Titelthema 4/15: Wenn Eltern trinken …

Fotomontage: B-Balschus Fotos: Dieter Schütz _pixelio.de, PBAM-Fotogruppe

Fotomontage:
B-Balschus
Fotos:
Dieter Schütz _pixelio.de,
PBAM-Fotogruppe

Wenn Kinder zu Eltern ihrer Eltern werden

Familiäre Suchtprobleme haben gravierende Auswirkungen auf Kinder

von Henning Mielke

Bei den Südseeinsulanern gibt es einen Brauch: Will man eine leerstehende Hütte vor Plünderei schützen, so verschließt man die Eingangstür mit einer Knotenschnur. Setzt sich jemand über diese Schutzmaßnahme hinweg, so hat er Unheil zu fürchten. Das Zerreißen der Schnur zieht einen Fluch nach sich. Tapu-Schnüre werden diese polynesischen Diebstahlsicherungen genannt. Als „Tabu“ fanden sie Eingang in unseren Wortschatz. Wenn ein ungeschriebener gesellschaftlicher Konsens es verbietet, ein bestimmtes Thema anzusprechen und es damit der Diskussion entzieht, spricht man von Tabuisierung.

Wenn die Sprache auf Kinder kommt, deren Eltern suchtkrank sind, erlebt man, wie machtvoll Tabus sind. Denn in unserer Gesellschaft ist es nicht opportun, Eltern auf die Art und Weise anzusprechen, wie sie mit ihren Kindern umgehen. Noch weniger opportun ist es, Menschen ihre Sucht anzusprechen. Jeder Leser und jede Leserin möge es einmal gedanklich für sich durchspielen, wie es sich anfühlt, einem Nachbarn respektvoll und höflich zu sagen: „Ich nehme wahr, dass sie sehr häufig alkoholisiert sind und ich mache mir Sorgen um das Wohl ihrer Kinder.“ Da hängt eine dicke Knotenschnur vor der Tür des Nachbarn.

Kinder aus suchtbelasteten Familien sind deshalb so schwer für Hilfeangebote zu erreichen, weil familiäre Suchtprobleme und die Auswirkungen auf Kinder wie ein doppeltes Tabu wirken. Die Familien verleugnen das Suchtproblem und schotten sich gegenüber Hilfeangeboten ab. Und die Umwelt wagt es meist nicht, in diese Festung der Verleugnung einzudringen. Die Kinder sind in der Geiselhaft der Sucht. Ca. 2,65 Millionen Kinder suchtkranker Eltern gibt es in Deutschland. Fast jedes sechste Kind kommt aus einer suchtbelasteten Familie, die weitaus meisten davon aus Familien mit Alkoholproblematik. Die Kinder leiden immens unter der Familiensituation, denn wo Sucht im Spiel ist, fehlen emotionale Zuwendung, Vertrauen und Zuverlässigkeit. Sie übernehmen viel Verantwortung für ihre Eltern und deren emotionale Bedürfnisse. So geraten sie in eine dauerhafte Überforderung durch die sogenannte Parentifizierung, bei der sie im Extremfall buchstäblich wie die Eltern ihrer Eltern agieren. Für Spiel und Spaß bleibt kaum noch Raum und Zeit. Die Folgen einer solcherart geraubten Kindheit sind gravierend. Etwa ein Drittel der Kinder wird im Erwachsenenleben selber stofflich abhängig. Ein weiteres Drittel entwickelt psychische oder soziale Störungen. Das letzte Drittel geht einigermaßen unbeschadet aus der belastenden Kindheitssituation hervor.

Dieses letzte Drittel ist bedeutsam, um zu verstehen, wie man Kinder aus Suchtfamilien unterstützen kann. Studien haben Schutzfaktoren identifiziert, die es den Kindern ermöglichen, sich trotz widriger Kindheitsumstände relativ gesund zu entwickeln. Der wichtigste Schutzfaktor ist das Vorhandensein einer tragenden Beziehung zu einer erwachsenen Vertrauensperson außerhalb der Kernfamilie. Für die Entwicklung von Kindern ist es wichtig, dass Erwachsene sie in ihren Emotionen, in ihrer Persönlichkeit und in ihren Fähigkeiten widerspiegeln. Wenn Eltern suchtkrank sind, dann ist der Spiegel, in dem sich das Kind betrachtet, blind. Zwar lieben suchtkranke Eltern ihre Kinder, sie sind jedoch suchtbedingt meist nicht in der Lage, ihnen zuverlässig und beständig die Zuwendung zu geben, die sie brauchen. Eine Oma, ein Onkel, Eltern von Spielfreunden, eine Erzieherin oder ein Lehrer können dem von Sucht im Elternhaus betroffenen Kind ein verlässliches Gegenüber sein. Es ist wichtig, dass sie emotional präsent sind, dem Kind zuhören und ihm das Gefühl vermitteln, liebenswert zu sein. Diese Erfahrung ist in ihrer Wirkung für Kinder aus Suchtfamilien von immenser Bedeutung.

