bin Fleischereiverkäuferin und unterhalte immer den ganzen Tresen. Im Positiven, mit Witz und Humor, denn selbst die Leute auf dem Friedhof sagen häufiger Hallo als die Kunden im Einzelhandel. Dann lachen sie meist doch irgendwann.

An Gefühlen stirbt man nicht

Das ist auch aus der Gruppe. Stimmt vollkommen. Egal, was. Und wenn mir danach ist, dann weine ich eben mal kurz. Aber dann ist gut. Dann schnappe ich mir meine Ohrstöpsel und tanze hier durch die Wohnung. Und dann war es das wieder. Und wenn der Kummer noch größer ist, dann rufe ich eine Freundin an oder die Telefonseelsorge, wenn man die Freundin nicht vollsülzen will. Ich habe mir auch das Tagebuchschreiben angewöhnt, seit Lillys Tod. Und das hilft. Die anderen beiden Katzen-Mädels haben ja auch sehr gelitten unter ihrem Verlust. Und dann muss du auch noch den Kummer der beiden tragen.

Und ich kann jetzt übrigens auch gut mit mir alleine sein. Ich bin sogar sehr gern allein inzwischen.

Und so mache ich Tag für Tag.

Ich werde niemals sagen, ich werde nie wieder trinken. Das kann ich nicht, sondern: nur für heute. Aber ich gebe mein Bestes. Und ganz ehrlich, ich führe mir immer vor Augen: Jetzt habe ich ein Leben, das beste Leben, das ich je hatte. Anscheinend kommt wirklich das Beste zum Schluss. Ich würde das alles verlieren, alles, diese Chance krieg ich nicht wieder.

Ich hab ja immer an Gott geglaubt, vielleicht hat er da oben gedacht: Mädchen, du wertschätzt dich zu wenig, den Weg des Alkoholismus musst du gehen, damit du das ändern kannst …

Ich darf noch mal leben. Mein Leben 2.0: ein schönes Zuhause, ich habe zu essen, meine Fixkosten sind alle bezahlt, alles andere ist Luxus. Ich bin in der Lage, mein Leben zu verrichten – es gibt Menschen, die sind schlimmer dran, weißt du, die müssen gegen todbringende Krankheiten kämpfen und wissen nicht, ob sie diesen Kampf gewinnen. Ich habe jetzt noch zwei oder drei Operationen vor mir, aber ok. Ist in Ordnung. Und solange ich keine Hilfe Zuhause brauche für den Rest meines Lebens, bin ich dankbar. Und: Ich muss nicht trinken!

Aufgeschrieben von Anja Wilhelm

 

 

 

 

TrokkenPresse 1-25: Frau und Sucht

Frau und Alkoholsucht heute, Teil 1:

Weshalb immer mehr Frauen alkoholabhängig werden …

Immer wieder gab es im letzten Jahr solche Schlagzeilen wie: Immer mehr Frauen trinken riskant, immer mehr Frauen werden wegen Alkoholkrankheit behandelt, immer mehr Frauen sterben an alkoholbedingten Folgeerkrankungen. Stimmt das denn? Die TrokkenPresse hat recherchiert, was dahinterstecken könnte.

Zahlenbrei mit Fazit

Erstmal … Verwirrung. Wenn Zahlen sich streiten könnten, dann täten sie das jetzt: Wer ist die wahre? Denn es gibt, verflixt, kaum vergleichbare, gesicherte statistische Auskünfte zu dieser einfachen Frage: Wie viele Frauen waren in Deutschland vor zehn Jahren alkoholabhängig und wie viele sind es jetzt – ist die Zahl tatsächlich gestiegen?

Es findet sich nur ein Sammelsurium aus ungleichen Berechnungsarten von verschiedensten Institutionen. Aus Befragungen mit Eigenauskunft, aus statistischen Erhebungen in der Bevölkerung, von Ärzten, Krankenkassen und Rentenversicherern.

Für 2012 zum Beispiel erklärt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 1,4 Prozent der Frauen zwischen 18-64 Jahren als alkoholabhängig (Männer 3,4 Prozent). Für 2023 dagegen sind von den Krankenkassen fast 490 000 Frauen wegen Alkoholkrankheit in Behandlung gewesen. Wie wollen wir das nun vergleichen?

Aber in diesem Falle konnte „Wunderwaffe“ KI helfen. Aus vielen verschiedenen Statistiken im Hintergrund berechnete sie in Windeseile: Im Jahre 2012 waren geschätzt 200 000 Frauen mit Alkoholkrankheit in Behandlung. Also wahrlich mehr als eine Verdoppelung!

Aber solche Daten werden doch immer nur grobe Schätzungen bleiben. Zu viele Dinge bleiben unberücksichtigt. Denn diese Zahl der Frauen, die in einer Suchtberatungsstelle Rat suchten, eine Entgiftung und Therapie besuchten und so in der Statistik auftauchen können: Sind das wirklich ALLE alkoholabhängigen Frauen? Viel eher sind es doch viel mehr, die eben nicht den Weg ins Hilfesystem nehmen.

Hinzu kommen zum Beispiel auch veränderte Definitionen der Alkoholabhängigkeit, die ebenfalls noch kaum eine Rolle in den Erhebungen spielten oder spielen: Im amerikanischen Kategoriensystem von Krankheiten gibt es lediglich nur noch den Begriff Alkoholkonsumstörung, der Missbrauch und Abhängigkeit in verschiedenen Schweregraden einschließt. In der aktuellen internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD 10) dagegen kann man nun auch ohne die „klassischen“ Symptome wie Entzugserscheinungen bereits als alkoholabhängig gelten.

Auch beim riskanten Alkoholgebrauch, dem „Missbrauch“, gibt es Entwicklungen in den Bewertungskriterien. Daher beruht die Schätzung, dass 2012 etwa 6,5 Prozent der deutschen Frauen zwischen 18 und 64 Jahren riskant tranken und 2021 bereits etwa 14 Prozent, also doppelt so viele, auch auf etwas wackligen Füßen. Denn damals lag der Maßstab für weitgehend unbedenklichen Genuss von Alkohol bei 12 Gramm Reinalkohol für Frauen (Männer 24 g). Das entsprach etwa einem Glas Wein. Das wandelte sich mit der Zeit in 10 g. Und inzwischen mahnen zum Beispiel die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), das Deutsche Krebsforschungsinstitut und andere an, dass es gar keinen unbedenklichen Konsum von Alkohol gibt. Grundlage dafür sind Studien, die einen linearen Zusammenhang z.B. zwischen Krebs und Alkoholkonsum beweisen. Was ist also mit riskantem Alkoholverhalten gemeint, einmal im Monat einen Rausch zu haben oder dreimal die Woche mehr als ein Glas Wein zu trinken oder jeden Tag ein großes? Das ist alles ein bisschen verschwommen.

Aber eines können wir wohl hier sicher zusammenfassend festhalten: Es sind doppelt so viele Frauen wegen einer Alkoholkonsumstörung in Beratung und Behandlung als vor zehn Jahren. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass mindestens auch doppelt so viele Frauen aus riskantem Alkoholkonsum in die Abhängigkeit gerutscht sein müssten.

Und das leider sehr viel schneller als Männer …

Rascher abhängig, schneller krank

Bei einer gleichen Trinkmenge wird eine Frau schneller und stärker betrunken als ein Mann. Das liegt zum Beispiel an den physiologischen Unterschieden: Der Körper einer Frau besteht nur zu etwa 60 Prozent aus Wasser (Mann: 70 Prozent), dafür aus ein paar Fettzellen mehr. Alkohol wird also weniger „verdünnt“ im Blut. Auch hormonelle Veränderungen wie Menstruation können die Wirkung verstärken. Zudem ist die weibliche Leber etwas kleiner, produziert also auch weniger Enzyme, die den Alkohol abbauen können. Ganz einfach gesagt: Die Gifte verweilen länger im weiblichen Körper, zum Beispiel auch das krebserregende Acetaldehyd der ersten Abbaustufe. Frauen leiden deshalb, wie wissenschaftliche Studien belegen, in weniger Alkoholkonsumjahren als Männer viel früher an alkoholbedingten Folgen wie Leber-Erkrankungen, Herz-Kreislaufproblemen und Krebs – und häufiger auch an psychischen Folgeschäden. Und eine aktuelle Querschnittsstudie aus den USA belegt, dass dort die Zahl der alkoholbedingten Todesfälle bei Frauen deutlich stärker ansteigt als bei Männern.

Trinken Frauen anders?

Hier erstmal ein kurzes, einfaches JA.

Zu Beginn ein Kurzausflug in die Geschichte. Seit der Antike, so ist es überliefert, tranken auch Frauen Alkohol. Ob Wein, Bier oder Gebranntes. Doch je nach Kultur, Epoche, Religion und gesellschaftlichem Rollenbild der Frau war es erlaubt oder gar verpönt. Aus dem Mittelalter kennen wir die „Biersuppe“ als Nahrungsmittel für alle, und Bier als normales Getränk statt des verkeimten Wassers aus den öffentlichen Brunnen. Adlige Damen nippten gesittet ihr Weinchen. Später, im europäischen 19. Jahrhundert zum Beispiel, zechten Männer in den Wirtshäusern, auch Arbeiterinnen waren da zu Gast, aber eher selten. Aber für Frauen, besonders die des Bürgertums, ziemte sich das gar nicht. Und so ging es noch eine ganze Weile weiter … bis ganz langsam, im Grunde erst richtig nach dem 2. Weltkrieg und mit dem Wirtschaftswunder in der BRD, Frauen endlich mehr sein durften als nur Hausfrau und Mutter, nämlich ebenfalls arbeiten konnten. Das alte Rollenbild der Frau begann zu zerbröseln, dank der feministischen Bewegungen, die Gleichheit und Selbstbestimmung forderten und immer mehr durchsetzten. Der Genuss von Bier, Wein, Spirituosen und Cocktails, auch öffentlich, wurde nun zunehmend akzeptiert, aber: Bitte nur gesittet! Betrunkene Frauen sind oft sogar heute noch ein No-Go. Für die Männer. Und auch für sich selbst, gerade bei Frauen der älteren Generationen …

Denn aus dieser tiefverwurzelten Tradition, bloß nicht öffentlich zu saufen oder gar dann herumzutorkeln, erklärt sich vermutlich auch die Art des heutigen missbräuchlichen Trinkens der Frauen: Nämlich heimlich. Nicht wie Männer lärmend in Gesellschaft draußen, sondern am besten allein und zuhause, im Verborgenen. Still und ohne aufzufallen, nicht den Kollegen und Chefs, nicht den Bekannten. Bloß nicht. Die Scham ist zu groß, sitzt zu tief. Frauen saufen nicht!

