TrokkenPresse 02/23: Trauma und Sucht

Neue Erkenntnisse, neue Praxis-Erfahrungen:

Was hat Sucht mit Trauma zu tun?

Warum benutzt ein Mensch Suchtmittel, bis er letztlich abhängig davon wird? Die Faktoren, die dazu führen können, sind vielfältig: Umfeld, Verfügbarkeit, Gene usw. Die Behandlung besteht darin, zu entgiften und ein Leben ohne Suchtmittel zu erlernen. Aber was, wenn zum Beispiel auch, wie Forschungen der letzten Jahrzehnte ergaben, traumatische Erfahrungen eine der Ursachen sind und die Suchterkrankung eine Traumafolgestörung ist? Müsste das Trauma nicht ebenso „mitbehandelt“ werden – um zum Beispiel Rückfälle zu vermeiden? In vielen deutschen suchttherapeutischen Einrichtungen ist dies noch nicht oder nur unzureichend der Fall. Der ärztliche Leiter der Tannenhof-Tagesklinik in Berlin aber, Adrian Erben, hat dafür ein Konzept entwickelt und setzt es dort seit einem Jahr erfolgreich um. Und ab Mai übrigens dann ebenso auch in der Hartmut-Spittler-Klinik Berlin als neuer leitender Oberarzt.

Zur Person:

Adrian Erben, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Fachkunde Suchtmedizin, leitet seit über einem Jahr die Tagesklinik der Tannenhof Berlin-Brandenburg gGmbH. Ab 1. Mai wechselt er als neuer leitender Oberarzt in die Hartmut-Spittler-Klinik Berlin. Seit 25 Jahren ist er im Suchtbereich tätig, (u.a. an der Oberbergklinik Schwarzwald, im Gezeiten Haus Wendgräben). Er qualifiziert sich gerade auch zum Traumatherapeuten. Eins seiner Ziele: Traumatisierten Abhängigen Menschen im Rahmen einer Entwöhnungsbehandlung ein erstes Beziehungs- & Behandlungsangebot hinsichtlich ihrer Traumaerfahrung/PTBS zu machen.

 

Ein Trauma ist eine starke psychische Erschütterung, begleitet von großer Angst, Ohnmachtsgefühl, Hilflosigkeit – hervorgerufen durch bestimmte Ereignisse. Eine der Folgen kann z.B. eine posttraumatische Belastungsstörung sein, PTBS. Was genau ist das?

Die PTBS ist die Folge einerseits eines Monotraumas wie Kriegsausbruch, Flugzeugunglück, Zugunfall, Vergewaltigung, also eines einmaligen heftigen Ereignisses. Andererseits kann es aber auch ein sequenzielles Trauma sein, d.h. wenn zum Beispiel ein Kind von seinem Stiefvater über Jahre hinweg sexuell missbraucht wurde oder wenn man Mikrotraumatisierungen ausgesetzt war, vor allem in der Kindheit oder Jugend: Wenn der Vater, schwer alkoholkrank, nach Haus kommt und die Mutter jeden Abend schlägt. Solche Traumaereignisse führen auch dazu, dass sich im Gehirn fragmentarische Erinnerungsfetzen abbilden, die woanders abgespeichert werden als andere Erinnerungen. Wie in einem Spiegel, der zerbricht, setzen sich punktuell einzelne Teile, Bilder, im Gehirn fest, die auch Jahre später durch sogenannte Trigger plötzlich wieder auftauchen und kaum aushaltbar sind.

Kaum aushaltbar – kommen da die Suchtmittel ins Spiel?

Ja, denn Suchtmittel wie Alkohol, Benzodiazepine, THC zum Beispiel werden dann oft zur Selbstmedikation eingesetzt, um eben diese Bilder oder andere Trauma-Folgen wie eine Angststörung oder Depression aushalten zu können, zu verdrängen, um am Leben teilnehmen zu können. Denn die Menschen nehmen an der Umwelt oft gar nicht mehr teil, weil sie immer wieder Angst haben, re-traumatisiert zu werden. Außerdem sind sie enorm schnell übererregbar, was auch schwer aushaltbar ist und wobei das Suchtmittel dazu dienen kann, sich wieder herunterzubeamen. Ohne das Suchtmittel wären sie vielleicht schon längst völlig zerbrochen. Es ist wie eine Krücke, wie ein Medikament, ein Schutz.

Ein Trauma führt aber nicht immer in die Sucht?

Es gibt Menschen, die haben schwerste Erfahrungen gemacht und können ganz gut damit leben und überleben, sie hatten andere Strategien und Möglichkeiten. Das ist abhängig von Resilienzfaktoren, zum Beispiel vom Umfeld in der Kindheit, wie geschützt und sicher fühlte ich mich da … Wenn jemand z. B. vom Stiefvater missbraucht wurde, sich an seine Mutter wendet und die reagiert adäquat, beendet diese Beziehung und zeigt diesen Stiefvater an, dann erlebt das Kind, dass es beschützt wird und kann selbst mit der heftigen Missbrauchs-Erfahrung besser umgehen, als wenn die Mutter dem Kind nicht glaubt, es alles über sich ergehen lassen muss und niemanden hat, den es ansprechen kann. Diese Ohnmacht ist das A und O einer traumatischen Erfahrung.

Soweit ich das erlebt habe, spielte aber der Zusammenhang Trauma-Sucht bisher kaum eine große Rolle in der Suchtbehandlung?

Es wurde lange Zeit immer getrennt: Wenn Patienten mit einer Trauma-Erfahrung und zugleich einer Abhängigkeit eine Traumatherapie machen wollten, wurde ihnen gesagt, sie müssten vorher die Sucht behandeln. Und umgekehrt habe ich erlebt, dass immer dann, wenn in der Suchtbehandlung ein Trauma deutlich wurde, möglichst ein Bogen darum gemacht wurde: Wir behandeln hier nur die Sucht – die Büchse der Pandora öffnen wir hier nicht – und wenn das fertig ist, dann können Sie sich, wenn sie stabil und trocken sind, der Traumabehandlung zuwenden. Dabei ist es wahnsinnig schwierig, überhaupt einen Traumtherapeuten zu finden, erst recht als Suchtpatient, weil umgekehrt dieser natürlich im Traumabereich auch mit Glacéhandschuhen angefasst wird – weil er erstmal lange stabil sein soll, bis er behandelt werden kann. Und das heißt, diese Menschen stehen im Regen, egal, wo sie hingehen. Dann passiert es, dass sie bei Traumatherapeuten, damit sie die Therapie machen können, ihre Sucht verschweigen und umgekehrt im Suchtbereich ihr Trauma.

Wie viele der Suchtkranken haben traumatische Erfahrungen?

Es gibt diverse Studien. Bei 60-70 Prozent der suchtkranken Frauen liegt ein traumatischer Hintergrund vor, bei Männern sind es 40-50 Prozent. 10-20 Prozent aller Patienten haben eine ausgewachsene Posttraumatische Belastungsstörung, und 30-50 Prozent schwere traumatische Erfahrungen gemacht, die dann später auch zur Sucht führten.

So viele! Aber wenn nun das Trauma in der Sucht-Behandlung gar keinen Platz findet …

Ich habe mir mal genauer angeguckt, wer trotz guten Verlaufes der Entwöhnungsbehandlung dennoch schnell wieder rückfällig wird: Das sind zum größten Teil Trauma-Patienten. Menschen, die es zwar schaffen, eine Langzeittherapie durchzuhalten – aber kaum verlassen sie das geschützte Umfeld einer Einrichtung, gehen nach Hause, dann realisieren sie, dass sie für das, wofür sie das Suchtmittel eingesetzt hatten, gar kein Werkzeug haben, damit umzugehen. Dass es ihnen nichts nützt, gelernt zu haben, wie sie abstinent sein können, wenn die Bilder auftauchen, die sie in die frühere traumatische Erfahrung zurückbringen, die so schwer aushaltbar sind.

Was ist also zu tun?

Diesen Menschen müssen und wollen wir schon während der Entwöhnungsbehandlung bei uns etwas anbieten. Denn „nur“ mit Suchtbehandlung, ohne Handwerkszeug, diesen Bildern trocken zu begegnen, werden diese Menschen schnell wieder rückfällig. Da habe ich geguckt, gibt es überhaupt schon irgendwelche Konzepte? Ja, ich musste nichts Neues erfinden, es gibt ein Therapiemanual von Lisa M. Najavits, „Posttraumatische Belastungsstörung & Substanzmissbrauch/DD Abhängigkeit“, erschienen 2002 in englischer Sprache in 2. Auflage 2019 im Hogrefe-Verlag. Dieses Programm hat sich in den USA bewährt. Aus den 25 Sitzungen machen wir 12, mit zwei Terminen pro Woche, in denen wir mit den Patienten schauen, wie können sie gut für sich selber sorgen, wie können sie Hilfe einfordern und Strategien entwickeln.

Wer nimmt daran teil?

Wir haben immer zehn PatientInnen in einer Gruppe. Voraussetzung sind eine Abhängigkeitserkrankung plus posttraumatische Belastungsstörung oder schwere Traumafolgestörung, d.h., sie haben schwere traumatische Vorerfahrungen in Kindheit, Jugend oder im späteren Leben gemacht. Wir haben PateintInnen mit Entwicklungstraumata, wo schwere Vernachlässigung, Verwahrlosung, sexueller oder emotionaler Missbrauch schon in der Kindheit vorlagen. Wir haben aber auch Patienten wie den Sanitäter, der im Kosovo vor über 20 Jahren stationiert war. Er wurde Zeuge der Massenvergewaltigung eines 12-jährigen Mädchens, allen Beteiligten der Bundeswehr war nicht erlaubt, einzugreifen, weil es sonst zu einer Eskalation hätte kommen können. Ihm ging das total nahe, er war verzweifelt und diese Ohnmachtserfahrung erlebte er immer wieder neu, griff zu Suchtmitteln und entwickelte eine Abhängigkeit. Er kannte kein anderes Instrument, mit diesen Bildern umzugehen. Oder der Bundeswehrsoldat, der in Afghanistan war. Als Scharfschütze hatte er den Befehl, auch auf Kinder zu schießen, wenn Gefahr bestand, dass sie Selbstmordattentäter sind. Im Nachhinein hat sich aber häufig der Verdacht nicht bestätigt. Er hat seinen Dienst quittiert, er konnte nicht mehr. Er ist mit der Normalität in Deutschland dann kaum mehr zurechtgekommen, das hat auch zur Suchterkrankung geführt. Und da wird so deutlich, dass es einen Zusammenhang gibt! Deshalb ist es mir eine Herzensangelegenheit, diese Menschen nicht zu vertrösten, sondern mitzunehmen …

Ist Traumatherapie denn in vier Monaten machbar?

Nein, in den 3 oder 4 Monaten Suchttherapie kann man parallel kein Trauma aufarbeiten. Das ist ein Prozess, der Jahre dauert. Aber wir können hier was anstoßen! Mir ist viel mehr wichtig, dass die Menschen hier so sein dürfen, wie sie sind, auch mit ihrem Trauma, das darf hier Platz haben. Es gibt ihnen Hoffnung, zu erfahren, dass zwar die Sucht eine chronische, aber gut behandelbare Erkrankung ist, aber eine traumatische Erkrankung sogar im besten Sinne heilbar ist! Wir können hier die Saat legen, den Anfang der Therapie machen. Und dann leiten wir sie natürlich weiter, wenn sie stabil abstinent sind. Wenn sie das dann überhaupt noch wollen. Es gibt Menschen, die gehen hier raus und sagen herzlichen Dank, das hat mir was gegeben, aber ich glaube, das Trauma selbst muss ich gar nicht weiterbearbeiten, ich habe jetzt Handwerkszeug genug. Und es gibt Menschen, die sagen, das klingt spannend, es gibt Möglichkeiten, das Trauma in meine Geschichte zu integrieren als Teil meines Lebens, so dass es nicht meine Identität ist? Da ermuntere ich dann und versuche, ein Netzwerk herzustellen, mit der Charité, traumatherapeutischen Praxen, mit der Akademie für integrative Traumatherapie … Wir bringen etwas in Gang, womit sich die Menschen nicht mehr alleingelassen fühlen.

Nochmal zur Gruppe, was genau passiert da?

Wir nennen sie nicht Trauma-Gruppe, denn das wäre immer wieder eine Erinnerung daran, da ist was Schreckliches passiert, sondern „Sicherheit finden“.  In der ersten Woche wird erst mal erklärt, was hier überhaupt passiert, damit sie wissen, hier bin ich sicher, ich kann hier so sein, wie ich bin. Und dass sie zwar ihr Trauma erzählen dürfen, aber nicht müssen. Dann geht es darum, was eine PTBS ist, die PatientInnen kreuzen selbst die Kriterien der Klassifikation psychischer Erkrankungen an. Es ist nämlich dann gar nicht mehr so frustrierend für die PatientInnen, wenn sie realisieren, ich habe jetzt eine Idee, was mit mir los ist. Ich bin ja gar nicht bekloppt. Das ist eine Riesenentlastung, da fließen oft die Tränen.

Welche Strategien, mit dem Trauma zurechtzukommen, kann man lernen?

Eine Gruppensitzung beinhaltet zum Beispiel das Thema Mitgefühl mit sich selbst. Wie mache ich das? Eine nächste heißt, „Gefahren- und Sicherheitssignale“, also wo begebe ich mich in Trigger-Gefahr, woran könnte ich das erkennen? Es geht darum, ein Frühwarnsystem zu etablieren. Dann gibt es die spannende Stunde, „Um Hilfe bitten“. Denn oft stehen Scham und Ohnmachtserfahrung im Weg. Vielleicht hatte jemand um Hilfe geschrien, ausgeliefert an den Täter, und hat sich gemerkt, ich kann nur mir selber helfen. Aber das Bitten um Hilfe ist so notwendig, wir leben in einer Welt, in der wir nicht alleine überleben können, wir brauchen immer irgendwann einen anderen. Eine andere Stunde beschäftigt sich damit, gesunde Grenzen zu setzen und ein Baustein zum Beispiel sind auch unsere Erdungsübungen.

Erdungsübungen?

Was machen wir, wenn diese Bilder kommen? Uns verankern im Hier und Jetzt. Denn wenn die alten Bilder kommen, bin ich im Dort und Damals. Also Füße auf den Boden stemmen, auf die Atmung achten zum Beispiel. Wo bin ich gerade, den Wievielten haben wir heute, welches Wetter, welche Uhrzeit, warum bin ich hier. Denn wir können nur eins machen, nicht hier und dort zugleich sein. Spüren Sie mal, wie fühlt sich die Lehne des Sessels an … ich verankere mich mit dem, was jetzt gerade ist. Bei der gedanklichen Erdung lernen sie, ihre Bilder zum Beispiel in einen Container zu packen und eine Entfernung herzustellen, vielleicht so, dass er mit dem Schiff davonfährt. Die Patienten erfahren damit, dass sie ihrem Trauma-Material nicht ausgeliefert sind, sondern mit ihm spielen können. Sie lernen bei uns, dass es bessere Strategien gibt als zu trinken.

Wie finde ich heraus, ob ich eine Traumafolgestörung habe?

