Titelthema 03/04: Interview mit Dr. Salloch-Vogel

Titelthema 3/04: Der Lotse geht von Bord

Chefarzt Rüdiger Salloch-Vogel vom Jüdischen Krankenhaus gibt die Leitung ab

Interview

TrokkenPresse: Auf der Entzugsstation des Jüdischen Krankenhauses herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Jetzt gehen Sie. Welche Spuren hinterlassen Sie und welche Spuren haben die Patienten an Ihnen hinterlassen?

Dr. R. R. Salloch-Vogel: Nein, Ihre Aussage stimmt nur dann, wenn Sie sie auf die Unruhe mancher Drogenabhängiger und Alkoholiker beziehen. Wir haben immer noch eine Liegezeit von etwa 10 Tagen und werden diese Liegedauer wegen der seelischen Begleiterkrankungen unserer Patientinnen auch für den Qualifizierten Entzug „verteidigen“, damit wir auch weiterhin Jahr für Jahr vielen alkohol-, medikamenten- und drogenabhängigen Menschen einen Qualifizierten Entzug anbieten können.

Ja, ich gehe jetzt und zolle meinem Lebensalter Tribut und freue mich, wenn ich der Müdigkeit auch mal vormittags ein wenig nachgeben darf. Ich bin sehr dankbar, dass ich 26 Jahre bleiben durfte, was für einen trockenen Alkoholiker ja durchaus nicht selbstverständlich ist: Wir sind quitt – das .Jüdische“ hat mir viel gegeben und ich habe getan, was ich konnte.

Ob ich Spuren hinterlasse? Das will ich nicht überschätzen, wer spricht denn heute noch von meinem Vater, der vor über 30 Jahren gestorben ist? Auf der anderen Seite habe ich über einige Geschenke und Gaben verfügen können, die zusammen eher selten sind: Erlittenes bis zur Abstinenz, ein befreiendes Programm, einen guten Therapeuten (Hartmut Spittler), die Fähigkeit, Menschen zusammenzubringen, politisches Gespür (früh genug und rechtzeitig für die Abstinenz tätig zu werden),mehrere geliebte Menschen um mich herum, die wenig lügen und mich immer wieder zurechtstutzen, einen wunderbaren Oberarzt und ein kräftiges Team mit ganz unterschiedlichen Gaben und noch eine sehr geschätzte Oberschwester, die immer wieder der Pflege die Arbeit vorlebt und sie ermutigt. All diese Menschen können auch durchaus ohne mich mit Sucht und Süchtigen arbeiten und alle können Sucht „lesen“.

Meine Suchtkrankheit und alle Menschen um mich herum, nicht nur die Süchtigen, haben mich geprägt. Ein Teil der Sucht ist so kompromisslos vergiftend und tödlich, dass die Tatsache, abstinent leben zu dürfen und zufrieden nüchtern zu werden von einem bald 65- jährigen sehr dankbar angenommen wird. Die Patientinnen zwingen mich – wie meine Familie – immer wieder auf den Weg zu meiner Wahrheit.

 TrokkenPresse: Woher sind Sie gekommen und wo gehen Sie hin?

 Dr. R. R. Salloch-Vogel: Von Hause aus bin ich Pharmakologe und Internist, Psychotherapeut wurde ich dann später. Als Facharzt für Innere Krankheiten hat mich Prof. Dr. L. Schmidt 1978 als Oberarzt angestellt. Diese 7 Jahre haben mich natürlich geprägt, bis ich dann 1986 Chefarzt der Abteilung wurde. Wie könnte ich – immer vorausgesetzt, ich bleibe so gesund und munter wie bisher – der Suchtkrankenhilfe nicht verbunden bleiben? Ich bin als Mitglied in die „Drogenhilfe Berlin Brandenburg“ aufgenommen worden, habe eine kleine psychotherapeutische Praxis ohne KV-Zulassung und Telefonbuch-Eintrag und pflege ein weiteres „Hobby“: Sucht im Arbeitsleben.

TrokkenPresse: Wie sind Sie darauf gekommen, sich mit Abhängigkeitskranken zu befassen? Würden Sie das wieder machen?

Dr. R. R. Salloch-Vogel: Wohl auf dem Weg des „Wunsches nach Selbstheilung“. Ich habe ja ALLES – inklusive vieler langfristiger psychotherapeutischer Maßnahmen – versucht, meine damals noch so genannte neurotische Fehlhaltung in den Griff zu bekommen. Meine Höhere Macht hat mich halt anders geführt: rein ins Jüdische Krankenhaus und das Leben live erleben. Ja, ich würde wieder diese Verantwortung übernehmen (mit dem üblichen menschlichen Zähneknirschen), auch wenn ich sicherlich – auch gerne – ein guter Tischler mit einem Nebenerwerbshof geworden wäre, wenn meine Frau sich um die Tiere kümmern würde. Aber irgendwann hätte ich dann wohl eine kleine Firma gehabt für feine selbstgebaute Möbel und Suchtkranke im Laden beraten mit einem Raum für Meetings.