Wobei wir hier inzwischen Generationen unterscheiden sollten: Ganz junge Mädchen machen meist keinen Hehl mehr daraus, sie konsumieren, den Jungen ebenbürtig und „selbstbestimmt“, egal wo, egal wann. „Junge Menschen werden bei uns zum Glück in einer Welt groß, wo jungen Frauen die gleichen Möglichkeiten und auch die gleichen Risiken offenstehen wie jungen Männern“, stellte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie Falk Kiefer, unlängst in einer MDR-Sendung fest. Es sei naheliegend, dass sich auch das Trinkverhalten angleiche.

Und auch die etwas älteren, aber noch jugendlichen Frauen der Generation Y trinken heute ohne Scheu ihren Aperol Spritz oder den Weißwein zu Mittag im Café. Nur das Mehr, das sie vielleicht irgendwann brauchen, das bleibt dann geheim.

Andere Trink-„Gründe“ als Männer?

Frauen trinken nicht nur anders als Männer – sondern meist auch aus anderen Gründen. Was Christina Schadt von der Fachstelle für Suchtprävention Berlin in einem früheren TP-Interview erklärte, ist auch heute noch aktuell: „Viele Frauen kümmern sich auch heute noch zuerst um andere und wollen um jeden Preis funktionieren und ihren Alltag bewältigen. Anders als Männer richten Frauen sich meist an den Anforderungen von außen aus. An dem, was andere von ihnen wollen. Nicht daran, was sie selber wünschen. Frauen wollen heute beides, einen Beruf, der sie erfüllt und den sie gut ausfüllen, aber gleichzeitig auch gut die Familie versorgen. Diese Doppelbelastung kann zu Überforderungssituationen führen. Denn noch immer erhalten Frauen traditionell zu wenig Unterstützung von der Familie, vom Partner. Solche Situationen der hohen Belastung versuchen Frauen – im Gegensatz zu Männern – mit sich selbst zu klären. Und trinken Alkohol, weil sie sich zum Beispiel entlasten und entspannen wollen.“

Und im Therapiekonzept der Fachklinik Legau, einer Suchtklinik nur für Frauen, heißt es: „Wie jede andere persönliche Leidensgeschichte einer Frau ist auch die Entwicklung hin zur Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit im Ganzen nur zu verstehen, wenn wir die Rolle der Frau in der Gesellschaft betrachten. So wird in der Regel die Entwicklung des Mädchens/der Frau z. B. stärker geprägt sein von der Erfahrung der Anpassung und der Abhängigkeit in Beziehungen, einer intensiveren Bindung an die Familie, einer geringeren Chancengleichheit … Nicht selten machen Frauen schon sehr früh Erfahrungen mit männlicher Unterdrückung und sexueller Gewalt. Viele Patientinnen waren über eine lange Zeit einer Mehrfachbelastung ausgesetzt: Sie sind gleichzeitig berufstätig, führen den Haushalt alleine und ziehen Kinder groß. Oft versorgen sie auch noch hilfsbedürftige Angehörige.“

Etwas Entspannung finden von all der alltäglichen Verantwortung. Sorgen oder die Ängste, etwas nicht zu schaffen, ein wenig betäuben. Wie z. B. Food-Journalistin und Buchautorin Eva Biringer zusammenfasst: „Wenn man den ganzen Tag nicht weiß, wo einem der Kopf steht als Frau, vielleicht auch noch als Mutter, aber auch als Frau, die einen Job hat, der sie fordert … dann ist da das Glas Wein am Abend der erste Moment, in dem man sich mal was Gutes tut – mal durchatmen, mal Zeit für sich.“ Und dies kann schleichend immer mehr werden bis hinein in die Abhängigkeit. Selbst der bloße Druck im Beruf kann da genügen, wie bei Jovana aus Berlin, sie hatte einen Job im Silicon Valley, in ihrem nachfolgenden Bericht (s. S. X) erzählt sie: „Während das Leben in Kalifornien von außen betrachtet perfekt ist, hole ich mir meinen Ausgleich auf eine Weise, die niemand sieht – vor allem nicht ich selbst. Jeden Abend brauche ich mehr, um runterzukommen. Ein Glas Wein reicht schon lange nicht mehr, um diesen Zustand zu erreichen.“

Emanzipation auch im Innen nötig?

Viele unserer Leserinnen und Autorinnen beschreiben in ihren Erfahrungsberichten, dass sie etwas ganz Bestimmtes lernen mussten, um zufrieden trocken bleiben zu können: Nämlich sich auf sich selbst zu Besinnen. Die eigenen Bedürfnisse nicht mehr hintenan zu stellen, sondern endlich vornedran. Was möchte ich, was möchte ich nicht? „Jetzt bin ich ICH“, stellt Heike in ihrem Bericht auf S. X fest. „Nein. Das ist ein ganzer Satz“, stellte Alexandra in einer anderen Ausgabe der TrokkenPresse fest. Die ureigenen Bedürfnisse zu erkennen und sie ernst zu nehmen, das scheint für Frauen ein Haupt-Weg aus der Sucht zu sein.  Und vielleicht auch, um gar nicht erst hineinzurutschen?

Das Einfache, das schwer zu machen ist … denn es bedeutet, sich einer Konditionierung, die über hunderte Generationen hinweg immer weitergegeben worden ist, zu stellen:

Ich bin damit aufgewachsen wie Millionen anderer Mädchen auch: Meine Oma hat immer zuerst dem Opa Essen das Essen aufgetan, sich selbst ganz zuletzt. Hat die verstoßenen Babykaninchen mit der Flasche gefüttert, uns Enkeln die Wärmflasche ins Bett gelegt, meine Schnittwunde liebevoll gepflastert … Oma, immer Oma. Daheim hat meine Mutter für Essen und Sauberkeit gesorgt, trotz ihrer Arbeit als Lehrerin. Und mir viel Verantwortung für den kleinen Bruder auferlegt. Und fürs Mitputzen und Einkaufen ebenso. Diese „Vorbilder“ und erlernten Verhaltensweisen speichern sich in Kindheit und Jugend nachweislich un-hinterfragt im Unterbewusstsein ab: Fürsorge, Anpassung, Opferbereitschaft, immer die anderen zuerst. Noch heute mahnt mein Mann mich, als inzwischen 62-Jährige: „Immer denkst du zuerst an die anderen. Denk doch mal zuerst an dich!“

Aha! Ich sehe es, ich weiß das, kann es aber wohl doch kaum abschalten. Und gebe es dann, allein durch mein bloßes Verhalten, unbewusst wieder weiter an Kind und Enkelin …

Mein Fazit: Gleichberechtigung im außen, sogar gesetzlich verankert – Frauen lernen, studieren, arbeiten, werden Bauingenieurin, KFZ-Schlosserin oder Politikerin –, ist „nur“ das eine. Ich denke, wir Frauen müssen uns ganz bewusst auch in und vor uns selbst emanzipieren, alte Rollenbilder auslöschen, uns befreien davon. Und sie nicht wieder weitergeben an unsere Töchter und Enkelinnen.

Und dazu gehört auch, Emanzipation nicht falsch zu verstehen: Wenn Frauen arbeiten wie die Männer, „dürfen“ sie natürlich heute auch gesellschaftlich anerkannt trinken wie die Männer. Aber wir MÜSSEN DAS NICHT.

Oder was meinen Sie dazu?

Liebe LeserInnen, es gäbe noch viel, viel mehr zu sagen zu diesem großen Thema, aber wir führen es in der nächsten Ausgabe ja fort. Im Teil 2 geht es darum, dass Frauen eine auf ihre Bedürfnisse angepasste Therapie benötigen …

 

Anja Wilhelm

 

TrokkenPresse 6/24: Mia Gatow über Buch und Nüchternheitsbewegung

Mia Gatow über ihr Buch, den SodaKlub und die Nüchtern-Bewegung:

Wir wollen das Stigma zerstören

Sie hat nicht nur ein bereits jetzt sehr erfolgreiches Buch geschrieben, „Rausch und Klarheit“ (Rezension S. XX) – sondern vor einigen Jahren schon mit Mika Döring       den SodaKlub Podcast gegründet. Der Podcast und das dazugehörige Online-Magazin       zum nüchternen Leben hat inzwischen eine große Gefolgschaft. Mia und Mika, beide waren selbst alkoholabhängig, wollen ihre Freude am klaren Leben ohne Alkohol mit vielen Menschen teilen: Sie sind Aktivistinnen der neuen Nüchternheitsbewegung. Die TrokkenPresse hatte viele Fragen an Mia Gatow …

Erstmal zu deinem Buch, liebe Mia. Warum hast du es geschrieben?