Wenn Sie alle Fragen nach den Kriterien der ICD-10 (International Classification of Diseases) der WHO, Code F43.1., ankreuzen können, haben Sie eine PTBS. Wenn nur einiges zutrifft, wenn Sie dieses Ereignis immer wiedererleben, Sie depressiv geworden sind, eine Angsterkrankung entwickelt haben oder gar nicht mehr das Haus verlassen, also Teilsymptome haben, dann liegt eine Trauma-Folgeerkrankung vor.

                                                                                               Das Gespräch führte Anja Wilhelm

Info:

Falls Sie Interesse haben an dieser Behandlung, melden Sie sich bitte hier:
-Therapeutische Leitung und Abteilungsleitung der Tagesklinik des THBB, Frau Sigrid Czajka: sigrid.czajka@tannenhof.de, telefonisch 030/863919039 bzw. (bis zum 30.04.2023) als Ärztlicher Leiter Herr Adrian Erben, adrian.erben@tannenhof.de, 030/863919037

-Ab Mai 2023 dann auch unter adrian.erben@vivantes.de, Tel.: Hartmut-Spittler-Klinik, 030/ 130208604.

TrokkenPresse 01/23: Markus Majowski

Im TrokkenPresse-Interview: Markus Majowski

Du bist doch der lustige TV-Markus, das kann doch gar nicht sein?

In der vergangenen Ausgabe stellten wir das Zirkuswagenprojekt des Trockenbau e.V. in Barth vor. Pate des Projekts, Sie erinnern sich, ist Markus Majowski. Wie kommt ein prominenter Schauspieler, Komödiant und Produzent dazu, alkoholkranke Menschen zu unterstützen? Ist er vielleicht selber …? Ja, ist er. Vor zehn Jahren outete er sich öffentlich als drogen- und alkoholkrank. Zuerst in einer Talkshow, später dann in seiner 2013 erschienenen Autobiographie: „Markus, glaubst Du an den lieben Gott?“ (Rezension S. XX). Seit 14 Jahren nun ist er trocken und clean. Wie er es wurde, was ihm dabei half, wie sich sein Outing damals auf seine Karriere auswirkte …

Zuerst zum Zirkuswagenprojekt, lieber Markus: Wie bist Du Pate geworden, warum und was genau machst Du da?

Die haben sich damals einfach ganz lieb bei mir gemeldet, das Projekt am Telefon vorgestellt und das hat mich überzeugt. Weil es eben die ersten Schritte aus der aktiven Sucht betrifft, ins betreute Wohnen. Die möchte ich unterstützen. Ich habe dort einen Literaturabend gegeben, Rilke-Gedichte gelesen, in denen es um Sehnsucht geht, Verzweiflung und im weitesten Sinne auch um Liebe, um dieses mehr hin zu einer höheren Macht, verstärkt mit Zitaten aus dem blauen Buch der AA. Es ging um das Annehmen der Krankheit und das Gottvertrauen. Es war so schön, so berührend für alle, auch für mich, dass wir beschlossen haben, wir machen das wieder.

Du bist auch zum Beispiel Botschafter des Deutschen Kinderhilfswerkes, hast in Bremen ein Zentrum für trauernde Kinder mit aufgebaut, machst gerade ein Theaterprojekt mit Kindern an einer Grundschule … Warum tust Du das alles?

Um weit wegzukommen von dem einst aufgeblasenen Markus, dem erfolgreichen Markus, der dann gescheitert ist. Und eben auch, um wieder etwas zurückzugeben an die Gesellschaft. Meine Umtriebigkeit, meine aktive Sucht … da wurde mir geholfen, mir der Arsch gerettet. Das Gesicht bestimmt noch nicht, vieles kann man auch nicht mehr rückgängig machen. Ich bin über jede Aktion dankbar, mit der ich bodenständiger werde. Einfach so normale Dinge tun und für andere ein bisschen da sein. Dafür habe ich auch mein Gebet: „Befreie mich von der Last meines übermäßigen Egos, gib mir die Chance, ein anständiger Kerl zu sein, nützlich und dienlich dieser Gesellschaft, damit dein Sieg über Narzissmus, Egoismus und Boshaftigkeit Zeugnis von deiner unendlichen Macht, Größe, Liebe und Führung ablegen möge vor den Menschen, denen ich helfen möchte. Möge ich immer deinen Willen tun.“ Das ist mein Gebet an die Higher Power, an die höhere Macht, für mich an Gott.

Den Buchtitel „Markus, glaubst Du an den lieben Gott?“ beantwortest Du also mit ja?

Ich wünschte manchmal, ich hätte den Titel mit einer Klammer versehen: Markus, glaubst du an den lieben(den) Gott? Aber „Markus, glaubst du an den lieben Gott?“ ist das, was meine Großmutter mich fragte. Sie hat mich beim Stibitzen erwischt und mancher kleinen anderen Unsäglichkeit. Sie wollte wissen, ob ich denn glaube, dass es einen Gott gibt, der alles sieht. Aus meinem kindlichen Verständnis heraus habe ich das so beantwortet: Ja, ich glaube an den lieben Gott, aber ich glaube nicht, dass er petzt … Ich dachte, der wird schon alles zulassen, was ich mache, der wird mir auch vergeben, wenn ich lüge und trickse. Er ist kein strafender, sondern ein lieber Gott, der alles verzeiht. Aber ich habe nicht gemerkt, dass ich mich damit selber und meine Umwelt schädige. Heute bin ich ganz glücklich, dass ich aus diesem kindlichen Verständnis heraus bin und weiß, dass es viel mehr ein liebender Gott ist. Ich habe festgestellt, wenn ich Zeiten hatte, in denen ich nicht mehr gebetet habe, weniger Fragen gestellt habe an Gott … da war das, wie als ob ein liebender Vater oder eine liebende Mutter – ich weiß ja nicht, ob es ein männliches oder weibliches Wesen ist – von seinem Kind nicht mehr beachtet wird. Und auch das hat er mir verziehen. Ja, ich glaube an einen liebenden Gott, der mich auf den Weg schickte in die Genesung und mir alles bereitet, dass ich ein von der aktiven Sucht befreites Leben führen kann.

Warum hast Du Dich 2013 mit dem Buch überhaupt öffentlich geoutet als drogen- und alkoholkranker und bisexueller Mensch?

Es gab ein Schlüsselerlebnis. Ich saß zum zweiten Mal bei „3nach9“ in einem Interview mit di Lorenzo, um etwas vorzustellen für „Die Dreisten Drei“. Und zum zweiten Mal bot er mir auch ganz stolz seinen selbstgezogenen Rotwein an und ich habe ihn zum zweiten Mal abgelehnt. Er hat dann etwas gebohrt, gesagt, das kann doch nicht sein! Ich habe erwidert, du, ich will einfach noch ein bisschen länger leben und erzählte ihm die Kurzfassung von meiner Sucht. Plötzlich, aus heiterem Himmel, in der Live-Sendung. So habe ich mich geoutet. Und dann dachte ich, wenn ich das mache, kann ich auch gleich ein Buch schreiben. Ich wollte ein bisschen Hoffnung unter die Leute bringen und bisschen von mir erzählen, wie ich es geschafft habe.

Hatte Dein Outing berufliche Auswirkungen?

Es war damals überhaupt noch nicht normal und es gehörte nicht zum guten Ton, sich so zu outen. Es gab, glaube ich, in der Branche einen Aufschrei. Ich habe weniger Aufträge bekommen, es wurde auch ein bisschen mit Fingern auf mich gezeigt, aber nicht schlimm. Das war so diese Anfangsphase. Heute ist es so, dass diese Outcomings Normalität erreicht haben, viele Kollegen reden darüber. Das hat aber bestimmt auch damit zu tun, dass wir uns alle ganz dolle an die Hand nehmen können, wenn wir wollen. Man kann miteinander darüber reden und das ist gar nicht mehr so tabu. Das wird immer besser, finde ich.

Du hast mit 15 schon Drogen genommen, später kam Alkoholmissbrauch dazu über Jahrzehnte … wie konntest Du aufhören damit?

Ich habe kalte Entzüge gemacht, mehrere, alleine. Ein Arzt hat mich auch zweimal in eine Klinik geschickt. Einmal in eine psychosomatische Klinik in Friesland und erst dort, das war 2008, habe ich es geschafft und bin in mein erstes AA-Meeting gegangen. Der Leiter der Klinik hatte mir auf den Kopf zugesagt, „Herr Majowski, Sie sind wahrscheinlich eher ein Säufer als jemand, der ein Burnout oder psychosomatische Probleme hat. Sie gehören eigentlich an die Tische, wo Leute sitzen, die dasselbe Problem haben wie Sie. Ich würde Ihnen empfehlen, das mal auszuprobieren.“ Dann bin ich in Oldenburg in Meetings gegangen, wo die alten Hasen saßen, und letztendlich habe ich mich dort sofort wohlgefühlt, es war wie eine mütterliche, väterliche Verbindung zu den Leuten. Ich habe mich allerdings anfangs nicht zugehörig gefühlt und tat so, als ob, weil ich noch dachte, dass ich das ja alles verdient habe – also dass ich ja unheimlich viel arbeite und ja unheimlich erfolgreich bin und mich ja auch entspannen muss und ja viel trinken darf, das kann doch gar nicht sein, nichts zu trinken. Aber ich fühlte mich trotzdem bei denen aufgehoben. Die haben mir keine Ratschläge gegeben, sondern das Gefühl, dass sie für mich da sind, wenn ich sie brauche. Und das hat sich auch bewahrheitet, ich habe den Kontakt zu ihnen nie verloren. Das war die Basis dafür, dass ich AA sehr, sehr doll vertraue. Ich habe das gleiche auch in jeder anderen Stadt erlebt – wenn ich zum Beispiel auf Tournee bin, bin ich immer in den Kontaktstellen der großen Städte – dass vieles über den Tisch geteilt wurde, richtig Tacheles geredet, und ich bin trotzdem sitzen geblieben, weil die mir einfach den Arsch gerettet haben. Und wenn ich in einer fremden Stadt kein Mittagsmeeting gefunden habe, dann habe ich eins gegründet, weil ich ja abends immer auf der Bühne stand.

Wie ist das, so als Prominenter an einem AA-Tisch?

Es kommt nie vor, dass die Frage nicht gestellt wird, wenn ich neu bin in einer Stadt: Du bist doch der Markus, der im Fernsehen so lustig ist, das kann doch gar nicht sein? Ich war am Anfang wahnsinnig traurig darüber, weil mir gesagt wurde, dass die Anonymität bewahrt wird und dass ich in Ruhe gelassen würde. Aber die Verbindung war dann doch so stark zu mir, weil ich die Menschen einfach zum Lachen gebracht hatte. Weil ich für viele die Kindheit bedeute oder die Jugend. Also viele haben mich bei den Dreisten Drei erlebt und deswegen ist immer die Freude größer als der Respekt. Die können ja in dem Moment nicht wissen, dass es mir weh tut, weil ich ja weg will von dem Ego, weg von der Popularität. Ich habe auch viele Jahre lang, während ich am Anfang bei den AA saß, aufgehört, meine Karriere voranzutreiben, ich bin in ein Riesenloch gefallen beruflich, aus dem ich nur sehr schwer wieder rausgekommen bin, weil ich mich nicht mehr bemüht habe um Jobs: Ich wollte einfach nur clean bleiben, trocken bleiben.

Wie bist Du dann trocken geblieben bis heute?

Mit Hilfe meines Sponsors. Mit Beten. Mit solchen Tricks wie in Hotels in fremden Städten die Minibars leerräumen lassen. Oder in jedem Supermarkt einen Umweg zu nehmen, um möglichst nicht in die Nähe von alkoholischen Getränken zu kommen, das war am Anfang bei mir immer ein unheimlicher Trigger, so bin ich nun mal gestrickt, das ist bei jedem anders. Ich habe viel telefoniert, viel AA-Service gemacht wie Kaffeekochen, Schlüsseldienst, Literaturdienst. So bin ich trocken geblieben. Vor allem auch durch dieses regelmäßige Meetinggehen jeden Sonntag und dann noch ein 2, 3 Mal in der Woche. Ich habe keine 90 Tage 90 Meetings geschafft, aber ich denke mal, 14 Jahre sind jetzt ins Land gegangen und ich habe keinen Suchtdruck.

Zum Trockenbleiben gehört noch mehr, im Buch steht, dass Du mehr das tust, was Dir gut tut, ob nun Sport, Yoga, Ernährungsumstellung …

Das kannst du gerne zitieren, das ist tatsächlich so, ich habe sehr viel für meinen Körper getan, mich mehr bewegt. Ich habe aber gerade wieder zugenommen, weil ich eine Knie-OP hatte und einen kleinen Herzkasper. Ich bin im Oktober auf der Bühne in Karlsruhe mit einer Herzrhythmusstörung ohnmächtig geworden. Im Krankenhaus haben sie mir in der Nacht noch einen Herzkatheter gesetzt und eine Thrombose herausgeholt. Sport ist also gerade für mich ein rotes Tuch, weil ich Knieschmerzen habe und leicht außer Atem komme. Ich mache im Frühjahr eine Kur in einer 12-Schritteklinik, um nochmal mehr Genesung in mein Leben zu lassen.

Inwiefern hat Dir Gott beim Aufhören und Trockenbleiben geholfen, wie kann ich mir das vorstellen?

Das ist schlicht und ergreifend ein Wunder. Ich hätte eigentlich viel öfter auf die Fresse fallen müssen. Aber Gott hat mir meine Grenze gezeigt. Er hat mich an den Ort geführt, an dem ich meine Kapitulation haben durfte und hat mir dann ein Leben gezeigt, was voller Wertschätzung ist, was alles etwas ruhiger angehen lässt, was mit Zuhören zusammenhängt, mit Selbstannahme und Selbstfürsorge. Ich nehme mich heute so, wie ich bin, weil ich merke, dass Gott mich liebt. Selbst, wenn es mal ganz, ganz schwierig ist – und das ist es oft in meinem Leben durch neue berufliche Herausforderungen, mangelnde Aufträge, Krankheit oder finanzielle Probleme –, bei aller Sorge bin ich gut aufgehoben und fühle mich geborgen und geliebt. Ich spüre ihn einfach. Ich spüre meine höhere Macht.

Hat Dich die Krankheit Alkoholismus etwas gelehrt?

Ja, generell hinzugucken auf das, was in der Welt schön ist, nicht dunkel und beängstigend ist. Die Sucht hat mich gelehrt, auf die kleinen Dingen zu achten, sie wertzuschätzen, so klein sie auch sind. Sie hat mich auch gelehrt, dass sie als Krankheit sehr gerissen ist, denn sie versteckt sich auch. Also ich kann meine Sucht verlagern und wenn es zu viel wird, ob das beim Arbeiten oder Essen ist, dann weiß ich sofort, das ist der Alkoholismus, der gerade woanders zuschlägt. Immer kann ich dann auf bewährte Werkzeuge zurückgreifen: Ich rufe jemanden an, bitte um Hilfe, gehe dahin, wo Leute sind, die mit der Krankheit Erfahrung haben, muss mit der Krankheit nicht alleine sein.