TrockenPresse: Welche Haltung – neben der Kompetenz – braucht ein guter Suchttherapeut?

Dr. R. R. Salloch-Vogel: Es fühlen sich, wie so oft, Viele berufen, aber gerade in diesem verschlingenden, verführenden Umfeld ist es wichtig, nicht nur ein verhaltenstherapeutisches Manual im Kopf zu haben, sondern auch sich immer wieder zu hinterfragen, warum gerade Du das machen willst. Es gibt bisher keine wirklich qualifizierende Ausbildung dafür. Psychiater, Psychologe oder Sozialpädagoge zu sein reicht ebenso wenig wie ein suchtkranker Vater oder ein eigene Sucht (und Abstinenz!) oder Arbeitslosigkeit allein, es muss also ein informelles, „rituelles“ Wissen und Fühlen dazu kommen. So etwas erwerben mann, frau mit zunehmendem Alter, durch drei Kinder, durch eigene Leidenserfahrungen, eben durch persönliche Krisen, an denen wir in der Regel reifen und ggf. durch eine Therapie (-ausbildung); der größte Blödsinn ist allerdings, NUR Süchtige könnten Süchtige verstehen. Wer sich das erwirbt, was die Anonymen Alkoholiker „bedingungslose Bereitschaft“ nennen, ist genau im Landeanflug, egal, ob Suchtkranker oder nicht.

TrokkenPresse: Die Arbeit auf den Entzugsstationen in Berlin ist in den letzten Jahren immer härter geworden. Die stark verkürzten Entzüge scheinen sich auch negativ auf die Erfolge auszuwirken. Gibt es beim Personal der Berliner Entzugsstationen Ermüdungserscheinungen, z. B. Resignation, Gleichgültigkeit, Gefühle von Sinnlosigkeit?

Dr. R. R. Salloch-Vogel: Es ist manchmal nicht schlecht, alt zu sein und auch das Einfache zu kennen. Wie haben wir denn angefangen?

Heute ist das Geld alle und der Staat fährt mit hoher Geschwindigkeit an die Wand – in dieser Beziehung beraten mich Gespräche mit meinem 15 Jahre abstinent lebenden Steuerberater, der davon mehr versteht als ich.

Ja, es ist so, dass in den letzten 7 Jahren die Zahl der Wiederholer von 17% auf 45% angestiegen sind und wir verwirrte, unruhige und schlaflose Menschen entlassen müssen, deshalb intensivieren wir die Nachsorge und die Ambulanz. Die Verantwortlichen dafür sind schwer auszumachen, das würde Seiten füllen. Wir sind ja auch nur ein gesamtgesellschaftlicher Spiegel. Die Mitarbeiter sind in der Tat oft überarbeitet und müde, aber sie sind erwachsen, vertreten ihre Meinung deutlich und können etwas, das ich „gnadenloses positives Denken mit realistischer Betrachtung“ nennen möchte. Wir renovieren – bauen um – richten eine Tagesklinik zusätzlich zur Ambulanz ein und sind unter der Bezeichnung „Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie“ genau auf dem richtigen, den heutigen Verhältnissen angepassten Weg. Diese Klinik wird immer eine Klinik für und nicht gegen Suchtkranke bleiben, da bin ich mir mit Dr. Thomas Bschor, meinem Nachfolger, einig.

TrokkenPresse: Was wünschen Sie sich selber, was wünschen Sie Ihrem Nachfolger?

Dr. R. R. Salloch-Vogel: Ich möchte gern jeden Tag so wie den heutigen leben dürfen mit etwas mehr Ruhe und Urlaub. Meinem Nachfolger wünsche ich, dass er seinen eigenen Stil in allem findet und sich die Zeit lassen kann, die er braucht, um die Abteilung unverwechselbar zu prägen, und Klebefüße, um die Bodenhaftung nicht zu verlieren.

Chefarzt Rüdiger Salloch-Vogel: übergibt am l. August 04 seine Arbeit im Jüdischen Krankenhaus an Dr. Bschor. Damit geht eine Ära zu Ende, denn gleichzeitig wird der neue Chefarzt Dr. Bschor die Umwandlung einer internistischen Abteilung in eine psychiatrisch- psychotherapeutische einleiten. Mit Rüdiger Salloch-Vogel verabschiedet sich ein Mensen aus dem Arbeitsleben, der sich kompromisslos für das Überleben seiner Patienten eingesetzt hat und das bedeutet in heutigen Zeiten, dass leider immer wieder Auseinandersetzungen um selbstverständliche Standards geführt werden müssen. Der qualifizierte Entzug zeigt zwar die höchsten Erfolgsquoten, den Therapeuten werden jedoch immer mehr Steine in den Weg gelegt. Rüdiger Salloch-Vogel hat – wie schon seine Vorgänger Prof. Lothar Schmidt oder Hartmut Spittler große Teile seines Lebens für Aufbau und der Erhaltung der Suchtkrankenhilfe eingesetzt. Dafür ist ihm im Namen vieler ehemaliger, abstinent lebender Patienten zu danken!

Die Redaktion

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