Ursprünglich hatte ich es angefangen, um mir selbst meine Abhängigkeit zu erklären. Um dieses Thema zu rekonstruieren, eindrücklich zu verstehen. Dann habe ich gemerkt, dass ich mit meinem lückenhaften Wissen darüber nicht alleine bin, weil es ganz wenig besprochen wird. Also wollte ich ein bisschen zur Aufklärung beitragen – und auch das Image der Nüchternheit verbessern. Denn zu der Zeit, als ich aufgehört hatte zu trinken, gab es in Deutschland noch keine Blogs, keine Podcasts, keine Aktivistinnen. Nur Selbsthilfegruppen, die total stigmatisiert waren, kaum Information darüber, wie geil es ist, nüchtern zu sein. Ich will mit dem Buch ausdrücken, dass es einfach der bessere Seinszustand ist. Dass man das feiern kann. Dass man keine Angst davor haben muss, im Gegenteil, dass man sich darauf freuen kann.

Warum hast du diese … Jahre getrunken?

Alle um mich herum haben getrunken, ich habe mich einfach meinem Umfeld angepasst. Meiner Familie, in der später auch Menschen      an Alkoholismus gestorben sind und dann auch mein       Freundeskreis, als ich im Nachtleben von Berlin gearbeitet habe. Da nicht zu trinken hätte einen Reflexionsprozess erfordert, ich hätte mich bewusst damit beschäftigen müssen, um sagen zu können, nee, ich will das nicht. Dafür hat man ja erstmal keinen Grund, wenn das normal ist. Ich hatte keine tieferliegenden besonderen Probleme. Ich habe das gemacht, weil es einfach Normalität ist in unserer Gesellschaft.

Trifft das so auf die meisten jüngeren Menschen zu? Oder haben jüngere Generationen noch besondere Trink-Gründe?

Ich glaube, jeder Mensch findet irgendwelche Trinkgründe. Leid, Schmerz, Unsicherheit, Angst, das ist alles Teil des Lebens und keine Generationenfrage. Wobei ich die Kriegsgeneration rausnehme, weil sie wirklich extreme Dinge erlebt hat und extrem untherapiert war. Aber du findest ja im Jahr 2024 genauso Gründe, dich zu besaufen. Rechte Parteien auf dem Vormarsch, Gewalt gegen Frauen, Krieg … es ist ja nicht so, als würde das Leben immer besser und besser werden, wenn man nur ein paar Generationen wartet. Die Generation Z, die trinkt ja weniger statistisch gesehen, mir würden jetzt aber spontan ganz viele Gründe einfallen, warum ich trinken würde, wenn ich 23 wäre: Die Politik gibt‘n Scheiß auf diese Generation, die sind krass in der Minderheit, der Planet wird zerstört vor ihren Augen … klar trinkt man da, würde ich jetzt denken.

Bei den AA sagt man übrigens, trinken kommt vom Trinken. Und die Suche nach Gründen ist eine Ablenkungsstrategie.

Aha?

Alkohol ist eine Droge, die macht abhängig und ist stark normalisiert in unserer Gesellschaft, da braucht man nicht wirklich Ursachen zu erforschen. Wenn du eine Substanz hast, die billig und überall verfügbar ist, dich betäubt, dein Leben weichzeichnet und alle um dich herum sie nehmen, dann machst du das halt.

Stichwort Anonyme Alkoholiker. Du hast dort deine Kapitulation erlebt. Warum bist du dort und nicht beim Kreuzbund oder den Guttemplern?

Ich bin zuerst zu den AA gegangen, weil ich das Gefühl hatte, das ist das Original, ich kannte das aus meinen amerikanischen Serien, es war mir als Marke bekannt. Die anderen Vereine halt nicht. In Berlin gibt es auch sehr viele Meetings zur Auswahl. Und mir hat meine Gruppe so gut gefallen, dass ich nichts anderes mehr brauchte. Es war sofort ein Treffer, ein großes Glück.

Du hast weder Entgiftung noch Therapie gebraucht, nicht täglich getrunken. Gibt es unter deinen Lesern und Hörern auch mal die Meinung, du wärest ja nur eine „Alkoholikerin light“?

Klar, gerade in den sozialen Medien oder wenn Interviews veröffentlicht werden, unter den Kommentaren. Da gibt es Leute, die sagen, was will die Kleine uns denn erzählen, die hat ja gar nix erlebt, die war ja noch nicht mal in der Klinik.

Das hatte ich so geahnt …

Leute, die einen extremen Tiefpunkt hatten, haben häufig das Bedürfnis, andere Leute, die den nicht hatten, als Mauerblümchen abzustempeln oder als Leute, die keine Ahnung haben …

Ich habe mich auch dabei ertappt … zum Beispiel habe ich gestutzt, dass mit deiner Kapitulation im ersten Meeting der Kampf vorbei war für dich. Für mich fing der Kampf in der Abstinenz erst richtig an.

Meine Krankheitseinsicht, meine Kapitulation, hatte für mich dieses innere Zerren beendet. Ich hatte aufgehört, zu versuchen, das Trinken zu kontrollieren. Damit war der Kampf mit dieser Substanz für mich vorbei. Das Leben war dann nicht automatisch geil, ich hatte ja immer noch Probleme. Aber ich hatte viel mehr Ressourcen, sie zu lösen, weil ich nicht dauernd geschwächt war. Ich weiß natürlich, dass es nicht für alle so „einfach“ ist. Ich kenne viele, die mehrere Male in Kliniken waren. Oft lag es daran, glaube ich, dass sie immer noch den Wunsch hatten, den Alkohol im Leben zu behalten und die Kapitulation nicht erlebt haben. Das ist vielleicht der Unterschied. Und hat vielleicht nichts damit zu tun, wie weit man schon körperlich abhängig war …

Ich war Pegeltrinkerin und wusste nach der Entwöhnung nicht, wie ich alles, vom Einkaufen bis zum Kochen oder gar Arbeiten, ohne Alk erledigen soll. Das war mein Kampf, und anderen ging es ebenso …

Ja, wenn du alles, was dein Leben betrifft, mit Alkohol machst, dann ist natürlich auch alles ein Trigger, und das hatte ich ja nicht. Ich hatte Tage und Tätigkeiten, bei denen ich nicht getrunken habe, ich hatte noch Inseln, auch Leute, die damit nix zu tun hatten. Deswegen war es vielleicht einfacher. Deshalb ist es ja auch so wichtig, viel früher, so früh wie möglich, zu intervenieren, wenn noch nicht das ganze Leben davon verseucht ist.

 Euch geht es ja gerade darum, den Tiefpunkt gar nicht erst erleben zu müssen, oder?

Absolut. Es geht darum, ob mit dem Buch oder dem SodaKlub und mit der neuen Nüchternheitsbewegung, dass die Leute viel früher ihr Trinken hinterfragen. Nicht erst dann, wenn ich schon extrem abhängig bin, sondern schon zu einem früheren Zeitpunkt. Und es geht uns um eine Entstigmatisierung. Dass wir irgendwann an den Punkt kommen, an dem Trinken nicht mehr normalisiert ist, sondern einfach klar ist, dass es ein Drogenkonsum ist – und keine Menge gut ist. Und dass die Menschen, die davon geschädigt werden, nicht irgendwie komisch oder charakterschwach sind, sondern dass es normal ist, von so etwas Schädigendem geschädigt zu werden.

Du meinst, das Stigma des Alkoholikers aufzulösen?

Im Schnitt vergehen noch 10 Jahre von den ersten Zeichen der Abhängigkeit an, bis sich die Leute Hilfe suchen. Eine komplette Dekade, das ist unheimlich lang. Aber wenn das Stigma aufgebrochen wird und die Leute sich nicht mehr schämen, wenn das normalisierter ist, dass man sich wegen Abhängigkeitserkrankungen Hilfe sucht, dann machen die Menschen es einfach früher. Das ist das Hauptziel dieser Bewegung, Entstigmatisieren und dadurch den Betroffenen früher Ressourcen zu bieten, etwa zu ändern.

Wie groß ist diese neue Nüchtern-Bewegung inzwischen?

Das wüsste ich auch gerne. Es werden definitiv immer mehr und mehr, wir merken das total, aber wir haben noch keine Zahlen.

Braucht es auch andere Wege in der Suchthilfe, um Menschen zu helfen, die frühzeitig aufhören wollen?

Die Suchthilfe ist stark unterfinanziert, das ist schon mal das größte Problem. Die Leute, die da arbeiten, sind total engagiert, haben richtig Bock, viel zu machen, aber müssen die Projekte ständig neu beantragen, viel Papierkram machen, sind überlastet. Es wird oft gesagt, dass die Betroffenen nicht erreicht werden, aber auch das hat, glaube ich, damit zu tun, dass die Suchthilfe nicht viele Ressourcen hat, die Leute zu erreichen. Und in der Therapie ist wahrscheinlich das größte Problem, dass Abstinenz vorliegen muss, damit man eine Behandlung bekommt und das verhindert, dass man Hilfe bekommt, wenn man sie m meisten braucht. Natürlich ist es auch ein Problem, dass die moderne Medizin-Ausbildung das Thema Sucht nicht zwingend behandelt. Der Themenkomplex ist nur eine Option, Mediziner werden nicht geschult darin. Das sind schon viele Stellschrauben, an denen man drehen könnte.

Wenn ich jetzt so trinken würde wie du damals, also eben auch mal Tage nicht, würde ich in der Suchtberatung nicht einfach wieder weggeschickt werden, weil ich noch nicht ganz unten bin?