Jetzt sind mindestens noch eine Million Fragen offen, lieber Markus Zum Beispiel, wann, wo und weshalb hast Du getrunken oder wie hat Deine Ehe mit Barbara diese Zeit überstehen können oder … aber die Antworten darauf können die interessierten LeserInnen auf jeden Fall in Deinen beiden Büchern finden. Seit einem Jahr ist ja auch Dein aktuelles auf dem Markt: Markus, mach mal! Runter vom roten Teppich, rauf auf die Leiter“, Plassen-Verlag. Die Buchbesprechung dazu gibt es in der nächsten Ausgabe. Danke für das Gespräch!

 

Das Gespräch führte Anja Wilhelm

TrokkenPresse 6/22: Das Trockenbau – Zirkuswagenprojekt

Suchthilfe auf neuen Wegen

Der Trockenbau – Zirkuswagenprojekt e.V. in Vorpommern stellt sich vor:

Lütt Matten und … sein Heimathafen

Die Kleinstadt Barth am gleichnamigen Bodden war seit einigen Jahren fast ein Suchthilfe-Niemandsland. Aber genau das ändert sich gerade: Der Stralsunder Verein Trockenbau – Zirkuswagenprojekt e.V., vor zwei Jahren gegründet, durfte nämlich den großen städtischen Obstgarten in Barth pachten. Die Vision: Das Leben nüchtern und klar sinnvoll gemeinsam gestalten. Entstehen soll „Ein Zirkuswagendorf, klein und fein, an einem verwunschenen Ort, für Menschen, die Rückzug brauchen, gemeinsam werkeln und teilen!“ Wie das mit Suchthilfe zu tun hat und woher Idee, Kraft und das Geld dafür kommen …

Das Morgen: Das Meer duftet herüber, mitten in den alten Obstgarten herein. Der scheint riesig, fast ein halbes Fußballfeld weit. Äpfel, Birnen, Pflaumen wachsen hier. Und dazwischen leuchten bunte Zirkuswagen. Fröhliche Familien verbringen ihren preiswerten Urlaub darin. Aus einem riecht es nach Kaffee und Kuchen, er ist das mobile Café. Hie und da sägt und hämmert es: Ein alter Bauwagen wird gerade restauriert. Auf einem großen Grill brutzelt etwas, könnte Fisch sein. Auf einer kleinen Bühne trommelt sich jemand ein für sein Konzert am Abend, zu dem wie immer auch wieder Einwohner und Urlauber kommen werden … So, ja so ungefähr könnte es in den nächsten Jahren hier sein. Ein bunter Garten der fröhlichen Begegnung, offen für alle. Ein Heimathafen, so hat der Verein ihn genannt, nicht nur für Suchtkranke, sondern für alle Barther Bürgerinnen und Bürger. Das ist der große Plan, erklärt Dirk Steiniger, der stellvertretende Vereinsvorstand. Übrigens ist er auch selbst alkoholkrank – und Suchtberater.

Im Heute: Ein Zirkuswagen ist inzwischen fast fertiggestellt und steht noch auf dem Gelände des Strahlwerks in Stralsund. Fertig bedeutet: Von einem alten, typischen DDR-Bauwagen wurde das Oberteil abgerissen, das Untergestell entrostet, lackiert, dann das Oberteil mit Holz neu aufgebaut. Die alten Türen und Fenster erneuert und wieder eingesetzt. Aus alt mach neu. Da steht er nun und wird seinen endgültigen Stellplatz im Garten der Begegnung in Barth finden. Lütt Matten ist sein Name, liebevoll benannt nach der Hauptfigur eines Kinderbuches von Benno Pludra, „Lütt Matten und die weiße Muschel“. Jeder Wagen wird einen Namen bekommen, das steht fest. Das ist was Persönliches. Denn in Lütt Matten steckt viel mehr als die bloße Arbeit: Nämlich die neu gewonnene Lebensfreude und der wiederentdeckte Lebensmut der suchtkranken Menschen, die mithalfen. Ob beim Sägen, Schleifen, beim Sandstrahlen oder Lackieren – etwas zu tun, etwas Sinnvolles mit den eigenen Händen zu erschaffen, das erfüllt, schenkt Selbstwertgefühl und Zufriedenheit. Gedanken an Alkohol und Drogen sind dann ganz weit weg.

Das ist auch das besondere Ziel des Vereins?

Dirk: Ja. Ich war es leid, ich hatte das fünf Mal stationär in einer Therapie, dass ich in der Ergotherapie Körbe geflochten habe, meine Muddi hat heute noch den halben Keller voll damit. Ich habe damals gedacht, es muss doch andere Wege geben! Und dann entdeckte ich zufällig Ulliwood in Schleswig-Holstein. Das sind Leute, die nichts mit unserem Thema zu tun haben, sondern sich vor 30 Jahren fanden und einen Zirkuswagen nach dem anderen aufgebaut haben, wodurch eine richtige Dorfgemeinschaft entstanden ist. Ich habe sie besucht und dachte dann: Ok, das kann man vielleicht einnorden, um etwas für Menschen mit Sucht tun zu können. Meine Freunde fanden die Idee auch gut, und so haben wir gemeinsam den Verein gegründet.

Wer sind denn nun die Menschen, die hier mithelfen beim Bauen?

Vor allem alkoholkranke, polytoxe Menschen, auch mit Doppeldiagnose, also Angst, Depressionen. Sie kommen von den Nachsorgeeinrichtungen im Umfeld, die Arbeitstherapeuten sind mit dabei. Aber auch Leute aus dem Ort, Rentner, Flüchtlinge, Arbeitssuchende, die sich alleine fühlen oder langweilen, Menschen, denen das Projekt gefällt, schauen vorbei.

Aber es braucht doch auch Fachleute, Handwerker?

Das ist schwierig, Handwerker zu finden, denn sie sollen ja auch kaum Geld kosten. Deshalb ist es meist temporär. Für Lütt Matten hatten wir einen jungen Tischler hier für ein paar Monate, der uns angeleitet hat. Jetzt haben wir einen Frührentner da, der handwerklich sehr beschlagen ist und gerade eine mobile Bühne mit uns baut, solche Leute sind wie Goldstaub. Begeistert von der Idee, unserem Hintergrund. Der Bernd kommt aus Kiel, ist auch viele Jahre trocken und clean, und kennt das auch alles so wie ich, mit richtig runter, auf der Straße leben …

… und kann nebenbei seine Sucht-Erfahrungen ja auch weitergeben?

Ja, wenn die Leute fragen, Mensch, wie habt ihr denn das gemacht, das wär vielleicht ein Weg für mich, lass uns mal drüber reden? Solche interaktiven Gespräche, wir verbringen ja manchmal den ganzen Tag zusammen, beim Essen, bei der Arbeit, im Tagesablauf, gehören auch dazu. Und eine Tagesstruktur anzubieten übrigens sowieso, das ist das A und O, das wissen wir ja selber.

Wie haltet ihr die abhängigen Menschen noch interessiert und „dabei“?

Wir binden sie mit ein in die Planung zum Beispiel. Wir kaufen eben kein Untergestell neu, sondern machen es neu. Das heißt, wir machen uns mit den Klienten gemeinsam einen Kopf: Wir haben etwas Altes da, was können wir daraus machen? Wir entscheiden gemeinsam. Ich habe genügend eigene Therapieerfahrung, um zu wissen, wenn man was vordiktiert bekommt, dann hat man weniger Bock. Oder eben mit mal ganz anderen Ideen: Die alten Bauwagen, die schon dastehen, werden im Frühjahr von unseren Leuten besprayt, innerhalb einer Werkstattwoche, da kommt extra ein Sprayer aus Berlin her zum Anleiten. Wir wollen die KlientInnen für auch mal andere Dinge öffnen, denn in der Klinikstruktur ist der Ablauf ja immer der gleiche, aber wir können da ein bisschen innovativer sein und mehr auf die einzelnen eingehen. Zum Beispiel kann ich, als Entspannungstherapeut, auch mit Klangschalen arbeiten, das wollen wir einfach mal mit einbauen, wir nehmen zwei, drei Klangschalen und gehen zwischendurch an den Strand und klingen die an. Mal schauen, wie das wirkt auf die Jungs, vielleicht sagen die, da hab ich keinen Bock drauf, aber vielleicht ist jemand dabei, der sagt, ey cool!

Wie oft arbeitet ihr momentan zusammen?

Je nachdem, wie die Handwerker Zeit haben, da wird alles rundherum organisiert. Momentan ein bis zwei Mal die Woche. Im nächsten Jahr  soll es häufiger werden. Morgen wollen wir zum Beispiel gemeinsam bauen und grillen, übermorgen kochen wir hier zusammen eine Bohnensuppe.

Wie viele Menschen sind dann meist da?

Das könnten noch viel mehr sein. Fünf, sechs. Oder tagelang nur einer, da sind wir gerade in Barth im Aufbau. Wir wollen mehr Leute einbinden und nicht nur Süchtige. Im normalen Leben ist es ja auch so, dass die Süchtigen nicht nur unter sich sind oder sein sollen.

Woher kommt das Geld, das ihr benötigt?

Das ist der schwierige Punkt. Zum einen aus Fördertöpfen, z.B. der Kriminalprävention oder von der  Ehrenamtsstiftung. Zum anderen von Menschen, die dem Verein wohlgesonnen sind, die soziale Projekte unterstützen, z.B. der Lions Club, der Rotary Club. Wir klopfen an viele Türen. Da war eine Frau, deren Mutter war Alkoholikerin und als wir erzählten, was wir machen, zum Beispiel von den Bauwagen, die wir umsprayen wollen und dass da einer 1000 Euro kostet … da sagte sie, wisst ihr was, dafür gebe ich euch schon mal die 1000 Euro! Das ist Arbeit, immer wieder die Geschichte zu erzählen, die Leute vor allem mitzunehmen: an der und der Stelle brauchen wir eure Hilfe … Und der dritte Pfeiler, den wir langsam angehen, sind Benefizveranstaltungen, wie der Rilke-Abend mit Schauspieler Markus Majowski, auch lange Jahre trocken. Inzwischen ein guter Freund von uns und öfter hier. So ein Schirmherr pusht unsere Sache natürlich.

 Du bist ja Feuer und Flamme für euer Projekt …

Ja! Es ist meine Lebensaufgabe geworden. Die AA nennen es den zwölften Schritt. Die Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilen. Also das weiterzugeben, was mir Gutes widerfahren ist vor vielen Jahren, als ich auf der Straße gelebt habe in Hamburg und mir da ein paar Leute die Hand gereicht haben und ich die gottseidank ergriffen habe … Und nun ist der Punkt gekommen, an dem ich das eins zu eins, und andere natürlich hier auch, weitergeben kann. Das hält mich auch selber nüchtern.

Schritt für Schritt für Schritt geht es nun nach Lütt Matten weiter. Der Vision entgegen. Gerade ist im Heimathafen eine mobile Bühne – aus einem restaurierten Untergestell und Holz-Planken – fertig geworden. Für Konzerte, Lesungen, Gesprächsrunden. Ab Januar 2023 wird, losgelöst vom Verein, ein Raum angemietet für eine neue Selbsthilfegruppe. Die erste seit drei Jahren in Barth. Und über den Winter werden die jetzigen Helfer nicht etwa gemeinsam nichts tun, sondern dies: Die einstigen Modellhäuser vom Rathaus, der Kirche u.a., die etwas verloddert im Obstgarten herumstanden, werden in den Nachsorgeeinrichtungen schick gewerkelt, damit sie wie frisch dann im Frühjahr wieder in den Heimathafen können …

Wenn Sie mitmachen wollen, Fördermitglied werden oder spenden möchten:

www.zirkuswagenprojekt.de
Email: trockenbau2020@gmx.de
Bankverbindung für Spenden:
TROCKENBAU – das Zirkuswagenprojekt e.V.
Sparkasse Vorpommern
IBAN: DE51 1505 0500 0102 1103 79
BIC: NOLADE21GRW

TrokkenPresse 5/22: Arbeiten u n d trinken wie die Männer?

Interview mit Autorin Eva Biringer über den steigenden Alkoholkonsum von Frauen

Arbeiten u n d trinken wie die Männer?

Ur-Omi nippte damals am Eierlikör, und das vielleicht einmal im Monat mit einer Bekannten. Derweil kippte Ur-Opa in der Kneipe gegenüber Bier und Schnaps – und das nicht nur einmal im Monat. Doch seit 25 Jahren, besagt eine weltweite Studie, hat sich das Trinkverhalten angeglichen. Männer trinken etwas weniger, Frauen inzwischen viel mehr Alkohol. In Deutschland ist inzwischen fast die Hälfte aller Alkoholkranken eine Frau, besagen aktuelle Statistiken. „Je emanzipierter ein Land ist, desto eher trinken die dort lebenden Frauen“, stellt Eva Biringer in ihrem Buch „Unabhängig“ fest, das wir in der vergangenen Ausgabe vorstellten. Die heute trockene Autorin gehört mit ihren 32 Jahren und ihrer Karriere als Food-Journalistin selbst der Generation Frauen an, die es normal findet, zu arbeiten u n d zu trinken wie die Männer.

Was hat das mit Emanzipation zu tun, wenn Frauen heute viel mehr trinken?

Eva Biringer: Einerseits hat Alkohol die Wirkung, die er hat: Er nimmt scheinbar die Sorgen, man fühlt sich leicht beschwingt und das ist natürlich ideal, wenn man den ganzen Tag nicht weiß, wo einem der Kopf steht als Frau, vielleicht auch noch als Mutter, aber auch als Frau, die einen Job hat, der sie fordert. Dann ist da das Glas Wein am Abend der erste Moment, in dem man sich mal was Gutes tut – mal durchatmen, mal Zeit für sich. Andererseits wird Alkohol für Frauen heute auch als Emanzipation verkauft. Sie können heute alles machen, denselben Job wie Männer, können sich selbst verwirklichen, ihr eigenes Lebensmodell wählen: Warum sollen sie dann nicht auch trinken wie die Männer? Dieses „Sex in the City“-Beispiel, das sind Frauen mit tollen Jobs, die sich ihre 15-Dollar-Martinis gönnen und in der Öffentlichkeit trinken. Natürlich nicht zu viel, das ist das Perfide daran, dass das weibliche Trinken sehr wohl reglementiert wird, nämlich dass eine besoffene Frau total abstoßend ist, noch viel abstoßender als ein Mann. Das heißt, man bewegt sich auf einem sehr schmalen Grat zwischen nicht trinken, was komisch ist, denn dann hat man ja ein Problem, und viel trinken, was auch nicht geht – aber eine Frau, die nicht sichtbar betrunken, aber maßvoll in der Öffentlichkeit trinkt, die hat schon was Glamouröses, wenn es nicht der Wodka direkt aus der Flasche ist. Ein Cocktail, ein besserer Wein oder Prosecco, das ist so: Okay, die gönnt sich was.

Trinken Frauen anders und aus anderen Gründen als Männer?

Ich habe eher getrunken, um was zu erleben, zu fühlen, weil ich gerne starke Empfindungen mag, aber ich bin damit eher ein Gegenbeispiel: Viele Frauen trinken, um Gefühle nicht fühlen zu müssen, um sich zu betäuben. Sie trinken auch gegen Ängste und Depressionen an, anders als Männer, die oft nach außen gehen, auch im wortwörtlichen Sinn, nämlich eher in der Öffentlichkeit trinken als Frauen, die, wenn sie problematisch trinken, eher Zuhause trinken … weil es etwas Schambehaftetes hat, das weibliche Trinken – und weil sie da auch einfach sicherer sind, denn eine betrunkene Frau kann eher Opfer einer Gewalttat werden als eine, die nicht betrunken ist. Mit dem Trinken neigen Männer dann eher zu aggressivem, gewaltbereitem Verhalten, bei Frauen dagegen verstärken sich Angstzustände und Depressionen meist.

Werden Frauen schneller abhängig?

Ja, der weibliche Körper kann Alkohol schlechter abbauen, verstoffwechseln. Frauen werden aber nicht nur schneller abhängig, auch die körperlichen und die psychischen Schäden wie Depressionen und Angstzustände durch Alkohol sind sehr viel ausgeprägter als bei Männern, bis hin zu einem mehr als doppelt so hohen Sterblichkeitsrisiko. Deswegen gibt es auch die Empfehlungen, dass Frauen viel weniger trinken sollten als Männer, maximal die Hälfte.

Müsste es dann für Frauen nicht eine spezielle Frauentherapie geben?

Ja, ich bin sehr dafür, dass es eine geschlechterspezifische Suchttherapie gibt, oder mehr, als es gerade der Fall ist: Weil Frauen viel mehr aufgebaut werden müssen. Deswegen lehne ich auch das AA-Konzept ab, bei dem man sich erst mal klein machen muss und sich entschuldigen bei allen, denen man Unrecht angetan hat. Denn das machen Frauen doch sowieso die ganze Zeit. Ich glaube, Frauen müssen bestärkt werden. Das funktioniert, denke ich, am besten in einer Frauengruppe, nicht in einer gemischten Gruppe, ich habe es selbst erlebt. In einer gemischten Gruppe reißen die Männer dann doch wieder das Wort an sich – aber in einer Frauengruppe fühlt man sich doch eher wie in einem geschützten Raum und kann besser auf die geschlechtsspezifischen Probleme eingehen.

Mir ging es selbst so, in der Therapie gab es gemischte Gruppen und ich konnte mich da nur schwer öffnen …

Ja, diese Erfahrung haben viele Frauen gemacht. Ich sage jetzt nicht, dass es keine erfolgreichen gemischten Therapien gibt, aber ich hatte den direkten Vergleich, meine Aufnahmegruppe in der ambulanten Therapie war gemischt, später war es eine Frauengruppe. Das war eine ganz andere Stimmung. Ich glaube, Frauen trauen sich dann mehr, offenbaren sich eher vor anderen Frauen und man kann auch von Seiten der Therapeuten anders herangehen, also eine speziell auf Frauen zugeschnittene Therapie anbieten.

Auch die Werbung trägt ja dazu bei, dass Frauen mehr trinken, sie spricht sie zielgerichtet an, Frauen als Absatzmarkt. Woran kann frau das erkennen?

Durch die Art der Getränke, denn wie alles in der Welt ist ja auch das Trinken gegendert. Also wird der Mann eher durch die Werbung mit einem Whisky oder Cognac angesprochen und die Frau eher mit einem Rosé, mit Sekt, mit Getränken, die weniger Alkohol enthalten, süßlich schmecken und auch niedlich daherkommen, so wie sie aufgemacht werden. Dann ist es natürlich die Mädels-Prosecco-Runde, die dargestellt wird in der Werbung, bei den Männern eher der Biergartenbesuch. Das Perfide ist aber auch die versteckte Werbung. So viele Serien, Filme, Bücher sind bildprägend. Oder Instagram, die sozialen Medien, es ist ja überall das Bild der elegant trinkenden Frau, die sich auf jeden Fall unter Kontrolle hat und nicht betrunken vom Barhocker kippt, aber die trinkt. Und die das als selbstverständlichen Teil ihrer Weiblichkeit betrachtet. Das finde ich fast noch gefährlicher, weil man es gar nicht als Werbung erkennt und es sich sofort abspeichert: ah ok, ne Frau, die im Leben steht, etwas aus sich macht, die trinkt – na dann trink ich doch auch.

Warum hast Du eigentlich Dein Buch geschrieben?

Weil ich in der Zeit, bevor ich aufgehört habe, super viel gelesen hatte, alles, was ich gefunden habe zum Thema Alkoholismus. Jedes dieser Bücher hat mir etwas gegeben, manches mehr, manches weniger, aber die Geschichten von anderen fand ich sehr, sehr hilfreich auf meinem eigenen Weg, gerade die Geschichten von Frauen. Mir war immer klar, wenn ich es mal schaffe, aufzuhören, dann wird es für mich so krass sein, so lebensumwandelnd, dass ich das irgendwann aufschreiben muss. Auch für andere.

Du bezeichnest Dich heute nicht mehr als Alkoholikerin, warum?

Nicht „nicht mehr“, ich habe mich auch früher nicht als Trinkerin bezeichnet, weil ich den Begriff nicht mag. Ich weiß, es ist ein heikles Thema, aber ich habe das für mich so entschieden. Ich habe auch mal geraucht, dann aufgehört und bin seitdem keine Raucherin mehr. Ich hatte ein Problem mit Alkohol, auch eine Abhängigkeit, aber Alkoholikerin … das definiert dich ein Leben lang als Person, und so sehe ich mich nicht. Dieses klassische „Ich bin Eva, ich bin Alkoholikerin“, das passt für mich einfach nicht. Weil es sofort ein Bild aufruft, das wieder Teil des Problems ist, weil viele dann sagen, „Na, ich bin aber nicht die Frau, die morgens schon ihren Wodka reinkippt, die ist Alkoholikerin, ja. Ich trinke ja einfach nur ein bisschen zu viel.“ Da muss man aufpassen, dass es nicht andersrum funktioniert, als Rechtfertigung zum Trinken. Ich mag den Begriff nicht und jetzt erst recht nicht mehr. Ich trinke keinen Alkohol mehr, da bin ich doch erst recht keine Alkoholikerin mehr.

 

TrokkenPresse 4/22: Mit Butterbrot und Bibel

Als Suchthelfer in der Ukraine:

Mit Butterbrot und Bibel

„Ihr“ Mariupol ist heute ein anderes … eine hungernde und dürstende Stadt in Trümmern. 18 Jahre lang war dieser Ort für die Suchthelfer Heinz und Martina Nitzsche aus Mecklenburg eine zweite Heimat. In der sie hunderten alkohol- und drogensüchtigen Menschen, ihren Kindern, vielen Obdachlosen und Kranken halfen, ein neues, besseres Leben beginnen zu können. Sie bauten eine Gemeinde auf, eine Gottesdiensthalle, Blaues-Kreuz-Gruppen, ein Kinderheim, ein Hospiz, unterstützten eine Obdachlosenzuflucht und kleine Reha-Zentren.

Kartoffelkäfer also. Martina steht in ihrem weiten Garten, von Ferne summt die Autobahn nach Rostock herüber. Sie beugt sich über eine Kartoffelpflanze. Aha! Ein Gelbbraungestreifter wird sachte ins Schraubglas gelegt. Aus dem Nachbarbeet blinzelt es rot, ein paar Erdbeerchen könnten gepflückt werden. Und Unkrauthacken wäre auch mal dran. Aber immer kommt was anderes dazwischen, das ihr viel wichtiger ist: „Menschen gehen immer vor!“ Ebenso ergeht es Heinz, der gerade über die vorlauten Gänse lächelt, die Hände voll mit frischen, braunen Hühnereiern.

Ein beschauliches Rentnerdasein könnten sie führen, hier in ihrem Linstow, während in ihrer einstigen Wahlheimat Menschen sterben. Aber das kommt ihnen nicht mal in den Sinn. Erst heute Morgen waren beide schon unterwegs ins Nachbardorf zu einer ukrainischer Flüchtlingsfamilie, der Herd war kaputt, ein Elektriker schnell organisiert. Und jetzt, auf dem Weg über die stille Dorfstraße in ihre kleine Wohnung im Haus der Tochter, tönt ein helles „Hallo, Martina“ aus einem anderen Haus, an dem gerade gebaut wird. Ein kleiner ukrainischer Blondschopf winkt fröhlich aus dem Fenster. Flucht-Ende bei einem von Nitzsches erwachsenen Kindern.

Martina und Heinz haben seit Kriegsbeginn immer wieder organisiert, dass diese Menschen hier in der Gegend eine erste Unterkunft finden. Vor allem Freunde, Bekannte und Mitarbeiter aus Mariupol mit ihren Familien. Darunter viele ihrer früheren Schützlinge, einst alkohol- oder drogensüchtig, heute frei Gewordene, wie beide es nennen. Nun freuen sie sich, dass die Gemeinde Kuchelmiß zehn Wohnungen in einem älteren Mietshaus zur Verfügung gestellt hat …

Während Martina daheim dann die Kartoffeln aufsetzt, eigene Ernte vom letzten Jahr, und den frischen Heringssalat umrührt, den Heinz so gerne mag, blubbert die Kaffeemaschine friedlich. Alles ist so friedlich hier. So sorgenfrei. Und Martina denkt an Mariupol in Trümmern. „Aber auch, wenn die Häuser, die wir mitaufgebaut haben, nun kaputt sind oder nicht mehr nutzbar – sie waren doch nur ein Instrument, damit wir arbeiten konnten. Das Eigentliche sind die Menschen. Die meisten sind heute noch trocken, trotz des Krieges! Dafür braucht man ein Fundament. Bei uns ist das der Glaube, und dieses Fundament durften wir ihnen damals weitergeben. Also hat es sich gelohnt, das Leben dort.“

Als Blaukreuz-Suchthelfer in die Ukraine

 Wieso wollten Sie 2001 dorthin, um zu helfen?

Martina: Die Geschichte geht viel früher los. Heinz hatte schon immer ein großes Herz für die Randgruppen der Gesellschaft. Und zu denen gehörten in der DDR eben auch die russischen Soldaten.

Heinz: Bei uns nahe Riesa sind sie immer die Straßen lang gekommen in ihren Panzern, wir haben uns draufgesetzt als Kinder, die Mützen aufprobiert und Abzeichen ausgetauscht.

Martina: Und als wir dann verheiratet waren, haben wir immer was verteilt an diese Leute, russische Bibel-Schriften, Schokolade, später sogar eine große Weihnachtsfeier organisiert. Nach der Wende sind wir sofort nach Russland gefahren, um unsere Freunde zu besuchen. Zweimal hatten wir da ein Erlebnis: Betrunkene lagen am Straßenrand, ein LKW fuhr vor, zwei Männer öffneten die hintere Ladetür, griffen die Menschen an Armen und Beinen und schmissen sie ins Auto. Was passiert jetzt mit ihnen?, fragte ich. Die kommen erst mal einen Tag in die Ausnüchterungszelle. Das nächste Mal für zwei Tage, dann für fünf und dann ins Arbeitslager … Ich sagte, aber das geht doch nicht! Die Menschen werden doch schlimmer davon. Die brauchen Liebe und dass jemand ihnen Wege aufzeigt, wie man rauskommt aus der Sucht!

 Und da mussten Sie etwas tun?

Martina: Ja. Wir haben immer in christlichen Gemeinden übernachtet auf unseren Wegen, auch durch die Ukraine. Und dort unser Anliegen geschildert, Alkoholikern zu helfen. Da war gar kein Verständnis da. Das seien Menschen dritter Klasse, Schweine. Und so haben wir erst mal angefangen, ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass das Menschen sind, die das gar nicht wollen, wie sie sind. Und Erbarmen brauchen von uns. So entwickelte sich das, bis hin zu Gruppenstunden. Aber immer, wenn wir in unserem Urlaub wieder dort waren, war es wieder eingeschlafen. Heinz meinte, es müsse jemand immer vor Ort sein. Aber als Mutter von fünf Kindern wollte ich nicht weg, solange sie mich brauchen. Als dann später aber unser jüngster Sohn tödlich verunglückte, der uns noch am meisten gebraucht hatte, wusste ich: Ich bin jetzt freigestellt. So sind wir 2001 aufgebrochen. Ohne zu wissen, was auf uns zukommt.

Und ohne Geld …

Heinz: Unser Antrag bei der EU auf Finanzhilfe für das Projekt wurde abgelehnt. Wir verließen uns nun auf Gott.

Martina: Und dann hat der riesige Freundeskreis uns hindurchgetragen. Ein Geschenk von Gott, dass er die Menschen dazu bewegt hat. Wir hatten viele und lange Durststrecken, aber wir haben immer wieder das Wunder erlebt, nicht hungern zu müssen und immer das zu haben, was wir zum Leben brauchten. Und dass wir bauen konnten, herrichten. Wir haben wirklich den lebendigen Gott erlebt: Dass er da ist und die Seinen nicht im Stich lässt.

Wo habt ihr gelebt?

Martina: Freunde hatten uns ein uraltes kleines Häusel gekauft. Und schon die verrotteten Fenster und Türen rausgerissen, um uns was Gutes zu tun. Aber wir hatten ja kein Geld. Der Müll war noch nicht abgefahren, also haben wir alles wieder eingebaut. Die Leute dort haben uns beobachtet und gesehen, dass wir nichts Besseres sind und genauso im Dreck sitzen müssen wie andere, die immer arbeiten und arbeiten und es reicht hinten und vorne nicht. Inzwischen hatten wir auch schon Straßenkinder angesprochen, bei denen Vater und Mutter tranken. Sie kamen dann regelmäßig zu uns zum Essen, weil es zuhause nichts gab.

Heinz: Bei einem der Kinder, einem sechsjährigen Mädchen, stellte sich bei einer ärztlichen Untersuchung Syphilis heraus – die Mutter hatte das Kind verkauft für Alkohol und Drogen …

Wie war damals die Suchtsituation dort?

Heinz: Schlimmer als in Deutschland, es gab mehr Alkoholiker …

Martina: Unsere Alkoholkranken wurden ja sozial aufgefangen seit der Wende. Und so war das dort nicht.

 Gab es Therapien?

Heinz: Nicht so wie hier. In Mariupol gab es eine Psychiatrie, wo Abhängige entgiftet wurden. Der Doktor sagte: Ich entgifte sie, dann kommen sie wieder. Da ist keine Perspektive da. Als einige seiner Drehtürpatienten später aber nicht mehr kamen, weil sie inzwischen unsere Gruppenstunden und Gottesdienste besuchten, wusste er, dass wir ihnen mit dem Glauben ein Fundament anbieten. Diese Chance sollen alle bekommen, sagte er – und so begann unsere Arbeit in der Klinik.

Aber was genau haben Sie nun gemacht?

Martina: Einfach das Leben geteilt. Zum Beispiel zu jedem Besuch in der Klinik einen großen Berg Butterbrote mitgebracht …

Butterbrote?