Ich war mal mit 23 in einer Suchtberatung und habe gesagt, dass ich glaube, ein Problem mit Alkohol zu haben. Mir wurde erwidert: Versuchen Sie doch einfach mal, nicht zu trinken. Und ich meinte: Das ist gar nicht mein Problem. Wenn ich nicht trinke, dann ist ja alles ok, mein Problem habe ich ja, wenn ich trinke. Ich wollte sozusagen besser trinken von ihnen lernen … Die haben mich nicht weggeschickt, aber gesagt, naja, dann müssen wir halt mal gucken, ob es das klappt, zu regulieren … Nachher habe ich mir überlegt, das war null hilfreich. Aber andererseits, ja, was sollen sie auch machen? Weggeschickt wird man nicht. Aber man muss wirklich wollen, um dann auch wiederzukommen. Ein Symptom ist ja, dass man nicht wirklich aufhören will.

Ihr benutzt lieber Worte wie nüchtern, sober statt trocken oder gar Alkoholiker, warum?

Man muss jetzt nicht die alten Begriffe abschaffen, aber mal ein paar neue dazu? Nüchtern mag ich auch lieber als trocken, das ist mir zu altbacken, so düster. Und Alkoholiker ist ein sehr stigmatisierender Begriff, sehr negativ besetzt. Er suggeriert auch: Es gibt die normalen Leute, die mit Alkohol zurechtkommen, das ist die Norm, dass wir das moderat alle machen – und dann gibt es die Alkoholiker, die schaffen das nicht. Deswegen sind die komisch und krank, weil die das nicht hinkriegen. Obwohl ich glaube, wenn das Stigma langsam abgebaut wird, wird dann auch dieser Begriff vielleicht nicht mehr so extrem wahrgenommen, weil sich die Sprache der Realität anpasst.

Aber viele alkoholkranke Menschen benutzen den Begriff ja selbst?

Natürlich hat er eine lange Geschichte und viele Alteingesessene, die AA zum Beispiel, benutzen ihn sogar mit Stolz, das ist ja auch legitim. Aber der Ursprung ist eigentlich eine veraltete Auffassung von Alkoholismus: Er stammt noch aus der Zeit, als Alkoholismus nicht als Krankheit anerkannt war, sondern als eine Charakterschwäche gesehen wurde.

Ich habe den Eindruck, die neue Nüchternbewegung ist vorrangig weiblich?

Ja. Auch unter den Leuten, die medial arbeiten wie wir oder Nathalie Stüben und in unserer Gefolgschaft. Es gibt zwar auch Männer – ungefähr 30 Prozent würde ich schätzen – … wir würden selbst auch gerne wissen, wieso das so ist, es ist irgendwie rätselhaft. Ich kann mir vorstellen, dass es bei Frauen weniger stigmatisiert ist, wenn sie sich helfen lassen, wenn sie Schwäche oder das, was als solche ausgelegt wird, zeigen. Also dass Frauen sozial weniger dafür bestraft werden.

Welche Fragen haben deine Gäste bei deinen Buch-Lesungen?

Eine der häufigsten ist: Was kann ich machen, wenn einer, der mir nahesteht, zu viel trinkt? Oder: Wie komme ich klar, wenn alle um mich herum trinken? Und auch: Wie managt man das Liebesleben nüchtern? Es geht meist darum, wie Trinkende und Nichttrinkende zusammenkommen, das ist die Hauptsorge.

Solche Themen greifst du ja auch im SodaKlub auf. Wodurch unterscheidet ihr euch von anderen Podcasts zum Thema?

Wir bereiten wenig redaktionell vor, weil wir ein bisschen so wie aus dem Nähkästchen plaudern wollen, das war immer das Konzept. Wir haben auch Folgen, die eher fachwissenschaftlich sind, aber die meisten sind lässige Gespräche über die Nüchternheit, realistische Gespräche, die man auch mit nüchternen Freundinnen haben kann. Deshalb können wir schnell und viel produzieren, denn wir beide haben sowas in unserer frühen Nüchternheit ganz viel konsumiert, als Hintergrundrauschen für unser alltägliches Leben.

Wie viele Zuhörer habt ihr?

So etwa 30 000 Leute im Monat.

Das klingt viel …

Es ist trotzdem noch ein Nischenpodcast. Aber die Hörerschaft ist sehr eng verbunden mit uns. Wenn uns jemand hört, dann bleibt er auch dran. Es gibt wenige, die uns nur punktuell hören. Wir sind wirklich eine Community. Viele finden das sehr wichtig, eine starke Gemeinschaft.

Wer gehört zur Community?

Die meisten sind Frauen, 70 Prozent etwa, von Mitte 20 bis Mitte 50, die Kerngruppe. Aber es gibt auch ältere und jüngere Hörer. Menschen eben, die Podcasts hören. Also eher weniger Ältere, die das Medium normalerweise gar nicht konsumieren. Es gibt schon auch Leute, die stark abhängig waren. Die meisten sind aber Leute, die ohne Klinik an einem früheren Punkt aufgehört haben, so wie wir. Wir versuchen, mit unseren Gästen einen guten Mix herzustellen, egal, an welchem Punkt jeder aufgehört hat.

Euer Ziel mit dem Podcast?

Das Stigma kaputt zu machen. Wir wollen, dass alle Leute, die aufhören, stolz darauf sind, dass sie aufgehört haben. Dass das Anerkennung kriegt, dass es gefeiert wird, dass es nicht als Mangel wahrgenommen wird, sondern als was Positives, als Errungenschaft, als ein Gewinn – weil es das ja auch ist!

Für das Gespräch bedankt sich: Anja Wilhelm

 

 

TrokkenPresse 5/24: Gutes Schlafen kann man wieder lernen

Schlaf und Sucht:

Gutes Schlafen kann man wieder lernen!

Sich ins Bett legen, sofort einschlafen und morgens ausgeruht erwachen? Das bleibt meist ein „Träumchen“ für viele Menschen. Ganz besonders auch für Alkoholkranke in ihrer „nassen“ Zeit und dann noch sehr, sehr lange, wenn sie trocken werden und genesen. Warum ist das so? Und wie kommen wir wieder zu gutem, gesundem Schlaf? Entspannungstrainerin und Schlaf-Coachin Sandra Fricke, selbst trockene Alkoholikerin, im TrokkenPresse-Gespräch.

Ich schlafe oft ziemlich schlecht …
Wie kommst du darauf?

Na, ich schlafe manchmal schwer ein, werde sehr oft wach, meine Gedanken kreiseln und morgens bin ich manchmal hundemüde. Auf 8 Stunden Schlaf komme ich nie …
Aha. Zuerst: Wenn du am Morgen frisch und fit aufstehst, gibt es keinen Grund, deinen Schlaf zu hinterfragen. Denn das ist ein Indikator für guten Schlaf. All die kursierenden Informationen, wie viele Stunden man schlafen müsste oder gar die Apps, die einem den Schlafrhythmus messen usw., verunsichern die Menschen, sie entwickeln dann eine Sorge, die gar nicht nötig wäre: Oh Gott, ich habe viel zu wenig geschlafen! Aber guter Schlaf ist sehr individuell.

Und wenn ich eben nicht ausgeruht bin morgens, dann habe ich schlecht geschlafen?
Dann solltest du dir Informationen holen, wie guter Schlaf funktioniert. Zuerst einmal: Der eine Mensch braucht mehr Schlaf, der andere weniger. Eine Person geht gerne früher ins Bett, die andere lieber später. Was für viele ein Zeichen für vermeintlich schlechten Schlaf ist, ist zum Beispiel das nächtliche Aufwachen, das ist dann aber nicht gleich die Diagnose Durchschlafstörung. Denn du wachst jede Nacht etwa 20-30-mal auf. Das ist ganz natürlich.

So oft!?
Natürlich nicht so, dass wir die Augen aufreißen und hellwach sind. Vielfach überschlafen wir das wieder und erinnern uns morgens nicht mehr. Das entstammt noch unserer Steinzeitphase. Damals lagen die Menschen alle beisammen beim Schlafen, einer hat die Gruppe bewacht. Es war eine Lebensversicherung aufgrund der Gefahren in der Wildnis, nicht so fest durchzuschlafen, sondern immer wieder kurzzeitig aufzuwachen, die Lage zu checken, alles klar, ich kann weiterschlafen. Dies ist in unseren Genen noch enthalten. Und wenn ich mir darüber bewusst bin, dass das völlig normal ist … dreh dich also um, schlaf weiter, aus die Maus.

Und das nächtliche Hin- und Herwälzenmüssen, ist das auch normal?
Zum Teil. In der Nacht regeneriert der Körper. Und das, was wir am Tag verbockt haben, einseitige Bewegungen, keine Bewegung, langes Sitzen usw. ruckelt der Körper in der Nacht wieder zurecht. Mit bis zu 70 kleinen und größeren Bewegungen. Wenn er das nicht kann, weil er z. b. zu tief in eine Matratzenkuhle einsinkt … der Körper sucht sich den Weg des geringsten Widerstandes und rutscht womöglich immer wieder hinein. Da muss man sich nicht wundern, wenn man morgens vielleicht müde und mit Rücken- oder Nackenschmerzen aufwacht. Es wäre also gut, darauf zu achten, wie alt Matratze und Rahmen sind. Worauf ich liege, macht einiges aus: Wenn meine Bewegungen leicht funktionieren in der Nacht, wache ich auch weniger auf.

Manchmal bin ich schon sehr früh wach und schlafe nicht mehr ein …
Auch das ist ein ganz normaler Prozess. Weil mit der Ausschüttung des Hormons Kortisol der Aufwachprozess startet, oft gegen 3 Uhr nachts, der Schlaf wird leichter. Während mancher etwas sensibler reagiert und wacher wird, kriegt jemand anderes das gar nicht mit, dreht sich einfach um und schläft weiter.

Mitunter habe ich schon vor dem Zubettgehen Angst, dass ich wieder nicht gut schlafen kann …
Eine sich selbsterfüllende Prophezeiung. Wenn ich mir jetzt sage, oh jetzt habe ich nicht gut geschlafen und werde bestimmt die nächste Nacht auch nicht gut schlafen, was macht unser Gehirn? Das nimmt es als „Auftrag“ an. Es ist quasi programmiert …

Was ist noch ebenso natürlich, was viele Menschen, so wie ich, gar nicht wissen?
Das Schlafbedürfnis verändert sich, der ganze Schlafrhythmus im Laufe des Lebens. Wenn wir als Teenager viel Schlaf brauchen, wird das mit dem mittleren Alter moderater. So ab Mitte 50 braucht man weniger Schlaf. Aber wenn ich mir einbilde, ich muss diese 8 Stunden, die oft suggeriert sind, haben, setze ich mich selber unter Druck. Stattdessen kann ich mir frühmorgens als älterer Mensch entspannt sagen, ok, die Nacht ist vorbei, ich stehe halt auf, trinke Kaffee und wenn ich kann, lege ich mich später wieder hin, wenn nicht, dann nicht. Der Mittagsschlaf gehört übrigens zur Gesamtschlafzeit. Viele meinen, sie haben nur drei Stunden geschlafen, hatten aber nachmittags ein langes Nickerchen, das man mit dazuzählen muss.

Das alles zu erfahren hat mir tatsächlich etwas Schlaf-Druck genommen …
Alleine mit diesen Fakten, denke ich, könnten schon ein paar Menschen besser schlafen. Ohne Tabletten, ohne Schlaftracking-App. Denn die wenigsten Menschen leiden tatsächlich unter krankhaften Schlafstörungen, der sogenannten Insomnie.

In einem Seminar mit Schlafmediziner Prof. Dr. Jürgen Zulley (*), dass ich einmal mitbegleitete, er hatte die Schlafschule Regensburg gegründet, waren alle neun Teilnehmer überzeugt, dass sie unter massiven Schlafproblemen litten. Sie hatten schon viele Medikamente probiert. Am Ende empfahl er jedem: Lass das Zeug weg, gewöhn dich wieder an den normalen Schlafrhythmus – denn da war keiner mit einer wirklichen Schlafstörung dabei. Sie hatten sich aber über lange Jahre eingeredet, dass sie nicht schlafen und haben damit ihren eigenen Schlafrhythmus kaputtgemacht. Leider haben damals die Informationen zum Thema Schlaf vielfach noch nicht die Mediziner erreicht. Heute hilft bei Bedarf die Untersuchung bei einem Somnologen.

Woran erkenne ich denn eine krankhafte Schlafstörung?
Wenn die Beschwerden, also Schwierigkeiten beim Ein- oder Durchschlafen oder sehr frühes Wachwerden, über mehrere Wochen (mindestens vier) und mindestens dreimal pro Woche auftreten – und sich die Betroffenen tagsüber müde fühlen und ihren Alltag kaum bewältigen können. Hier hilft ein konkretes Schlaftagebuch mehr als das Gefühl.

Was hat das für Ursachen?
Das kann viele haben. Einerseits gesundheitliche, also organische oder psychische Erkrankungen. Oder eben, sehr häufig, eine antrainierte Störung, weil das Gehirn schon ganz lange darauf programmiert ist. Zum Beispiel auch auf Medikamentenmissbrauch. Oder auf Alkohol als Einschlafhilfe.

Thema Alkohol und Schlaf. Was bewirkt Alkohol?
Er sorgt dafür, dass ich leichter einschlafe. Aber ich wache leider auch leichter in der Nacht wieder auf. Ich schlafe viel unruhiger, schwitze und bin morgens nicht ausgeruht.

Was genau passiert da?
Die Schlafphasen laufen im Rhythmus ab (siehe Kasten). Alkohol, ob kurz- oder langfristig, stört den Ablauf. Einschlafen gelingt zwar leicht, allerdings wird die körpereigene Produktion von Melatonin (Hormon, das den Schlaf fördert) gehemmt. Traumphasen/REM werden unterdrückt oder verkürzt durch fehlendes Glutamat (wichtig für Entwicklung des Nervensystems, für Gehirnleistung und Muskelaufbau). Der Tiefschlaf, in dem dann das zum Beispiel für die Zellerneuerung wichtige Wachstumshormon (**) gebildet wird, ist gestört. Das Ergebnis: Der Mensch wird häufiger wach, die Regeneration des Gehirns und aller Zellen leidet. Während der natürliche Aufwachprozess gegen ca. 2-3 Uhr startet, der Kortisolspiegel steigt langsam an, kommt nun durch den Alkoholabbau mehr Glutamat (nervenerregender Botenstoff) zum Einsatz: Der Schläfer wird wach mit Herzklopfen und hohem Puls, oft setzt zeitgleich die sogenannte „Gedankenspirale“ ein, wieder einzuschlafen ist so fast unmöglich. Auf Dauer wird das System der neuronalen Botenstoffe, die für den Schlafrhythmus zuständig sind, zerstört. Und Kopf und Körper können sich nicht mehr erholen. Die Folge ist eine Dauererschöpfung durch Müdigkeit, die Leistungsfähigkeit sinkt, die Konzentrationsfähigkeit geht gen Null. Sogar psychische oder Herz-Kreislauferkrankungen können die Folge sein.

Übrigens: Alkohol hemmt den Atemantrieb und lässt die Rachenmuskulatur erschlaffen, man schnarcht, atmet flacher, das begünstigt Atemaussetzer.

Während der Entgiftung ganz verstärkt, aber auch in Entwöhnung und Monate später ist der Schlaf bei vielen alkoholkranken Menschen gestört. Warum?
Wie lange hast du getrunken? Wie lange hast du deinem Körper den wichtigen Schlaf und damit auch all die Substanzen geraubt, die er braucht, um gut laufen zu können und wie schnell erwartest du, dass dein Schlaf wieder hergestellt wird?

Sofort!
Genau. Aber es heißt: Geduld! Die große Herausforderung. In welcher Phase bin ich denn, wenn ich den Alk weggelassen habe? Aufgewühlt, was passiert, wie geht es weiter? Es ist ja für die meisten kein ruhiges Leben dann. Abgesehen vom körperlichen Prozess der Entgiftung, der in einer Woche vorbei ist – haben sich auch meine Organe, mein Gehirn an dieses Nervengift gewöhnt. Sie brauchen Zeit. Die Normalisierung des Systems der Botenstoffe braucht Zeit. Ich darf erstmal wieder schlafen lernen. Bei mir hat es ein Jahr gedauert.

Man kann man schlafen „lernen“?
Wir denken normalerweise, egal, wie mein Tag gelaufen ist, ich steige ins Bett und muss schlafen können. Wenn ich mich aber mit meinem Mann gestritten, mich in der Firma geärgert habe, Zeitdruck als Mutter hatte, von morgens bis abends auf den Beinen war, glaubst du, dass du dann gut schlafen kannst? Die Nacht ist die Konsequenz vom Tag. Was ich esse, wie ich meinen Tag verlebe, wie ich mich streite, was ich genießen kann, was ich meiner Freizeit tue, wie ich mir Pausen gönne – das alles hat Folgen für meinen Schlaf.

Also müsste ich am Tag schon überlegen, was tue ich, damit ich nachts gut schlafen kann?
Ja. Das klingt banal und ist banal. Jetzt denk nochmal an die Steinzeitphase: Da liefen die Menschen hinter dem Mammut her, haben so die Jagd-Anspannung wieder abgebaut. Dann gegessen. Danach war Entspannung angesagt. Anspannung, Entspannung. Und das dürfen wir uns heute noch in den Alltag so einplanen. Beide Aspekte sind wichtig: Die Entspannung zum Runterfahren und die körperliche Anspannung.

Alle 90 Minuten sollten wir zum Beispiel mindestens 5 Minuten Pause machen, soweit ist ja die Wissenschaft bereits. Kurz mal aufstehen, den Raum verlassen. Wichtig ist, Stress wieder abzubauen, sich am Tage Ruhe einzubauen, vielleicht autogenes Training oder Yoga zu nutzen oder auch körperlich aktiv mit Sport runterzufahren. Alles hat seine Konsequenz, auch für den Schlaf: Was ich tue und auch das, was ich nicht tue.

Und was mache ich dann abends, wenn doch die Gedanken kreisen, ich aber schlafen muss?
Ich MUSS… damit geht’s schon schief. Sag dir einfach, ok, der Tag ist halt diesmal so gewesen. Und selbst wenn diese eine Nacht schiefläuft, weißt du ja, warum das so ist. Der nächste Tag wird anders und damit die nächste Nacht auch. Unser Körper liebt übrigens Rituale, gestalte dir welche, um runterzufahren.

Welcher Art Rituale denn?
Zu einer bestimmten Zeit immer das Telefon abschalten oder nicht mehr über den Beruf sprechen, gemeinsam im Familienkreis etwas Leichtes essen, einen Abendspaziergang, mit wundervoller Musik noch ein schönes Glas Tee trinken, in einem positiven Buch lesen, meditieren, Tagebuch schreiben, im TV maximal Tier-Dokus schaun, nix mit Krieg und Verbrechen. Und so weiter. Und immer zu einer bestimmten Zeit ins Bett gehen, das machen wir mit unseren Kindern und funktioniert bei uns Erwachsenen genauso. Teste mal, vier Wochen lang zur selben Zeit ins Bett zu gehen und du wirst sehen, dass du besser schlafen kannst.