Martina: Ja, anders als bei uns mussten Kranke von ihren Verwandten mit Essen versorgt werden – aber diese wollten von den Trinkern ja nichts mehr wissen. Also hatten sie immer Hunger. Wir haben ihnen Bibeln gebracht, mit ihnen gesungen, Andachten gehalten oder einfach nur mit ihnen geredet. Sie sind dann in unsere Gottesdienste, zu Blaukreuzstunden gekommen, wieder gegangen, manche sind geblieben oder irgendwann wiedergekommen. Eine Sache über Jahre. Die, die „frei“ geworden sind, haben sich dann auch mit eingebracht und wieder etwas aufgebaut. Oder sind in eine Art Rehazentrum, kleine Häuser mit vier bis fünf Zimmern, pro Zimmer fünf Menschen. Da wird zusammen gelebt, gebetet, mit Garten und Vieh das Leben gemeinsam bestritten. Und wir waren zu Hausbesuchen unterwegs, wenn wir Hinweise bekommen haben, wer Hilfe braucht, haben eine Kleiderkammer aufgemacht, jeden Montag im Obdachlosenasyl Suppe ausgeteilt, später auch ein Hospiz gegründet …

Woher kam das Geld dafür?

Martina: Aus vielen Gemeinden und Kirchen, von vielen, vielen Freunden und Bekannten, die haben das alles mitgetragen, auch die Lebensmittel-, Kleider- und Möbelspenden, die Baumaterialien. Unmengen an humanitärer Hilfe in LKWs kamen an. Da sind wir sehr, sehr dankbar!

In welcher Sprache haben Sie sich ausgetauscht?

Martina: Ich habe jeden Tag mit Zetteln an der Wand acht neue Worte Russisch gelernt, mein Wortschatz wurde groß, nur reden konnte ich damit nicht. Die Dolmetscherin meines Mannes, er brauchte sie für die Behördengänge, sagte: Du musst einfach reden! Und je mehr ich mit den Menschen sprach, verstanden sie mich besser. Den Heinz haben seine Männer auch so verstanden, in seiner Gestik, Mimik, der Art des Umgangs – sie wussten genau, er wollte ihnen nur Gutes. Wir haben einfach Liebe ausgeteilt. Der Mantel der Liebe passt jedem – da brauchts nicht viele Worte.

Und wie ging Ihre Arbeit mit den Alkoholikerkindern, die zum Essen kamen, weiter?

Heinz: Im ärmsten Gebiet von Mariupol haben wir den Bau eines Kinderhauses organisiert …

Martina: … und was da passiert ist an den Kindern, kann man sich nicht vorstellen. Regelmäßiges Duschen, Hausaufgabenhilfe, Wäsche waschen, Spiele, zwei Mahlzeiten am Tag, sie waren ja immer hungrig, weil sich die suchtkranken Eltern nicht um sie kümmern konnten. Unsere Bedingung war, wenn sie in die Schule gehen, dürfen sie nachmittags in die Betreuung kommen, also sind sie in die Schule gegangen … wurden gute Schüler, fingen an, ihr Leben anders zu leben als die Eltern. Die Kinder haben dann ihre Eltern zu uns eingeladen, so sind wir an die Eltern gekommen – und so haben auch viele von ihnen dann ein neues Leben beginnen können. Als unser Sohn verunglückte, das war eine sehr harte Zeit, aber Gott hatte seinen Plan. Denn wie viele Kinder hätten keinen guten Weg gehabt, wie viele Mütter und Väter, wenn der Herrgottt Andreas nicht genommen hätte. Ich wäre sonst ja nicht dorthin gegangen. Und jetzt sind das alles meine Kinder …

Zum Beispiel Tanja

Eines Winters bat ein Mädchen aus dem Kinderheim darum, ihre Mutter suchen zu helfen, sie könnte sonst draußen erfrieren, alkohol- und drogensüchtig. Heinz und Martina machen sich mit Helfern auf den Weg durch die Stadt. Gefunden wurde sie in einem Krankenhaus, auf 33 kg ausgemergelt, an Aids erkrankt im letzten Stadium, der Arzt gab ihr nur noch wenige Monate … Sie wollte Nitzsches unbedingt sprechen, von denen sie zuvor gelesen hatte. „Ich muss mich bekehren“. Sie legte ihre Lebensbeichte ab, entschlossen, ab jetzt Gott zu leben. Später, aus dem Krankenhaus entlassen, wollte niemand die Obdachlose aufnehmen, aus Angst vor Ansteckung. Also nahmen Nitzsches sie in ihre eigene Enge mit auf, die Stube bekam eben ein Bett. Denn jemanden, der ein neues Leben angefangen hat, wollten sie nicht auf die Straße zurückschicken. Und heute? Sie lebt! Und zwar glücklich und fröhlich in Deutschland. Trocken und clean. „Und so hatten wir viele, viele Menschenschicksale, die wir mitbegleiten durften … ja, einfach durchs Leben teilen“, erinnert sich Martina.

Der Krieg

Das Dach des Hospizes ist heute zerbombt. Das Obdachlosenheim auch. Einiges steht noch, darunter die Gottesdiensthalle. Aber niemand ist mehr da, der sie nutzen könnte. Die meisten Mitarbeiter und Freunde sind geflohen. Viele in die Westukraine oder nach Deutschland – einige auch über große Umwege wie Schützling Dima, erzählt Martina. Er wurde in Mariupol in einem russischen Zug nach Kasachstan in ein Lager geschafft, entkam aber über Georgien bis nach Fulda. In die Sicherheit. Wenn er noch in seinem alten Leben gesteckt hätte, hätte er das nie geschafft, meint Heinz. Dima habe ein Fundament. Den Glauben. Wie viele der Geflüchteten, die bis hierher nach Linstow oder Kuchelmiß in die offenen Arme der Nitzsches fanden.

Während Martina die Mittagsteller spült und Heinz es sich mit seinen 78 im Sessel etwas bequemer macht, sind sie wie oft in Gedanken bei denen, die nicht hier sein können. Bekommt der eine überhaupt noch sein Insulin? Haben alle zu essen und zu trinken? Ein befreundetes Ehepaar meldet sich schon lange nicht mehr, niemand weiß etwas … Nitzsches telefonieren viel. Es soll kaum Trinkwasser geben, wenige und dann sehr teure Lebensmittel und nur mit einem russischen Pass zu erhalten, dafür täglich russische Propagandafilme per Bildschirmen auf Autos. Versuchte Gehirnwäsche. Und bei der 9. Mai-Kundgebung zwar jubelnde Mariupoler im russischen TV, aber mit Kalaschnikows im Rücken.

Heinz und Martina sind jedenfalls der Meinung, ihre Ukrainer werden sich niemals ergeben. Sie wollen nicht in die Knechtschaft zurück, nachdem sie das Leben in Freiheit kennengelernt haben, weiß Martina. Selbst die Russischstämmigen seien jetzt ukrainisch denkend. Ein Freund habe am Telefon gesagt: „Ich gehe keinen Schritt zurück. Wir verteidigen die Ukraine bis aufs Letzte.“

Auch und erst recht in großen Krisen wie dieser hilft ihnen und ihren Schützlingen der Glaube. „Ich darf immer wissen, er hält mich. Ich fühle mich getragen wie ein Kind,“ lächelt Martina.

Ob Kartoffelkäfer also oder Krieg. Ob Tod des Sohnes oder Errettung von Süchtigen – mit allem verfolge Gott einen Zweck, einen bestimmten Plan. Manchmal verstehe man ihn erst später und zweistimmig sind sich Nitzsches sicher: „Gott macht keine Fehler.“

Anja Wilhelm

Übrigens waren Martina und Heinz Nitzsche auch in Mecklenburg als Suchthelfer tätig: Sie haben vor über 50 Jahren die Suchthilfeeinrichtung der Diakonie in Serrahn aufgebaut (heute eine Reha-Klinik). Auf einem alten Pfarrhof, mit einer besonderen Therapiemethode. Dazu in der nächsten Ausgabe der TrokkenPresse mehr …

TrokkenPresse 3/22: Klaus – Alles ist möglich, wenn …

Serie: Trocken bleiben – aber wie?

Alles ist möglich, wenn man an sich glaubt

Seit unserer ersten Ausgabe 2019 stellen wir Menschen vor, die seit einiger Zeit trocken leben. Wir wollen wissen, wie sie das erreicht haben, jeden Tag aufs Neue, bis daraus Monate und Jahre wurden. Ihre Erfahrungen können vielleicht dem einen oder anderen Betroffenen auch hilfreich sein. Heute erzählt uns unser Leser Klaus-Dieter Wehmeier, wie er trocken wurde und blieb …

Als ich am 17.07.1986 zur Entgiftung ging, war nicht klar, welch spannender, aufregender und steiniger Weg vor mir lag.

Alkohol, Medikamente und Drogen hatten mein bisheriges Leben bestimmt. Hiermit sollte es zu Ende sein. Ich wollte mein Leben wieder in die eigene Hand nehmen. Aber wie, das war die Frage.
Ich liebte es, Pläne zu machen und traf mit einem Stapel Papieren, meinem Konzept, bei der Entgiftung ein.
Als ich am nächsten Tag erwachte, hatte der Entzug eingesetzt und mein Konzept war dahin. Die Realität meines Handelns, meines Missbrauchs hatte mich eingeholt.

Nach Beendigung der 3-wöchigen Entgiftung ging es dann zur Therapie nach Bad Tönisstein und mein Weg in ein nüchternes Leben begann.
In Bad Tönisstein beschäftigten mich viele Fragen, von denen ich einige aufzählen werde: Da ich ein bequemer Mensch war, beschäftigte mich die Frage, wie ich im weiteren Leben an mir arbeiten solle. Dieses erschien mir zu anstrengend. Meine Therapeutin antwortete mir, ich solle mir mein Leben als Glaskugel vorstellen. Diese Glaskugel müsse ich am Laufen halten. Dieses gelänge mir nicht, indem ich auf sie einschlüge. Meine Aufgabe bestünde lediglich darin, die Glaskugel am Laufen zu halten. Also keine Schwerstarbeit. Ich war erleichtert.
Zu Beginn der Therapie drückte mir meine Therapeutin Conny ein Buch in die Hand. Der Titel „Die Realitätstherapie“ von William Glasser. Glasser schreibt über die Grundbedürfnisse des Menschen und welche Dinge für ein zufriedenes Leben notwendig sind.
Meine Vorstellung von Grundbedürfnissen war eine völlig andere. Mir waren Dinge wichtig, welche Glasser als Luxus bezeichnete und ich war gezwungen, über mein bisheriges Weltbild, über Zufriedenheit und Notwendigkeiten, nachzudenken.
Der Sozialarbeiter bremste mich aus: Ich war schon während der Therapie mit der Zeit nach der Therapie beschäftigt. Wollte mich lieber mit Dingen beschäftigen, auf die ich noch keinen Einfluss hatte, um mich nicht mit meiner momentanen Situation auseinandersetzen zu müssen …
Immer wieder wurde ich mit meiner Realität konfrontiert, wurde mir aufgezeigt, wo meine Probleme lagen und ich begann, mich dieser Realität zu stellen.

Die tatsächliche Arbeit an mir begann allerdings erst, als ich nach 12 Wochen Bad Tönisstein verließ und wieder in meine gewohnte, noch immer konsumierende Umgebung zurückkam.

LichtBlick

In Tönisstein hatte ich erfahren, wie wichtig der Besuch einer Selbsthilfegruppe ist. Also machte ich mich auf die Suche nach einer für mich passenden Gruppe: In Bad Tönisstein wurde die Therapie nach den Regeln der AA (Anonyme Alkoholiker) durchgeführt, also versuchte ich es mit einer AA-Gruppe. Ich konnte aber mit den Erzählungen der „Gruppenfürsten“ nichts anfangen, die stetigen Wiederholungen ihrer Geschichten nervten mich.
Dann besuchte ich über Jahre eine Gruppe des deutschen Guttempler-Ordens. Gründete mit anderen Besuchern den LichtBlick, welcher sich Jahr 1995 aus dem Guttemplern-Orden verabschiedete und sich als e.V. selbstständig machte.
In den Jahren der Gruppenbesuche lernte ich mich, im Spiegel der anderen Gruppenbesucher, immer besser kennen. Ich erkannte meine Fehler und Schwächen, aber auch meine Stärken. Ich begann mich selbst zu achten und lernte mich als Gesamtpersönlichkeit zu akzeptieren. C. G. Jung schrieb sinngemäß: Erst wenn ich meine dunkle Seite akzeptiert habe, bin ich als Person ganz.

Ich lernte also meine Fehler und Schwächen kennen und akzeptierte diese.
Ich lernte meine Krankheit „Alkoholismus“ als Teil meiner Persönlichkeit zu akzeptieren. Ich söhnte mich mit dieser vermeintlichen Schwäche aus.

Heute beginne ich jede Gruppenstunde mit den Worten: Mein Name ist Klaus. Ich bin alkohol-, medikamenten- und drogenabhängig und damit einverstanden.
Ja, ich bin mit meiner Krankheit einverstanden. Mir fehlen weder der Alkohol noch irgendwelche anderen Drogen. Ich fühle mich befreit und habe das Gefühl, endlich im Rahmen meiner Möglichkeiten entscheiden zu können.
Hierbei hilft mir, dass ich kurz nach Beendigung der Therapie meine Ehefrau Ellen kennenlernte. Ellen brachte einen Sohn mit in die Beziehung und zwei Jahren später bekamen wir unsere Tochter Naima.
Innerhalb unserer Beziehung, unserer Ehe, lernte ich, Verantwortung zu übernehmen. Dieses war mir zu Zeiten meines Konsums nicht möglich und schreckte mich ab. Im Rückblick sehe ich, dass ich an dieser Verantwortung gewachsen bin.
Ich habe gelernt, mich und mein Lustprinzip nicht mehr so wichtig zu nehmen. Dieses hilft mir, entspannter mit mir und meinen Mitmenschen umzugehen.
Hohe, nicht erreichbare Maßstäbe sind in den Hintergrund getreten. Ich gehe liebevoller mit mir und meinen Mitmenschen um.

Meine Selbsthilfegruppe LichtBlick e.V. besuche ich auch nach 35 Jahren der Abstinenz immer noch wöchentlich. In den ersten Jahren war der LichtBlick mein Übungsfeld. Hier konnte ich wieder Vertrauen in mich und meine Mitmenschen fassen. Dieses Vertrauen war mir während der Jahre meiner Abhängigkeit verloren gegangen: Am Ende, kurz vor Beginn meiner Therapie, fühlte ich mich nicht mehr als Teil der menschlichen Gemeinschaft. Ich verachtete mich und meine Mitmenschen. Ich bin heute dankbar, die Verachtung überwunden zu haben, mich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen.

Ich übernahm Verantwortung

… für den LichtBlick e.V. und bin seit 1995 Vereinsvorsitzender.