Wie bekomme ich nun die Gedankenkreisel vorm Einschlafen weg?
Indem du dich lange vorm Zubettgehen schon mit dem Tagesgeschehen auseinandersetzt. Und eventuell eine Liste schreibst, womit du dich am nächsten Tag beschäftigen willst. Wenn du es niederschreibst … kannst du es gedanklich weglegen. Es gibt noch andere Methoden. Zum Beispiel Stopp zum Gedanken zu sagen – und sich ganz bewusst auf etwas ganz anderes zu konzentrieren. Etwas Schönes, den nächsten Urlaub. Das ist fast schon eine meditative Übung, immer, wenn Gedanken auf das Gedankenspektakel rutschen, muss man sich da wieder wegholen.

Das finde ich schwierig.
Hab ich gesagt, dass das einfach ist?

Nö, stimmt.
Du musst immer und immer und immer wieder ansetzen dafür. Das braucht Übung und Geduld, unser Kopf, unsere Psyche braucht 21 Tage, um neue Rituale zu erschaffen.

So lange?
Ja. Oder so schnell. Es ist am Anfang neu und anstrengend. Viele Menschen scheitern aber an der Gewohnheit und eine Tablette funktioniert viel schneller. Aber wenn du es willst, das Ziel hast, wirklich gut zu schlafen, kannst du das ändern. Neuroplastizität bedeutet, unser Gehirn ist IMMER in der Lage, sich zu verändern.

Stelle dir zum Beispiel vor, dass du nach diesen 21 Tagen richtig gut schlafen kannst, erholt in den Tag startest, wie sich das anfühlt, die gute Laune beim Aufstehen – und stelle dir vor, wie leicht das dann für dich ist …

Für das Gespräch bedankt sich: Anja Wilhelm

 

Was fördert guten Schlaf?

 Vermeiden Sie am Abend alles, was das Nervensystem stimulieren kann:
– Kaffee, grünen/schwarzen Tee, Cola oder Energydrinks (4-6 Stunden vor dem Zubettgehen)
-Sport in den Abendstunden
-Nikotin
-zu viel Süßes
-zu viel Essen kurz vor dem Schlafen
-Laptop- und Smartphonenutzung im Bett (elektrisches Licht verstellt die „innere Uhr“)
-Streitgespräche und aufregende Filme/Bücher

Achten Sie auf:
-ein gelüftetes, ruhiges und abgedunkeltes Zimmer (zur Not Schlafbrille und Ohrenstöpsel besorgen)
-die richtige Zimmertemperatur (etwa 18 Grad, zu warm begünstigt unruhigen Schlaf)
-eine Art Pufferzone zwischen Tag und Schlaf, um mental zur Ruhe zu kommen, z. B. mit dem Führen eines Grübel-Tagebuches oder eines Dankbarkeits-Tagebuches
-regelmäßige Zubettgehzeiten, um in einen guten Schlafrhythmus/Biorhythmus zu erlangen
-Rituale: Ob eine Tasse Kräutertee jeden Abend oder Entspannungsmusik, tun sie etwas Beruhigendes immer zur gleichen Zeit.

Diese Hinweise sind zum Teil der Patienten-Schlaffibel des Auguste-Victoria-Krankenhauses Berlin entnommen. Sie enthält auch Anleitungen für o. g. Tagebuchführung:
www.vivantes.de/wenckebach-klinikum/psychiatrie-psychotherapie-und-psychosomatik/medizinische-angebote/selbsthilfe-bei-schlafproblemen

Weiterführende Informationen und Tipps zum Thema finden Sie auch bei der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin: www.dgsm.de/gesellschaft/fuer-patienten/ratgeber-schlafstoerungen

Unsere Schlafphasen

Pro Nacht durchlaufen wir vier bis sieben Schlafzyklen. Und jeder Zyklus besteht aus bestimmten Schlafphasen. Nach der Einschlafphase zum Beispiel so: Leichter Schlaf – Tiefschlaf – leichter Schlaf – REM-Traum-Schlaf. Nach 90-110 Minuten beginnt der Zyklus von vorn. Im Leichtschlaf entspannen sich die Muskeln, die Körpertemperatur sinkt. Im Tiefschlaf entspannt die Muskulatur noch weiter, die Augen sind ruhig, Herzschlag und Atmung werden langsamer, der Blutdruck fällt. REM = „Rapid Eye Movement“ bezeichnet die schnellen Augenbewegungen im Traumschlaf.

(*) Jürgen Zulley, Diplom-Ingenieur, Diplom-Psychologe, außerplanmäßiger Professor für Biologische Psychologie an der Uni Regensburg, Psychologischer Psychotherapeut, Somnologe, seit über 50 Schlafforscher, leitete bis 2010 Leiter das Schlafmedizinischen Zentrum am Universitäts- und Bezirksklinikum Regensburg

 (**) Geheimnis Wachstumshormon: Nicht nur für Kinder ist es wichtig, auch für Erwachsene: In der Hypophyse des Gehirns vor allem während des Tiefschlafs gebildet, wird es benötigt für z. B. die Regeneration der Zellen besonders in Muskeln, Knochen, in Leber und Niere, im Immunsystem. Es beeinflusst die Zellerneuerung insgesamt und speziell auch die der Haut. Es ist eine Art „Anti-Aging-Hormon“.

 

 

 

TrokkenPresse 4-24: Sober-Urlaub für trockene Alkoholiker

The Offline-Hotel:

Sober-Urlaub für trockene Alkoholiker

Der tägliche Wein, am Ende bis zu drei Flaschen, gehörte 27 Jahre lang zu ihrem Leben, bis es längst keins mehr war. Seit drei Jahren nun ist sie trocken. Titilayo Bornmann, einst Hamburgerin, ist nun, seit ihrem Neuanfang, in einem kleinen Dorf in Portugal zuhause – und verwirklicht dort ihre Idee: Menschen, ob suchtkrank oder nicht, finden hier ihre garantiert alkoholfreie Erholung.

Was ist The Offline Hotel genau?
Kein Hotel, sondern eine Agentur, ich arbeite mit kleinen Häusern und Hotels in Portugal zusammen.

Was bietest du an?
Wenn du sagst: Titilayo, ich möchte mit zehn, zwölf Gästen kommen und wünsche mir dies und das und mein Budget ist …, bin ich deine Partnerin an deiner Seite, dann stricke ich was Schönes daraus. Manche möchten gerne wandern, wir machen auch Standup-Paddling oder Fahrradtouren, Yoga und Massagen. Ich habe kein starres Konzept, sondern baue es je nach Bedürfnissen. Wenn du gar keine Lust auf Yoga hast, dann machst du keins, dann gehen wir wandern oder picknicken am Wasserfall, du musst aber auch gar nix, kannst nur daliegen und einfach ein Buch lesen. Parallel dazu biete ich Sober Retreats an. Für Menschen, die in einem geschützten Rahmen ohne Alkohol Urlaub machen möchten, denn das ist ja nach wie vor schwierig.

Wie sorgst du denn dafür, dass alles alkoholfrei bleibt?
Ich werde immer Häuser buchen, bei denen ich dafür sorgen kann, dass jede einzelne Flasche Alkohol aus dem Hotel verschwindet, es darf nichts vor Ort sein. Das ist mein Versprechen an meine Gäste.

Wie bist du auf diese Idee gekommen?
Ich war damals auf meinem Peak mit der Trinkerei, meinem Konsum. Hatte meinen Job verloren, mir ging es psychisch und physisch so schlecht wie noch nie in meinem Leben und ich wusste, hopp oder top, leben oder sterben, es gibt jetzt nichts mehr dazwischen. Da bekam ich die Möglichkeit, drei Monate auf das Haus einer Freundin meiner Mutter in Portugal aufzupassen. Ich hatte zwar Angst vorm Alleinsein, Angst vor Spinnen, vor Dunkelheit, aber habe mich darauf eingelassen, hatte sehr viel Zeit zum Nachdenken und habe meine gesamte Suchtgeschichte aufgeschrieben. Für mich ist es der Ort, an dem ich Heilung gefunden habe. Und da ist mir auch der Gedanke gekommen: Wo machen denn Menschen wie ich, die nicht mehr trinken wollen, Urlaub? Ich habe recherchiert und nicht wirklich viel gefunden, auf jeden Fall nicht in Deutschland oder Europa.

Bleiben wir erstmal bei deiner Abhängigkeit. Am Ende hast Du drei Flaschen Wein am Tag gebraucht. Ist dir bewusst, warum?
Als alleinerziehende Mutter mit großen Geldsorgen und anstrengendem Job habe ich diese Sorgen, den Druck, die Ängste versucht zu betäuben. Tagsüber habe ich halt funktioniert wie die meisten, das betrifft ja auch viele Muttis. Das geht jetzt nicht gegen die Männer, aber was wir alles leisten müssen gleichzeitig und so selbstverständlich, ist schon krass. Und dann kommt der Moment, da ist das Kind im Bett … dieses Durchatmen. Jetzt gönne ich mir was, aber es hatte ja mit gönnen nichts mehr zu tun, ich war ja schon ganz, ganz lange abhängig.

Das Entspannungsgefühl kam dann wohl eher durch das Lindern der Entzugserscheinungen?
Genau. Auf den Punkt gebracht.

Psychisch und physisch am Ende, was meinst du damit?
Burn out, Panikattacken, Depression – und ich war mehrfach mit Organversagen in der Notaufnahme. Es fing damit an, dass ich Blasenkrämpfe bekam. Ich konnte nicht mehr pinkeln. Akuter Harnverhalt, Blasenversagen. Bevor ich endlich katheterisiert wurde im Krankenhaus, habe ich gedacht, mein Körper platzt. Meine Ärztin wusste nicht, woran das liegt und hat mich sogar auf MS getestet, das war es zum Glück nicht. Ich habe dann geschnallt: Immer, wenn ich ein, zwei Bier trinke, passiert es. Ich bin manchmal wochenlang mit einem Katheter rumgelaufen, das möchtest du dir nicht vorstellen. Als Empfangsleiterin in einer Anwaltskanzlei, im Kostüm und auf Highheels. Ich wollte den Job ja nicht verlieren. Mir tut heute die Titilayo von damals so leid, ich war so hart zu mir selber. Dann habe ich sogar noch gelernt, mich selbst zu katheterisieren, wenn es nötig war. Ich konnte das im Schlaf und auch besoffen.