Die AA sagen: „Gib es weiter“: Dieses tue ich heute. Mit großer Freude berichte ich anderen Gruppenbesuchern über meinen Weg. Ich weiß, dass ich für viele ein Vorbild bin, bilde mir hierauf aber nichts ein. Jeder steht auf einer anderen Stufe seines Weges und kann von den anderen lernen. Ich hatte das Glück, dass ich meinen Weg ohne Suchtmittel gradlinig gehen kann. Ich baute keine Rückfälle und lebe nun 35 abstinent. Hierbei helfen mir meine Gruppe, meine Familie und vieles mehr.
Was soll ich sagen, ich habe mich nicht vom Saulus zum Paulus gewandelt. Ich besitze noch immer meine Fehler und meine Schwächen. Ich habe allerdings gelernt, dass diese Schwächen meine Menschlichkeit ausmachen. Wie gesagt, ich bin milder geworden.
Die Erziehung unserer Kinder stellte eine wichtige Erfahrung für mich dar. Als Familienmann habe ich die beiden erzogen. Ich lernte hierbei, mich nicht immer im Vordergrund befinden zu müssen.
Erziehung bedeutet Selbsterziehung und das Vorleben der geforderten Werte. In meiner Ursprungsfamilie erlebte ich keine Stabilität, keine Liebe oder Geborgenheit. Ich war bemüht, die Fehler meiner Eltern nicht zu wiederholen. Das bedeutete Selbstdisziplin und Arbeit an mir.

All die geschilderten Dinge, und vieles mehr, lassen mich heute zufrieden nüchtern sein.

Ich bin dankbar, diesen Weg gehen zu dürfen …

… und bereue nichts. Dieser, mein Weg, hat mich zu dem Menschen werden lassen, der ich heute bin.
Mit dem heutigen Klaus bin ich einverstanden und ich liebe mich.

Im Jahr 1992 begann ich mich mit meiner Lese- und Rechtschreibschwäche zu beschäftigen.
Schon in Bad Tönisstein hatte ich damit zu kämpfen, meinen täglichen Tagesbericht abzuliefern. Lag ein Blatt Papier vor mir, brach mir der Schweiß aus und ich hörte die Worte meines Deutschlehrers: „Rechtschreiben, das lernt der Junge nie!“
Ich setzte mich hin und schrieb einen Lebensbericht. Ich sammelte Lebensberichte anderer Abhängiger und stellte diese zusammen. Schrieb ein Vorwort und fand im Fischer Taschenbuch Verlag einen Verlag, der dieses Buch veröffentlichte. Titel des Buches: „Trocken und clean, Süchtige berichten“.
Ich fand Freude am Schreiben und stellte fest, wie gut es für mich ist, meine Gedanken und Gefühle schriftlich festzuhalten. Seit dieser Zeit schreibe ich immer wieder kleine Artikel für Suchtzeitschriften. Reichte einen Artikel zu dem Projekt „Stationen Alkohol: Wege in die Sucht, Wege aus der Sucht“ im TrokkenPresse Verlag ein, welcher unter der Überschrift: „Auch das tiefste Elend bietet eine Chance“ in das Buch aufgenommen wurde.
In etwa zur selben Zeit arbeitete ich an einem Film-Projekt des Medienprojektes Wuppertal mit. Unter dem Titel „Pillenlos“ berichte ich 33 Minuten über meine Abhängigkeitserkrankung.

All diese Projekte nahmen mir das Schamgefühl und ich begriff, du bist mit deiner Krankheit nicht allein und was viel wichtiger war, es ist keine Schande, krank zu sein, es ist nur eine Schande, nichts gegen diese Krankheit zu unternehmen.

Für die letzten Jahre meines Lebens wünsche ich mir, Zeit mit meinen Lieben verbringen zu können. Meinen Enkel aufwachsen zu sehen und noch viele Jahre an diesem spannenden Leben nüchtern teilnehmen zu dürfen.

Mein Name ist Klaus, ich bin alkohol-, medikamenten- und drogenabhängig und damit einverstanden.

 

Titelthema 02/22: Burkhardt Blienert im Interview

Burkhard Blienert:

„Die Menschen trinken einfach zu viel und zu sorglos“

Der neu gewählte Beauftragte der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen, Burkhard Blienert, ist nun seit über drei Monaten in seinem Amt. Die TrokkenPresse wollte wissen: Was hat er vor? Was wird sich ändern? Was sind seine Ziele? In einem aktuellen Interview gibt er Antworten und spricht über Prävention, Werbebeschränkungen, Alkoholsteuer, Cannabisfreigabe …

Herr Blienert, die erste suchtpolitische Handlung der neuen Bundesregierung war die Umbenennung Ihres Amtes von „ Drogenbeauftragter der Bundesregierung“ in „Beauftragter der Bundesregierung für Sucht- und Drogenfragen“. Welche neuen Aufgaben gehen damit einher, welche alten Aufgaben bleiben bestehen?

Es ist mir wichtig, einen Neuanfang nicht nur im Titel, sondern insbesondere inhaltlich deutlich zu machen. Suchtkrankheiten als solche zu akzeptieren, Menschen zu helfen und zu schützen, anstatt sie zu bestrafen – all das ist mir wichtig. Meine Aufgabe verstehe ich insbesondere darin, mich um die Menschen, die Suchtprobleme haben, zu kümmern, auf der Basis des Koalitionsvertrages. Darin sind ja viele neue Ansätze: Von regulierter Cannabis-Freigabe über Werbe- und Sponsoringbeschränkungen bei Alkohol und Tabak. Somit ist nicht nur die Hülle, sondern auch viel Inhalt neu.

Die letzte Drogenbeauftragte mit SPD-Parteibuch war Sabine Bätzing-Lichtenthäler, von 2005 bis 2009. Mit ihren Forderungen z.B. nach Anhebung von Alkoholsteuern sowie der Absenkung Blutalkoholkonzentrationswerte im Straßenverkehr ist sie auch an der eigenen Partei gescheitert. Wie sehen Ihre alkoholpolitischen Pläne im Hochkonsumland Deutschland aus, was ist davon mit Ihrer Partei und den Koalitionspartnern umzusetzen?

Ich möchte eine neue Debatte anstoßen, gerade beim Thema Alkohol, und – das ist das Mindeste – das umsetzen, was wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Wenn wir uns die vergangenen Jahrzehnte bei der Alkoholprävention anschauen, haben wir zwar ein paar positive Entwicklungen, zum Beispiel bei dem Einstiegsalter, aber Deutschland ist nach wie vor ein Hochkonsumland. Wie haben also sowohl bei der Verhaltens- als auch bei der Verhältnisprävention immensen Nachholbedarf. Das muss auch so deutlich gesagt werden und daran müssen wir in den kommenden Jahren arbeiten. Fakt ist: Die Menschen trinken einfach zu viel und zu sorglos.

Wie u.a. die enorm hohen Zahlen von Krankenhauseinweisungen von Kindern und Jugendlichen mit Alkoholvergiftungen zeigen, funktioniert in Deutschland der Jugendschutz hinsichtlich Rauschgiften nicht. Welche Pläne hat die Bundesregierung, dies zu verbessern?

Indem wir die Prävention ausbauen. Und zwar angefangen von Lebenskompetenzprogrammen in der Kita bis zur Aufklärung und Prävention in den Schulen. Es gibt ja bereits gute Präventionsmaßnahmen, diese müssen aber den aktuellen Entwicklungen und Anforderungen angepasst werden. Auch ein Werbeverbot für Alkohol steht ja zur Debatte. Wir wissen, dass gerade Kinder und Jugendliche sehr auf Werbung, auch im Netz, reagieren. Auch hier müssen wir nachjustieren.

Damit einhergehend sind auch die „Rauschgift-Kollateralschäden“ bei Ungeborenen, Kindern und Jugendlichen sowie Partner*innen in suchtbelasteten Familien. Wird es, wie schon in anderen Ländern, Warnhinweise auf Alkoholika und anderen Drogen geben, die vor dem Gebrauch warnen?

Ich denke, dass es nicht reicht, Warnhinweise auf Flaschen zu drucken. Wir müssen die Menschen insgesamt noch viel direkter erreichen. Am besten durch persönlichen Kontakt, direkte Ansprache beispielsweise durch die Gynäkologen. Dafür braucht es ein funktionierendes, auch personell gut ausgestattetes Gesundheitswesen, was die Zeit und die Möglichkeit hat, am Ball zu bleiben. Die Pandemie hat uns extrem deutlich gemacht, wo wir in Deutschland zu schwach aufgestellt sind. Dazu gehört auch die Hilfe für Angehörige von suchtkranken Menschen und hier insbesondere deren Kindern. Diese Hilfsangebote gilt es zu stärken und in die Fläche bringen. Wir müssen die bürokratischen Hürden zu mindern, damit diese Hilfe schneller ankommt.“

In Deutschland werden die volkswirtschaftlichen Kosten des Alkoholgebrauchs, wissenschaftlich seriös, auf über 50 Milliarden Euro geschätzt. Dem stehen Steuereinnahmen von ca. 3 Milliarden gegenüber. Sind Schritte hin zum volkswirtschaftlich gerechteren Verursacherprinzip in der Alkoholbesteuerung zu erwarten? Wird es mit der neuen Bundesregierung eine steuerliche Gleichstellung von Wein mit anderen Alkoholika geben oder wird dieses erst seit 1926 bestehende Privileg weiterbestehen? Wird es also eine einheitliche und schadensabhängige Alkoholsteuersystematik geben?

Diese Fragen kann ich Ihnen aktuell nicht im Detail beantworten. Einfach, weil wir am Anfang einer Legislaturperiode stehen, die uns allen aktuell unglaublich viel abverlangt. Lassen Sie es mich so formulieren: Ich bin grundsätzlich offen für eine Überprüfung der bisherigen Besteuerung, gerade weil Alkohol in Deutschland nach wie vor viel zu billig über den Ladentisch geht. Aber am Ende des Tages müssen wir dafür das federführende Finanzministerium unter der Führung von Christian Lindner überzeugen.

Jährlich werden tausende Verkehrsteilnehmer*innen durch alkoholisierte Verkehrsteilnehmer*innen getötet oder verletzt. Plant die Koalition die Wiedereinführung der Nullkommanull-Promille-Regelung bei Fahrzeugführenden?

Bisher haben wir Themen wie Sponsoring, Werbebeschränkungen und die Stärkung der Prävention für Kinder, Jugendliche und Schwangere im Fokus. Natürlich heißt das nicht, dass wir alles andere ausblenden, aber der Koalitionsvertrag ist unsere Leitlinie, und die gilt es abzuarbeiten. Schon da müssen wir dicke Bretterbohren.

Im Gegensatz zu Ihren Vorgängerinnen im Amt befürworten Sie eine sogenannte Legalisierung von Cannabis. Ist das Alkohol-Hochkonsumland Deutschland nicht schon mit den bisherigen legalen Giften, Nikotin und Alkohol, überfordert? Sollte bei diesen Giften nicht erst wirksame Maßnahmen umgesetzt werden, bevor sich die Gesellschaft mit einem weiteren Gift auseinandersetzen muss?

Ich würde das eine Suchtmittel nicht gegen das andere ausspielen wollen. Wichtig ist bei allem doch in erster Linie: Wie stärke ich die Gesundheits- und Lebenskompetenz der Menschen, damit sie keinen problematischen oder pathologischen Konsum betreiben? Wie mache ich Kinder fit, auf ihren Körper und ihre Gesundheit zu achten, selbstbewusst und stark aufzuwachsen? Wie lerne ich auch als Erwachsener, auf meinen Körper zu hören und ihn zu schützen, auf mich und meine Mitmenschen acht zu geben? All diese Fragen stehen für mich am Anfang der Debatte.

Wäre es nicht konsequenter, wie im EU-Land Portugal, alle Drogen freizugeben? Wo liegt die logische, medizinische oder sozialwissenschaftliche Grenze zwischen Cannabis und z.B. LSD oder Kokain? Die Gründe für eine Cannabis-Legalisierung, Entkriminalisierung der Nutzer, Austrocknung des Schwarzmarktes, Steuereinnahmen usw. gelten genauso für andere „illegale“ Drogen.

In Portugal sind sowohl Heroin als auch Kokain und Cannabis nach wie vor illegal. Nur wird der Besitz kleiner Mengen dort anders geahndet als bei uns. Wir haben einen klaren Rahmen für diese Legislatur aufgestellt. Als Ziel haben wir die regulierte Freigabe von Cannabis an Erwachsene definiert und nicht die Freigabe aller Drogen. Cannabis ist keine tödliche Droge wie Heroin oder Kokain, das muss man schon differenzieren. Es macht also in vielerlei Hinsicht Sinn, diesen Schritt zu gehen.

Wird es wieder einen substantiellen Sucht- und Drogenbericht wie bis 2019 geben oder wird der Bericht über Ihre Tätigkeit auch, wie 2020 und 2021, in einem kleinen bunten Heft erscheinen?

Lassen Sie es mich so formulieren: Mit meinem Amtsantritt ändert sich nicht nur die Hülle, sondern auch der Inhalt. Woran mir gelegen ist, ist Transparenz. Ich möchte, dass die vielen Daten und Zahlen, die wir erheben lassen, in Zukunft nicht nur einem kleinen Kreis von Fachleuten zur Verfügung stehen, sondern allen, die sich an der Debatte über die richtige Drogen- und Suchtpolitik beteiligen wollen. Und die sprechen ja für sich, gerade auch, wenn es um Alkohol geht.

Herzlichen Dank, Herr Blienert!

Die Fragen stellte Torsten Hübler

Titelthema 4/20: Suppe statt Gruppe, Dock Nord

Im Corona-Lockdown: Eine Idee rettet das Dock Nord

„Suppe statt Gruppe“

Plötzlich keine Gruppetreffen mehr. Vereinsräume geschlossen. Kontaktsperre. Ohne zu wissen, ob und wann sich alles wieder normalisieren wird. Das traf damals im März natürlich auch die alkoholfreie Kontaktstelle „Dock Nord“ im Berliner Wedding. Kein „andocken“, kein „ankern“ im sicheren drogenfreien „Hafen“ mehr möglich. Normalerweise treffen sich Betroffene von 15 Uhr an dort, um Kaffee zu trinken, einen Imbiss zu nehmen, sich zu unterhalten. Und am Abend freie Gruppen oder Gruppen von Vereinen wie VAL, NA, AKB.
Nichts ging mehr. Was nun? Abwarten, bis alles vorbei ist? Abzuwarten hätte wahrscheinlich bedeutet, dass der Verein schließen muss. Diesen Verein für suchtfreies Leben Eigeninitiative e.V gründeten 1983 zwei Alkoholkranke, um Betroffenen eine Kneipenalternative zu schaffen. Einen Ort, an dem man sich wie in einem cleanen gemütlichen Wohnzimmer treffen und austauschen kann. DAS schließen? Nein, nicht mit Andrea Plath! Sie, Angehörige eines Alkoholikers, ist seit letztem Jahr Vorstandsmitglied und Kassenwartin des Dock Nord. Ihre neue Idee wurde zum Rettungsanker …

 

Weshalb waren die Corona-Beschränkungen so belastend fürs Dock Nord?
Andrea Plath: Das Problem waren vor allem Miete und Strom, die laufenden Kosten. Denn wenn der Geschäftsbetrieb ruht, das Essen, das Trinken, und die Nutzungsgebühr der Gruppen wegfallen … damit haben wir ja immer die 1000 Euro Monats-Miete bezahlt. Das war eine schlimme Zeit. Was tun? Müssen wir schließen? Aber die Menschen müssen doch weiterhin genesen können. Sie brauchen uns, die Gruppen, den Treff.

Woher kam Hilfe?
Eine Kaltmiete hat uns die Wohnungsverwaltung zum Glück erlassen. Und im Bürgerverein „Moabiter Ratschlag“ riet man uns dann, bei der IBB-Bank die Soforthilfe für kleine Unternehmen zu beantragen. Nach dem Antrag war gleich am nächsten Tag das Geld da. Miete und Strom waren nun vorerst damit abgesichert, aber wie sehen ja jetzt, es ist Juli und Corona noch lange nicht zu Ende. Was machen wir jetzt, fragten wir uns damals? Der Laden ist zu, aber wir müssen doch irgendwie noch etwas tun können …

Was war die Idee?
In der Landesstelle für Suchtfragen riet man uns, ein Catering aufzumachen, wir haben ja eine Küche.
Da hab ich zuerst gedacht: Wir sind doch ne Kontaktstelle, wir machen Selbsthilfe, wir wollen doch kein Essen verteilen! Naja, aber durch die Coronazeit waren ja nicht nur wir betroffen, viele mussten in Kurzarbeit gehen, waren zuhause mit wenig Geld. Der nächste Rat war: Schreib doch mal „Aktion Mensch“ an, die fördern Projekte, gerade in der Coronazeit sind Gelder zur Verfügung, vielleicht findest du da Ideen. So haben wir uns dann entschieden, dass wir nicht zu den Leuten hingehen mit dem Essen, sondern hier für die Leute kochen. Suppe statt Gruppe. Also habe ich acht Stunden lang einen Antrag ausgefüllt und nach drei Wochen kam wirklich ein Anruf von der zuständigen Bearbeiterin für unser Projekt: von Mai bis Ende des Jahres helfen wir Menschen in der Coronazeit mit einer täglich frischen Suppenmahlzeit. Nach einer Prüfung bekamen wir Gelder für einen neuen Herd und für die Personalkosten. 95 Prozent des Projekts werden gefördert, die 5 Prozent Eigenanteil erwirtschaften wir selbst. Der Koch, nun angestellt für 30 h, war vorher als MAE hier, zwei 450-Euro-Kräfte sind als Beiköchin und für die Ausgabe zuständig. Nachdem uns das Lebensmittelamt geprüft hatte, ging es Ende Mai los mit dem Außerhausverkauf an der Tür.

Wer sind die Kunden?
Wir haben viele Stammkunden aus den Häusern rundum, Omis kommen mit Rollator und ihrem Suppentopf an, Gäste der Kneipe an der Ecke, Pflegedienstmitarbeiter und Menschen, die sie betreuen. Und Betroffene, die sonst immer nachmittags hier waren. Etwa 60 Portionen brauchen wir inzwischen. Ein Essen kostet zwar 3 Euro, aber für Menschen in Hartz4 nur 2 Euro und wenn einer gerade gar kein Geld hat, weil er auf die Rente wartet, kriegt er sein Essen auch mal so.

Aus der Küche duftet es gerade himmlisch nach Kartoffelpuffern. Also gibt es inzwischen mehr als Suppe?
Ja. Dank der Aktion Mensch hatten wir gutes Wirtschaftsgeld und die Kunden baten uns, auch mal dies oder das zu kochen. Königsberger Klopse sind beliebt, Pellkartoffeln mit Leinöl/Kräuterquark, Putenspieße, Käse-Lauchsuppe ging gut, Nudelauflauf. Wir haben auch vegan, Eintopf z.B. mit oder ohne Fleisch. Umgetauscht hat noch keiner, gemeckert auch nicht. Wir kochen frische Hausmannskost.

Was läuft zurzeit noch im Dock Nord?
Mittlerweile sind einige Gruppen wieder da … Mit den nötigen Hygieneauflagen, Mundschutz, Abstand, Desinfektionsmittel, Kontaktdatenabgabe. Aber unsere normalen Öffnungszeiten, täglich 15-21 Uhr, sonntags bis 20 Uhr, müssen leider aufgrund der Einschränkungen noch warten.

Wie wird es weitergehen, wenn das Geld von Aktion Mensch verbraucht  ist?
Darüber denken wir gerade nach. Wir wollen ja auch, dass die Selbsthilfegruppen bei uns weiterexistieren können. Meine Erfahrung ist: Freiwillig klopft niemand an die Tür und sagt, wir haben hier Geld, wollt ihr was haben. Man muss etwas fordern, Anträge stellen. Das ist zwar viel, viel Schreibkram, aber lohnt sich wirklich! Vom Moabiter Ratschlag hatten wir letztes Jahr für Weihnachten und ein Skattournier je 100 Euro erhalten. Beim Berliner Kammergericht, wo man einen Antrag auf Gewährung einer Geldzuweisung aus Bußgeldern stellen kann, bekamen wir Geld für neue Kühlschränke und eine Waschmaschine. Jetzt brauchen wir zum Beispiel eine neue Webseite, einen PC. Mal sehen, ob wir wieder dabei sind. Auch mit den Selbsthilfegruppen, die von der AOK 600 Euro im Jahr bekommen können, habe ich Anträge ausgefüllt.
Ja, wie geht es weiter im nächsten Jahr, das bereitet schon Kopfzerbrechen. Wie weit ist Corona, wie sind die Lockerungen, die Öffnungszeiten, Versammlungen. Was wird mit Festen wie Tanz in den Mai, Sommerfest, dieses Jahr fiel alles aus.
Meine Idee ist gerade, das Samstagfrühstück wieder anzufangen, mit nur 15 Leuten, ohne Buffet, sondern mit fertig gepackten Tellern, um wieder die Kommunikation zu fördern, zu zeigen, wir sind da, ihr seid da, wir sind beieinander …

 

Titelthema 1/22: Kurt Wetzlinger – trocken dank seines Hobbys

Kurt aus Kärnten ist seit 25 Jahren trocken, dank eines Hobbys:

Gleitschirmfliegen … statt Biertrinken

Heute gucken wir mal über den bundesdeutschen Tellerrand hinaus, liebe Leserinnen und Leser: Grüß Gott nach Österreich! 340 000 Menschen von knapp 9 Millionen dort gelten als alkoholkrank. Einer von ihnen ist Kurt Wetzlinger (74), inzwischen 25 Jahre trocken. Und zwar seit seiner Therapie, die, ähnlich wie in Deutschland, aus Entgiftung, Entwöhnung und Nachsorge aufgebaut ist. Um trocken zu bleiben, hatte er sich damals selbst ein Ziel gesetzt, eine Art Belohnung ausgesetzt: Ich lerne Paragliding, wenn ich ein Jahr geschafft habe! Und so kam es auch … Seitdem hat er 4200 Flüge hinter sich und ist inzwischen sogar Obmann des Drachen- und Gleitschirmfliegerclubs Ossiacher See. Am Telefon antwortet er uns kurz und bündig, eher ein Mann der Tat eben: Einfach machen …

Wie wurdest Du alkoholkrank?

Ich war kein Trosttrinker, ich bin da so reingerutscht über 15 Jahre. Ich habe immer gerne Bier zum Essen getrunken. Und als Handelsvertreter hatte ich mit Privatkunden zu tun, du bekommst dann dort ein, zwei Bier, das geht Jahre. Dann bekommst du vier Bier und merkst noch immer nichts, und irgendwann beschließt du dann, bevor du nach Hause gehst, noch im Gasthaus zwei, drei Bier zu trinken. Sukzessive bist du dann bei 12 Bier am Tag. Man kommt sehr rasch hinein und eben schwer heraus …

 Aber Du musstest doch als Handelsvertreter täglich Auto fahren …?

Naja, das ist so lange „gut“ gegangen, bis ich den Führerscheinentzug hatte. Danach hat meine Tochter mich chauffiert, so hat das weiterfunktioniert.

 Jeder zweite Österreicher trinkt täglich Bier. Woran hast Du gemerkt, dass es bei Dir zu viel wurde?

In der Zeit, wo man mittendrin ist, ging es mir gar nicht so schlecht. Aber dann zum Schluss, gesundheitlich ging es mir zwar noch ganz gut, aber es war nicht mehr so lustig, keine Aktivitäten mehr zu haben.

 Keine Aktivitäten, was meinst Du damit?

Zum Beispiel bin ich früher viel Angeln gegangen, dann hat das aufgehört. Das Schifahren hat dann auch aufgehört. Man verliert die Lust an den ganzen Geschichten, die Sauferei war dann viel wichtiger. Ich lebte von einem Tropfen zum nächsten, vegetierte dahin.

 Wann ist Dir das aufgefallen?

Als ich 49 Jahre alt war, hatte ich einen klaren Moment, in dem ich dachte: War das jetzt alles vom Leben, dass man morgens in der früh schon beim Bier steht? Dabei lebe ich gerne! Das war so ausschlaggebend, dass ich dann zum Entzug gegangen bin. Ich musste einfach was unternehmen und das habe ich getan.

 Du bist von selbst zum Entzug?

Es wurde vorher lange auf mich eingeredet, dass ich das machen muss, machen soll. Die Firma, die Familie … ich dachte damals, ich trinke doch nur Bier, Alkoholiker ist jemand, der Schnaps kauft. Ich hatte schon eine Bauspeicheldrüsenentzündung wegen der Trinkerei. Hatte oft versucht, aufzuhören. Einmal habe ich vier Monate lang nichts getrunken, aber wieder begonnen. Da war auch für mich persönlich dann Schluss und ich bin in die Klinik. Mein Gedanke war ursprünglich, dass ich das dann reduzieren kann und nur ein Glas Bier am Tag trinke … aber das klappt ja nicht. Deshalb gibt’s bei mir seitdem nur null Alkohol.

 Wie erging es Dir in der Klinik?

Acht Wochen ist dort der Mindestaufenthalt.  In den ersten drei Wochen geht’s einem ziemlich schlecht, man zweifelt viel: Wieso ich, ich bin so stark, ich brauch das alles nicht … das muss man durchlaufen für diese drei Wochen und dann wird es sowieso mit jedem Tag besser.

 In der Klinik hast Du Dir eine Belohnung versprochen …

Auf dem Berg überm Krankenhaus war der Startplatz einer Flugschule und unterm Krankenhaus der Landeplatz. Ich wollte schon immer fliegen, schon als Kind! Zwar hatte ich mal einen Grundkurs gemacht in Drachenfliegen, aber das hatte ich nicht weiter verfolgt wegen der Trinkerei. Als es mir dann besser ging nach etlichen Wochen Therapie, habe ich mir gedacht: Wenn ich es ein Jahr lang ohne Bier aushalte und es mir gut geht, dann gehe ich auch zum Gleitschirmfliegen. Bevor ich nach Hause gegangen bin, habe ich das meinen Mitpatienten gesagt, da haben alle gelacht. Aber genau ein Jahr später, als ich die Kurse gemacht hatte, begann ich dort zu fliegen …

 Dieses Ziel hat dir also geholfen, trocken zu bleiben?

Ja!

 Wie?

Ich tue etwas, was mir Spaß macht. Wenn ich ein, zwei Tage nicht fliegen kann, werde ich schon kribbelig und dann geh ich wieder hin. Es ist ein schönes Gefühl, zu fliegen – und was einem Spaß macht, sollte man öfter tun …

 Du hast Dir damals auch einen Hund „angeschafft“, der dann auch mitgeflogen ist?

Ja, einen Jack Russel-Terrier. Meine Frau wollte eigentlich keinen, so musste ich den kleinen Hund ab und zu mitnehmen und dann ist sie halt auch mitgeflogen und war ganz närrisch darauf. Sie wurde über 17 Jahre alt – ihr Leben ist wie im „Fluge“ vergangen. Danach kam Kyra, sie ist schon mit fünf Monaten mitgekommen und hat mittlerweile über 780 Flüge.  Für Hunde habe ich ein extra Hundegeschirr, Kyra sitzt entspannt auf meinem Schoß. Mich kennt man nur mit Hund beim Fliegen.

 Alkohol und Paragliding zusammen geht nicht?

Das geht prinzipiell sowieso nicht und bei mir überhaupt nicht. Paragliding ist wie Segelfliegen, wir müssen die Thermik beobachten und nutzen können, um oben zu bleiben und zu fliegen, manchmal stundenlang …

 Also hält Dich Dein Hobby auf seine Weise mit trocken?

Ja natürlich! Ich habe nie ein Glas Alkohol getrunken in der Zeit und werde es, so wie es heute ausschaut, auch nicht tun. Es geht mir bestens!

 Ist das auch Dein Rat für alle, die abstinent bleiben wollen?

Jeder hat, wenn er zurückdenkt an die Zeit vor der Trinkerei, irgendwelche versteckten Ziele, irgendwas, was er immer gerne mal tun wollte. Das sollte er sich dann als Hobby nehmen. Es hilft zum Beispiel, ein Haustier zu haben, einen Hund. Es hilft, irgendein altes Hobby wieder aufleben zu lassen, so dass man irgendein Ziel hat, etwas tut, was einem Freude macht. Was einen ausfüllt, die Akkus auffüllt. Womit man die Zeit nützlich verbringt. Früher ist man ja stundenlang an der Theke gestanden, und jetzt hat man stundenlang Zeit übrig. Bei uns heißt es: Wenns dem Esel zu gut geht, geht er aufs Eis tanzen … das heißt, man muss irgendwas unternehmen, was einem Spaß macht, und dann vergisst man, dass man Alkohol „braucht“ … deshalb sage ich immer: Lebensqualität pur!!

Das Gespräch führte Anja Wilhelm

Titelthema 2/21: Jaecki Schwarz seit 32 Jahren trocken

Schauspieler Jaecki Schwarz über seine Abstinenz:

 „Das hat was mit Einsicht zu tun“

Vor 19 Jahren sprach Schauspieler Jaecki Schwarz in der damals noch jungen TrokkenPresse über seine Alkoholsucht. Wie er abhängig wurde, wie er am Tag des Mauerfalls in die Entgiftung kam, wie er trocken wurde. Er nannte den Neubeginn „ein zweites Leben“. Aber – wie erging es ihm bis heute damit? In 32 Jahren kann ja doch so manches geschehen … Wir besuchten ihn für ein Interview in Berlin-Mitte, sein Wohnzimmer ein buntes, duftendes Blumenmeer:

 

Lieber Jaecki Schwarz, auch wir gratulieren zum 75. Geburtstag! Wie geht es Ihnen heute? Und vor allem: Sind Sie noch trocken?