Hast sich das mit der Blase in der Trockenheit wieder gegeben?
Nicht gleich, aber später dann. Ich habe heute noch manchmal Panik davor und immer was dabei. Und ich habe mir die Blase damals kaputt gemacht. Über sowas muss man auch reden, was die Trinkerei alles in Mitleidenschaft zieht.

Wie konntest du aufhören?
Bevor ich nach Portugal gegangen bin, war ich schon bei der Suchtberatungsstelle Frauenperspektiven. Denen bin ich auf ewig dankbar. Da war ich 13 Jahre vorher schon mal. Von der Suchtberatung aus wurde dann alles in die Wege geleitet, so dass ich sofort in Entzug und Entwöhnung kann, wenn ich wieder zurück bin. Ich habe zwar in Portugal noch getrunken, aber ich wusste, es kommt Hilfe.

Du warst schon mal trocken?
Ich glaube, zwei Jahre lang, meine Erinnerungen sind etwas vernebelt. Weil mein damaliger Freund gesagt hatte, wenn du nicht aufhörst, muss ich leider gehen. Heute weiß ich, ich hatte für ihn und mein Kind aufgehört, aber noch gar nicht verstanden, dass es nur klappt, wenn ich selbst es nicht mehr will. Nach unserer Trennung war ich wieder zack dabei. Heute schäme ich mich dafür, dass ich so wenig Quality-Time für und mit meinem Sohn hatte, die Zeit mit meinem Kind so wenig genutzt habe. Ich war immer froh, wenn er im Bett war, denn dann konnte ich endlich trinken. Ich war froh, wenn er vor seinem Daddelkasten saß – und er ist schwerst spielsüchtig geworden. Ich trage die Verantwortung, dass es so gekommen ist …

Wie gehst du heute mit den Gefühlen, den Ängsten um, vor denen du früher in den Alkohol geflüchtet bist?
Meine Mutter hat immer gesagt, man muss sich diese Ängste angucken … und das tue ich. Und das mag ich auch an der Nüchternheit: Man kann Gefühle klar wahrnehmen und sie annehmen. Es ist befreiend, wenn man sie überwinden kann oder auch mit ihnen zu leben lernt, nur viel besser als vorher. Das ist auch so schön, wenn sich Ängste auflösen. Heute bin ich so stolz, dass ich wieder lässig Auto fahren kann, in den Flieger steige und keine Angst mehr habe. Das ist doch so ein Gewinn, wenn man sich das alles wieder zurückholt.

Half dir dabei auch das neue Leben in Portugal?
Ja, das Landleben. Wir bauen unser eigenes Gemüse an, Gärtnern macht glücklich. Alleine, wenn du einen Samen setzt, plötzlich wächst das erste Blättchen und irgendwann hast du deinen eigenen Kohlrabi auf dem Teller, ich kann es eigentlich immer noch nicht fassen. Man lebt wieder mit den Jahreszeiten, mit der Natur. Ich begreife immer mehr durch die Natur, habe das Gefühl, alles hat seinen Sinn. Das hier ist mein Paradies, meine Therapie …

Offline-Leben eben … das bietest du ja auch an. Warum?
Ich habe irgendwann mal gemerkt, dass mir diese Online-Welt zu laut ist, zu schnell. Und festgestellt, ich bin damit nicht alleine, es geht vielen so. Ich glaube, dass ich mich schon deswegen auch betäubt habe. Das war ein Sich-Abschalten, Sich-Ausschalten. Ich meine, eigentlich haben wir alles da auf dieser wundervollen Erde, womit wir uns einfach mal eine Auszeit davon nehmen können, aber wir kriegen das gar nicht mehr mit, weil wir die ganze Zeit zugeballert sind. Bei Social Media wirst du die  ganze Zeit irgendwie angeschrien, guck hier, guck da, gib deine Meinung ab, mach dies, mach jenes. Man verbringt so viel Zeit in diesem Raum, der gar nix mit dem Leben zu tun hat, dass man das Leben nicht mehr mitkriegt. Hier im Urlaub darf man, muss aber nicht, Handy und Laptop beiseite legen.

Hast du das selbst mal probiert?
Ja, und gemerkt, wie viel der ganze Kram an Platz einnimmt in unserem Leben. Mein Freund und ich haben wieder anders miteinander geredet, man berührt sich wieder anders, mal eine Umarmung und Händchenhalten, ich kann wieder einen ganzen Artikel am Stück lesen … das hat mich echt erschreckt, denn dadurch, dass man sich nur noch so kurze Sachen online anschaut, bammbammbamm, hatte ich Schwierigkeiten entwickelt, etwas Längeres zu lesen, dabei bin ich eine Leseratte gewesen. Ich glaube, wenn wir uns wirklich erholen wollen, dann brauchen wir eine digitale Auszeit frei von Alkohol. Und das betrifft eben auch Leute, die kein Alkoholproblem haben.

Im Oktober bietest du wieder ein Sober-Retreat an, also eine alkohol-, drogen- und digitale „Rückzugs“-Woche. Mit knapp 2000 Euro klingt es aber leider nicht gerade erschwinglich für viele?
Ja, das können sich viele sicher nicht leisten, das hätte ich mir vor ein paar Jahren auch nicht leisten können, ganz ehrlich. Aber ich bin so ein Typ, ich hätte wahrscheinlich versucht, mir das möglich zu machen, indem ich es mir erspart oder an Geburtstagen anteilig gewünscht hätte. Aber wenn das mal erfolgreich läuft, dann wird mindestens eine alleinerziehende Mutter im Jahr von mir so eine Reise umsonst kriegen. Das habe ich mir geschworen, weil ich ja selbst eine alleinerziehende Mama war, denn die brauchen es ganz, ganz doll. Für eure LeserInnen biete ich auch gerne einen Rabatt von 99 Euro an.

Kannst du schon davon leben?
Ich arbeite noch zusätzlich in Vertrieb und Akquise, Firmen buchen mich dafür, davon lebe ich auch noch. Und meine Hoffnung ist, dass ich in Zukunft auch Firmen finde, die ihre Mitarbeiter-Reisen bei mir buchen. Der Arbeitsdruck in Deutschland ist sooo hoch, die Leute sind am Limit. Sie brauchen Erholung. Und ich habe noch keinen Gast dagehabt, der nicht gesagt hätte, er hätte sich maximal erholt bei uns. Diese Agentur war die richtige Entscheidung.

Für das Gespräch bedankt sich: Anja Wilhelm

Weitere Infos: https://theofflinehotel.com/

TrokkenPresse 3-24: Wie Medikamente abhängig machen können

Die stille Sucht:

Medikamente abhängig machen

Etwa 2,9 Millionen Menschen sind in Deutschland abhängig von Medikamenten oder nehmen sie problematisch ein. Und das sind nur Schätzungen, die Dunkelziffer mag sehr viel höher liegen. Es gibt viele Hilfen für sie, dennoch suchen nur wenige eine Suchtberatung auf. Medikamentenabhängigkeit wird auch als „die stille Sucht“ bezeichnet, man sieht sie nicht, sie schleicht sich leise ein …Wir sprachen mit Apothekerin und Dozentin Vivian Wagner aus Berlin. Sie ist aktiv in der Berliner Initiative gegen Medikamentenmissbrauch und arbeitet im ehrenamtlichen Projekt der Apothekerkammer Berlin „Apotheke macht Schule“ mit.

Ab wann missbraucht man Medikamente, ab wann ist man abhängig? Wie bemerkt man das, auch selbst an sich?

Leider ist der Übergang oft schleichend und schwer zu erkennen. Ein Fehlgebrauch (zu viel/zu oft/zu lange) kann häufig zum Missbrauch übergehen. Je psychoaktiver, also bewusstseinsverändernder die Substanz, desto schneller dann die Abhängigkeit. Gefährdende Kofaktoren sind andere Abhängigkeiten und psychische Erkrankungen wie z.B. Depressionen. Wie Sie es an sich selbst erkennen können, lesen Sie bitte im Kastentext s.u.

Es heißt, 5 Prozent der rezeptpflichtigen Medikamente haben Suchtpotenzial: Welche gehören dazu?

Alle, die zentral wirksame Substanzen enthalten: Die also die Blut-Hirnschranke überwinden, die schützende Grenze zwischen Blut und Gehirn. Die schlimmsten Abhängigkeiten sehen wir bei Schmerzmitteln (wie Opioide), Schlafmitteln- und Beruhigungsmittel (wie z.B. Benzodiazepine oder Antidepressiva). Sie sollen ja auch bis ins Gehirn gelangen und dort „arbeiten“.

Woher kommt ihr Suchtpotenzial?

Sie docken an die Rezeptoren körpereigener Botenstoffe an, die das Belohnungssystem befriedigen, wie Dopamin und GABA. Die Wirkstoffe selbst sind unterschiedlich stark suchterregend, aber wichtig ist auch, wie sie verpackt sind: Wenn man das Mittel auflöst und trinkt oder als Tropfen nimmt, ist das schneller süchtig machend, weil sie im Suchtzentrum im Gehirn schneller anfluten als eine Depot-Tablette. Meist dürften sie auch nur zwei Wochen angewendet und müssen dann ausgeschlichen werden. Die Medikation sollte dann geändert werden auf weniger süchtig machende Mittel. Das ist die Kunst des Arztes.