 Ja, natürlich! Ich hatte seit 32 Jahren keinen Rückfall, bin stark geblieben und habe mich nicht vom rechten Weg abbringen lassen. Es bekommt mir gut. Nun habe ich auch mit dem Rauchen noch aufgehört, 2009, was mir viel, viel schwerer gefallen ist, als mit dem Alkohol aufzuhören. Das ging eigentlich reibungslos, aber das mit dem Nikotin hat sich doch gezogen, 1,5 Jahre … ich hab nie wieder eine geraucht, aber wenn ich jetzt eine rauchen würde … Aber ich rauche eben nicht, bin auch ganz froh darüber, aber ich habe natürlich ein bisschen zugenommen dadurch, weil ich auch meine Ernährung nicht umgestellt habe. Ansonsten fühl ich mich trotz Corona relativ gut. Ich hab ein paar Zipperlein, klar. Mit 75 ist man ja auch schon ein bisschen abgenutzt, verbraucht, rein knochenmäßig … Rücken, bisschen Fuß, was man so hat als alter Mann. Aber es geht mir noch gut sonst, ich mache meinen Beruf noch ein bisschen weiter, muss aber nicht mehr große Theatersachen machen oder mir irgendwelche dicken Filme ans Bein binden. Ich mach kleine Sachen wie meine Nebenrolle in „Ein starkes Team“ und lese mit meiner Kollegin Franziska Trögner Kriminalkurzgeschichten, wenn wir wieder dürfen. Und ansonsten warte ich auch, dass Corona bald vorbei ist, weil mein größtes Hobby das Reisen ist. Ansonsten geht mir Corona, wie der Berliner sagt, am Arsch vorbei Ich lass mich nicht kirre und hysterisch machen. Mit der Impfung ist es so: Wenn ich dran bin, bin ich dran, ob es nun einen Monat später ist, ist mir wurscht, ich bin da kein Impfdrängler. Impfdrängler … das Unwort des Jahres. Und ich bin auch kein Impfgegner, ich überlege das gar nicht, als gelernter DDR-Bürger lässt man sich eben impfen, das ist ’ne Selbstverständlichkeit. Da gibt’s keine Verschwörungsgedanken, dass ich jetzt gechipt werden könnte von Bill Gates, und ich trinke auch kein Kinderblut und unter Tage lass ich auch niemanden arbeiten. Wie man als normal denkender Mensch so verblöden kann, ist mir unerklärlich. Unerklärlich. Das ist in kurzen Worten, was ich Ihnen zu sagen habe.

Sie sagten oben, dass Sie natürlich noch trocken sind. Weshalb ist das „natürlich“ für Sie?

Weil ich sonst aufhören könnte mit dem Leben. Weil es existenzbedrohlich gewesen wäre, wenn ich weiter getrunken hätte. Erstens hätte es meinen Beruf völlig verrumpelt und zweitens auch mein Leben. So dass ich keine Minute daran vergeudet habe, zu überlegen, ob ich nicht doch wieder einen kleinen Schluck nehme. Ich weiß, ich darf es nicht. Da kann ich mir ja auch eine Kugel geben. Oder aus dem Fenster springen. Da ich das noch nicht will, halte ich mich daran, keinen Alkohol zu trinken. Weil dann die gleiche Scheiße wieder von vorne losgeht. Und wieder losgeht. Und wieder losgeht. Das sollte man sich vor Augen halten. Die Leute, die überlegen, ob sie es nicht doch wieder versuchen, kontrolliert … das geht, wenn man alkoholkrank ist, nicht! Das ist wissenschaftlich erwiesen. Und wenn etwas erwiesen, bewiesen ist, dann sollte man sich daran halten. Man schmeißt ja auch nicht dauernd einen Apfel in die Luft mit der Hoffnung, dass er irgendwann ins Weltall fliegt. Das macht ja auch keiner, weil man weiß, die Schwerkraft haut ihn runter. So ist das, wenn man wieder Alkohol trinkt, es haut einen auch wieder runter. So einfach ist das. Das hat was mit Verstehen, mit Einsicht zu tun, weil es nicht anders geht, herrgottnochmal. Nur, indem man nichts mehr trinkt, hilft man sich. Und anderen auch, die ja mit dem Alkoholiker dann leben müssen. Der Alkoholiker hat die Krankheit, die Schmerzen hat das Umfeld. Das sollte man auch mit bedenken: dass es eine Belastung ist für das Umfeld, für die Kinder, die Frau, für die Eltern. Wer will das? Ich wollte das nicht. Und: Ich habe auch ganz egoistisch an mich gedacht, weil ich dann meinen Beruf hätte aufgeben müssen. Wenn ich keinen Beruf mehr habe, kann ich kein Geld verdienen. Und gerade in der neuen Zeit des Kapitalismus ist das Geld ja nun alles und das braucht man eben, sonst kann man sich auch erschießen. Ich muss ich mich eben daran halten, nicht zu trinken. Das ist, wie Rosa Luxemburg sagte, die Einsicht in die Notwendigkeit.

Gab es Momente, in denen Ihnen das schwer gefallen ist, nicht zu trinken, gerade in der ersten Zeit?

Nein. Nie.

Sie hatten nie Suchtdruck?

Nein.

Keine triggernden Situationen? Gar nichts?

Nein. Ich habe gewusst, ich kann nichts trinken. Beim Rauchen wurde es schon schwierig, da wurde ich kribbelig, wenn ich Zigarettenrauch gerochen habe, hmm … oder nach ’nem Kaffee, jetzt ’ne schöne Zigarette … Aber nach Alkohol stand mir nie wieder der Sinn. Ich habe hier Zuhause den ganzen Schrank voll. Für Gäste, die was trinken wollen nach dem Essen.

Die dürfen?

Ja. Ich halte das aber seit dem ersten Tag so, ich habe das nicht weggekippt, obwohl man mir gesagt hatte, ich soll das tun. Aber die schönen Schnäpse, das waren ja alles gute Whiskys, die habe ich behalten. Ich habe keinerlei Bedürfnis, davon was zu trinken. Ja, so einfach ist das. Wie der Kommunismus nach Brecht: Das Einfache, das schwer zu machen ist.

Aber die meisten haben tatsächlich mit Suchtdruck immens zu tun.

Ich kann das verstehen, ich kann das nachvollziehen, wie bei der Zigarette, da hatte ich Suchtdruck. Aber ich habe dem nicht nachgegeben, habe nicht eine Zigarette geraucht, seitdem ich angefangen hatte, aufzuhören.

Es gab also überhaupt kein Liebäugeln mit dem Alkohol, vielleicht später mal wieder oder wenn ich 75 bin?

Nein, nein. (Er lacht) Warum? Ich weiß, dass es mir, auch wenn ich 80 bin, nicht hilft. Das weiß ich. Ich habe mir auch kein Limit gesetzt, so und so viele Jahre trinkst du nicht oder rauchst du nicht.

Was hat Sie zu dieser Einsicht gebracht? Der Aufenthalt in der Klinik 1989?

Das habe ich in der Klinik gelernt, ja. Das wurde mir gesagt, also: Wenn Sie damit wieder anfangen, dann sind sie wieder … und ich habe das ganz schnell eingesehen, weil ich, bevor ich eingewiesen wurde, schon immer wusste, dass ich alkoholkrank bin und dass irgendwas passieren muss. Ich hatte nur die Kraft nicht, alleine aufzuhören. Es musste eben ein Knall geben. Den gab es mit meinem Kreislaufkollaps am 9. November und deshalb bin ich auch mitgegangen in die Klinik. Weil es mir schlecht ging. Da war mir das schon bewusst, dass ich alkoholkrank bin und das ist mir dann in der Klinik auch alles erklärt worden. Dass es eine Krankheit ist, dass es Rückfälle gibt und man das vermeiden sollte. Ich lag ja in einem Zimmer mit sechs Leuten zusammen. Und sah, davon war nicht einer frisch. Die waren alle schon mal in einer Klinik. Ich war der erste, der das erste Mal da war. Alle anderen hatten schon genascht von der Therapie und sind rückfällig geworden, manche mehrere Male. Und da hab ich mir gesagt, wie können die das denn machen? Wie können die denn wünschen, dass man hier nochmal hergeht? Man weiß doch, wohin man kommt? Nun war das ja noch DDR, und das waren auch DDR-Verhältnisse in den Krankenhäusern – jetzt sieht die Klinik ja anders aus –, es war ja alles hässlich, grässlich, und auch da erinnerte ich mich immer: Hier willst du nie wieder hin! Da trinke ich lieber keinen Alkohol. Es war der Vorhof der Hölle für mich. Das hat man mir auch begründet damals, als mir dies nicht passte dort und das nicht passte: „Wir wollen Sie hier entgiften und therapieren, aber wir sollen Sie hier nie wiedersehen.“ Die Umstände, unter denen man therapiert wurde, waren auch ein Grund, nicht wieder zu trinken. Sie haben für mich ihren Zweck erfüllt.

Zu den Erlebnissen in der Klinik sagte er im TrokkenPresse-Interview 2002:

„Wir mussten auch arbeiten … Ich bin dann freiwillig in die Küche gegangen und habe da Kartoffeln geschält, die großen Töpfe ausgewaschen. Das waren damals in der DDR so Aluminiumtöpfe. War alles schwer zu machen, eine Drecks- und Sauarbeit.“ … „Wir wurden auch angehalten, die anderen zu betreuen, die frisch Eingelieferten. Man wurde eingeteilt. In den ersten drei Tagen hat man so eine Art Wache. Dann setzt man sich eben Tag und Nacht zu dem, bis die Entgiftung durch ist. Dass der nicht aufsteht, der muss ja liegenbleiben. Man gibt ihm die Schale oder die Ente … Manche waren verwirrt und krank, hatten sich vom Hirn schon zu viel weggesoffen. Die wussten gar nicht, wo sie sind, gingen in fremde Zimmer oder machten unter sich. Das mussten wir alles wegmachen. Dazu waren keine Schwestern da, dazu waren wir alle da. Oder wenn einer kotzte, dann mussten wir das wegwischen und die Betten neu beziehen. Fußboden wischen, bohnern – das mussten alles wir machen, was ich damals für schikanös hielt, aber im Nachhinein hatte das alles Hand und Fuß.“

Haben Sie nach der Klinik noch Nachsorge oder Gruppe gehabt?

Gruppensachen habe ich nie gemacht. Aber ich war noch ein bisschen in der Caritas zu Sprechstunden. Das war ja nach der Wende, da war sowieso alles durcheinander. Ich hab dann zu denen gesagt, warum soll ich hierherkommen? Ich weiß, dass ich nichts mehr trinken darf. Dann war ich noch 2, 3 Mal da, weil man das ja nachweisen musste, falls man rückfällig werden würde, damit man wieder aufgenommen wird. Das ist dann eingeschlafen, weil ich auch im Ausland gearbeitet habe.

Für viele ist es sehr schwierig, trocken zu bleiben, wenn sie aus der Klinik wieder zurückkommen in das alte Leben, in das alte Umfeld, in den alten Job. Wie war das bei Ihnen?

Die Kollegen wussten ja Bescheid. Ich habe auch offen drüber gesprochen bei mir im Theater. Ich wurde normal, als ob ich gestern aufgehört hätte, wieder aufgenommen. Keiner machte doofe Witze, dumme Anspielungen, ich habe auch keine Biere spendiert bekommen. Und durch die Arbeit habe ich auch gar nicht das Bedürfnis gehabt, ich hatte gar keine Zeit zum Trinken, denn wenn man abends Vorstellung macht, darf man ja nicht betrunken sein, also muss und kann man sowieso nicht trinken. Ich hab mich damals in die Arbeit gestürzt, hatte Theater, hab geprobt, abends gespielt, Filme gedreht, alles hintereinander, dicht an dicht, so dass keine Lücke war. Und ich war ja auch nicht der einzige Alkoholiker im Hause, ich hatte ja noch einen anderen Kollegen …

… einen trockenen?

Ja, aber er war ab und zu feucht, und der hat uns viel Kummer gemacht, weil er sporadisch ausfiel und dann musste umbesetzt werden. Wenn einer fehlt im Theaterstück, wird eine ganze Maschinerie in Gang gesetzt, damit ein anderer das übernehmen kann, da hängt ein ganzer Rattenschwanz dran. Das wussten wir, was passiert, wenn jemand wieder rückfällig wird. Und da habe ich mir gesagt, das soll mit mir nicht passieren. Das war auch noch so ein Grund, warum ich trocken geblieben bin.

Zusammengefasst war für Sie das Wichtigste, dass Sie sich klipp und klar entschieden hatten: Ich will nicht mehr trinken?

Ja. Und auch der Ekel, den man vor sich selbst hatte, den ich mir immer vor Augen geführt habe: Wenn man morgens schon saß und das erste Bier getrunken hat, weil man sonst einen Tremor kriegt. Das fand ich eklig. Ich fand es auch eklig, dass man sich manchmal körperlich so gehen ließ. Also nicht, dass ich schmutzig war, aber manchmal doch mal unrasierter, als man sollte, und vielleicht hat man doch nochmal das Hemd angezogen, das man eigentlich nicht mehr anziehen sollte. Auch das Essen, ich habe ja dann nichts mehr vertragen und nur Haferschleim gegessen. Das war … also nee … das fand ich alles …neee…ekelhaft.

Sie schauen jetzt sogar ganz angewidert von sich selbst früher …

Ja, das war mir zutiefst vor mir selber unangenehm. Und man riecht ja als Alkoholiker, hat ja so eine Ausdünstung nach Azeton, ich hab das bei anderen gemerkt. Sie rochen nicht nach Schnaps, sondern nach Azeton.

Haben Sie denn einen Rat für alkoholkranke Menschen?

Ich kann nur sagen, dass sie sich dessen bewusst werden müssen, dass sie krank sind und dass es ohne Hilfe nicht geht. Ganz, ganz wenige können das, der Durchschnitt kann es nicht, deshalb soll man sich Hilfe suchen. Zum Arzt gehen, in die Klinik, sich therapieren lassen.

Und wenn man das bereits eingesehen hat, schon in der Klinik war, wie bleibt man trocken?

Indem man nichts mehr trinkt. Ganz einfach.

Vorher ist es keine – aber nach Entgiftung und Therapie ist es also eine Willensentscheidung?

Ja .Da kann man sich zum Beispiel die ekligen Sachen hochholen und vor sich ablaufen lassen wie einen Film: wie man da sitzt und besoffen ist und lallt, die Sprache verliert, kein richtiges Wort mehr hinkriegt. Daran sollte man sich erinnern und daran, wie beschissen es einem an anderen Tag geht, um dann wieder in Gang zu kommen mit einem Schlückchen Alkohol, es werden ja immer mehr Schlückchen, bis man dann wieder absackt. Es ist eine mentale Sache, wenn man entgiftet, entwöhnt ist: Dass man weiß, ich darf nichts mehr trinken. Der eine darf eben keinen Zucker mehr essen, der andere darf dies nicht und jenes, und das muss man dann eben so machen. Einfach nicht trinken. Sich ablenken und nicht trinken. Und mit der Zeit denkt man auch nicht mehr dran. Man denkt erst so, ah, jetzt hab ich ne Woche geschafft, dann einen Monat, dann ist es schon ein Jahr. Dann freuen Sie sich immer darüber! Man muss sich auch Gutes tun, indem man sich selbst belobigt. Aber nie darf man denken: Jetzt versuch ich es doch nochmal, zu trinken, vielleicht ist es nicht so schlimm …DOCH, es ist schlimm! Wenn man die Hand ins Feuer legt, verbrennt man sich, man weiß es. Man macht es doch nicht nochmal. Man verbrennt sich einmal und das zweite Mal höchstens aus Dussligkeit. Genau so ist es mit dem Alkohol.

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