Weshalb werden Menschen dann doch süchtig, obwohl sie von ihren Ärzten doch den Gebrauch vorgeschrieben bekommen?

30 Prozent der Patienten, so sagen Versorgungsforschungen, nehmen ihre Medikamente tatsächlich nicht genau nach Plan ein, sondern nach eigenem Gusto. Medikamente, die ihnen guttun, zum Beispiel höher dosiert und Medikamente, die nicht so beliebt sind (Blutdruckmittel, Entwässerungsmittel) gar nicht oder niedriger dosiert. Der größte Unsicherheitsfaktor ist der Mensch: Was macht er mit sich? Die Sucht entsteht auch nicht nur durch den Stoff, sondern die Suchtmaschine im Kopf.

Weshalb gibt es überhaupt Medikamente, die abhängig machen, wäre das nicht vermeidbar?

„Keine Wirkung ohne Nebenwirkung“ ist ein altes Gesetz. Bei vielen Arzneistoffen kann man erst nach jahrelanger Praxiserfahrung sagen, wie gefährlich sie sind. Heroin zum Beispiel war vor dem ersten Weltkrieg ein Medikament für alles Mögliche … Die klinischen Studien zur Zulassung reichen da nicht aus. Andererseits brauchen wir die zentral wirksamen Substanzen mit dem Gehirn als Angriffsort, weil wir für die Schmerzlinderung, die Narkose und psychiatrische Erkrankungen die Neurotransmitter im Gehirn beeinflussen müssen. Insofern arbeitet die Pharmaindustrie verstärkt daran, Arzneistoffe herzustellen, die noch selektiver wirken oder baut Arzneistoffe mit ein, die die Nebenwirkungen gleichzeitig bekämpfen sollen, wie Naloxon bei Opiaten. Das geht aber nur bedingt.

Es heißt, 10 Prozent der freiverkäuflichen Medikamente haben ebenfalls Suchtpotenzial! Welche zum Beispiel und wie hoch ist die Gefahr, davon abhängig zu werden?

Schlafmittel mit Diphenhydramin, Doxylamin, Erkältungsmittel mit ephedrinhaltigen Substanzen, Nasensprays, Hustensäfte mit Dextromethorphan. Meistens sind es zentral wirksame Substanzen. Aber auch Schmerzmittel wie Ibuprofen, Paracetamol und Aspirin können abhängig machen, wenn sie zu oft, zu hoch dosiert und zu lange genommen werden.

Einfache Kopfschmerztabletten?

Die Substanzen selbst nicht, aber es ist dieses Belohnungssystem im Gehirn – wenn ich registriere, der Schmerz geht weg, das Hämmern, wenn ich eine Tablette nehme … Aber wenn man die Tabletten öfter als zehn Tage im Monat einnimmt, kann ein sogenannter medikamenteninduzierter Kopfschmerz entstehen und dann ist man in der Endlosschleife, dann muss man unbedingt zum Arzt. Diese Mittel kann man aber von einem Tag auf den anderen absetzen, weil es keine psychische Abhängigkeit gibt.

Warum betrifft die Medikamenten-Abhängigkeit mehr Frauen (70%) als Männer?

Das hat etwas mit Rollenverständnis, Erziehung, Sozialverhalten zu tun. Frauen leiden still, wollen nicht auffällig werden und die Mehrfachbelastung von Familie und Beruf irgendwie aushalten. Sie warten oft zu lange, bevor sie etwas verändern, denn sie sind oft finanziell abhängig in Partner- und Beschäftigungsverhältnissen.

Alkoholentgiftung und Benzodiazepine als Begleitmedikament, ist das nicht ein Widerspruch? Nicht wenige Patienten sind dann benzo-abhängig …

Warum macht man das im Entzug? Weil die Gefahr von epileptischen Anfällen sehr hoch ist, je nachdem, wie lange man abhängig war. Man kann auch Antiepileptika einsetzen, aber einige wie Gabapentin können auch süchtig machen. Ein großes Problem, weil man das Gehirn versucht zu entkoppeln mit Substanzen, die genau da auch ankoppeln und indirekt dieses System weiter am Laufen halten, das ist eine große Gefahr. Es muss langsam wieder runtergefahren werden. Das wird vielleicht in der Klinik gemacht, aber im Alltag oft nicht richtig begleitet. Ich kenne so viele Fälle!

Bemerken Sie als Apothekerin, wenn Patienten abhängig sind?

Ja, oft. Schon am Verhalten, das ist so eine bestimmte Ausstrahlung. Sie sind nervös, wenn man länger aufs Rezept guckt, ängstlich, unruhig und wollen schnell wieder weg. Ein Beispiel: Es wird meist Freitagnachmittag angerufen, ob wir das Medikament, oft Benzos, vorrätig haben, auf einen Namen reserviert und dann kommen sie kurz vor Ende der Öffnungszeit mit Privatrezepten oder gefakten Rezepten. Freitagabend ist kein Arzt mehr in der Praxis, so dass ich nicht mehr recherchieren kann, ob er das Rezept ausgestellt hat oder das Rezept geklaut ist oder ob es gefälscht ist …

Weisen Sie Kunden darauf hin, wenn etwas süchtig machen kann?

Ja, täglich, es ist wichtig, aufzuklären, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist. Ich spreche auch aktiv Patienten an, wenn ich sehe, dass der Arzt das Mittel als Privatrezept ausstellt, z.B. Benzodiazepine und frage sie, warum sie es nehmen, welcher Art Schlafstörungen sie haben und wie lange sie es schon nehmen. Und kläre auch über die Gefahr auf, wenn sie das weiterhin machen.

Nehmen die Patienten das an?

Die meisten nicht. Es gibt aber Patienten, die ich so zur Abstinenz begleiten durfte. Ältere Damen, die jahrelang eine halbe Benzo genommen haben, weil der Arzt sagte, das schadet nicht. Gerade bei Älteren ist das aber hochgradig gefährlich, sie verstoffwechseln es langsamer. Dann gehen sie nachts auf die Toilette, stürzen über ihren eigenen Teppich und landen mit Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus.

Sie sind aktiv in der Berliner Initiative gegen Medikamentenmissbrauch. Was ist das Ziel?

Ein ganz wichtiges zum Beispiel: Gesundheitskompetenz muss ein Schulfach werden.

So wie Bio oder Mathe? Warum?

Eine Studie in Nordrhein-Westfalen hat ergeben, dass 40 Prozent der Deutschen nicht über ihren Körper und seine Funktionen Bescheid wissen und auch nicht über Medikamente, die sie nehmen. Wenn ich mir überlege, dass die meisten, die zu uns reinkommen, den festen Wunsch nach einem Mittel haben, von dem sie über Bekannte gehört haben, bei Tiktok, Instagram oder Google und gar nicht wissen, was sie da kaufen und kein Wissen über ihre Erkrankung haben, finde ich das fatal. Gesundheitskompetenz sollte ein Pflichtfach sein, mindestens genauso wichtig wie Bio oder Chemie. Es fallen ja auch immer mehr freiverkäufliche Medikamente in die Selbstmedikation. Gesundheitsminister Lauterbach hat das schon erkannt, im Bildungsministerium wird bereits darüber gesprochen, viele Fachkreise und Ärzte sind sich des Problems voll bewusst. Früher kannte man ja auch seine Hausmittelchen von Kamillentee bis Quarkwickel und Zwiebelsaft, das wurde von Generation zu Generation übergeben, da hat man die Verantwortung nicht bei der Pharmaindustrie abgegeben.

Worauf muss ich als Patient nun insgesamt selber achten?

Die wichtigsten Grundsätze der WHO für Medikamente mit besonderem Suchtpotenzial wie Opioide sind: By the ladder – nur durch ärztliche Verschreibung, by the mouth – schlucken ist besser als spritzen, by the clock – das feste Einnahmeschema einhalten, und for the individual – immer alles noch individuell abwägen. Das sollte jedem Arzt und Apotheker heilig sein. Patienten können Beratung aktiv einfordern, dazu sind Apotheker und Ärzte sogar verpflichtet, das ist ihr Job. Bereits Abhängige sollten sich unbedingt Hilfe suchen, zum Beispiel in einer Suchtberatungsstelle oder in einer Selbsthilfegruppe.

 

Für das Gespräch bedankt sich: Anja Wilhelm

Warnzeichen: Sind Sie doch schon abhängig? (Quelle: Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen,
www.medikamente-und-sucht.de)

Menschen, die auf Dauer Medikamente mit einem Abhängigkeitspotenzial einnehmen, sollten auf folgende Beschwerden achten: Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, ein gedämpftes Gefühlsleben, körperliche Abgeschlagenheit, Energielosigkeit sowie Schlafprobleme – das können Symptome einer beginnenden Abhängigkeit sein. Haben die Medikamente anfänglich wunderbar gewirkt, lässt die Wirkung nämlich nach Wochen und Monaten ganz allmählich nach, die anfänglichen Beschwerden tauchen oft verstärkt wieder auf.

Weitere Hinweise können sein:
– Indikationserweiterung: Wenn Sie zum Beispiel beginnen, Ihr Schlafmittel auch tagsüber gegen Unruhe zu nehmen.
– Fixierung auf die Medikamente: Wenn Sie ohne Ihre Tabletten nicht mehr aus dem Haus gehen, sich eine Reduktion oder ein Absetzen der Tabletten gar nicht mehr vorstellen können.
– Dosissteigerung: Wenn Sie mehr Tabletten einnehmen, als Sie sich vorgenommen haben.
– Heimlichkeit: Wenn Sie verschweigen, dass Sie sich zusätzliche Quellen suchen und sich Benzodiazepine zum Beispiel von weiteren Ärztinnen und Ärzten verschreiben lassen.

 

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