Ein zweiter wichtiger Schutzfaktor ist die Einsicht, dass die Eltern an einer Krankheit leiden. In den meisten Fällen suchen die Kinder die Ursache für die Sucht und das Unglück der Eltern bei sich. Tiefsitzende Schuld- und Schamgefühle sind die Folge. Wenn Kinder das Vorhandensein von Suchtproblemen im Elternhaus ansprechen, ist es daher wichtig, dass Erwachsene ihnen Basisinformationen über Sucht vermitteln:

 

Sucht ist eine Krankheit.
-Die Eltern sind wegen ihrer Sucht keine schlechten Menschen.
-Das Kind hat keine Schuld am Suchtproblem von Vater oder Mutter.
-Es kann den Eltern nicht helfen und es ist auch nicht seine Aufgabe, deren Sucht zu kontrollieren oder zu heilen.
-Das Kind hat trotz der Suchtkrankheit im Elternhaus das Recht, Kind zu sein, zu spielen, die Welt zu entdecken, -Freundschaften zu entwickeln und die eigenen Fähigkeiten zu erproben.

 

Diese Einsichten entlasten Kinder, helfen Ihnen, Schuld- und Schamgefühle zu überwinden und stärken ihr Selbstwertgefühl. Wenn ihnen erklärt wird, was Sucht ist, hilft dies, Angst abzubauen, weil sie das Verhalten der Eltern dann einordnen können.

 

Kinder aus suchtbelasteten Familien sind sehr loyal gegenüber ihren Eltern und wollen sie schützen. Für die Arbeit mit diesen Kindern im Kontext von Kindergarten, Schule, sozialer Arbeit, Gesundheitswesen und Jugendarbeit ist es daher wichtig, nicht in Aktionismus zu verfallen, sobald ein Verdacht auf ein familiäres Suchtproblem besteht. Das Wichtigste ist, zunächst eine vertrauensvolle Beziehung zu dem Kind oder Jugendlichen herzustellen und zu pflegen. Das Kind sollte ermutigt werden, über seine Emotionen und Wahrnehmungen zu sprechen. Wird dem Kind aufmerksam zugehört und wird es in seinen Gefühlen ernst genommen, hilft ihm dies zu entdecken, dass seine Gefühle ganz normal sind und dass es in Ordnung ist, traurig, verwirrt oder wütend zu sein. Wenn genügend Vertrauen aufgebaut ist, kann es sein, dass das Kind das Suchtproblem von sich aus anspricht. Dann ist es hilfreich, dem Kind die aufgeführten entlastenden Informationen über Sucht zu vermitteln.

Grundsätzlich profitieren Kinder suchtkranker Eltern von allen Aktivitäten, die es ihnen ermöglichen, Kind zu sein, ihre Fähigkeiten und Talente zu entdecken sowie soziale Fertigkeiten zu entwickeln. Dafür brauchen sie einen Raum, in dem sie ausgelassen spielen können. Alles, was das Selbstbewusstsein stärkt, unterstützt die Kinder, ihr eigenes Leben zu gestalten. Gleichzeitig gilt es für sie zu verstehen, dass sie ihre Eltern lieben und sich gleichzeitig von deren Suchtproblem lösen dürfen.

 

Mit der richtigen Art von Unterstützung können die meisten Kinder mit den suchtbedingten Schwierigkeiten einigermaßen zurechtkommen. Sobald ein Kind Verhaltensauffälligkeiten zeigt, muss jedoch über eine therapeutische Unterstützung nachgedacht werden. Gibt es Anzeichen von Gewalt, Vernachlässigung oder Missbrauch, besteht die Pflicht, zum Schutz des Kindes tätig zu werden und in letzter Konsequenz auch das Jugendamt einzuschalten.

Eine besondere Untergruppe der Kinder aus suchtbelasteten Familien sind jene Kinder mit vorgeburtlicher Schädigung durch Alkohol.

 

Alkohol ist ein Zellteilungsgift. Wenn werdende Mütter Alkohol konsumieren, tritt dieser aus dem Blutkreislauf der Mutter in den des Embryos bzw. Fötus über. Insbesondere die Entwicklung des Gehirns wird durch den Alkohol negativ beeinflusst. Die Leber des ungeborenen Kindes ist in den ersten Monaten noch nicht in der Lage, eigenständig zu entgiften. So ist das Kind immer noch alkoholisiert, während die Mutter längst wieder nüchtern ist. Auf diese Weise kann das Zellteilungsgift Alkohol über lange Zeit schädigend auf den sich entwickelnden Organismus des Kindes einwirken.

 

Durch Alkohol während der Schwangerschaft kann ein ganzes Spektrum von Störungen verursacht werden, das unter dem Begriff FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorders) zusammengefasst wird. Fetale Alkoholspektrum-Störungen (FASD) zeigen sich in Form von Hirnfunktionsstörungen und Fehlbildungen beim ungeborenen Kind.

Wie das Farbspektrum eines Regenbogens reicht das FASD-Spektrum von der voll ausgeprägten Form des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) über das schwächer ausgeprägte Partielle Fetale Alkoholsyndrom (PFAS) und die alkoholbedingten Geburtsschäden (Alcohol Related Birth Defects, ARBD) bis hin zur äußerlich nicht sichtbaren Form der alkoholbedingten neurologischen Entwicklungs­stö­rung­en (Alcohol Related Neurodevelopmental Disorders, ARND). Die Übergänge zwischen den verschiedenen Formen sind fließend.

 

Zu den äußerlich sichtbaren Merkmalen bei FAS, und – schwächer ausgeprägt – bei PFAS und ARBD zählen Minderwuchs, Untergewichtigkeit und körperliche Missbildungen, insbesondere im Gesicht. Gravierender aber sind die unsichtbaren Schä­di­gungen des zentralen Nervensystems. Sie äußern sich u. a. in kognitiven und intellektuellen Beeinträchtigungen. Es bestehen Sprachdefizite und soziale Defizite, Verhaltensauffälligkeiten sowie Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Stö­rungen. Die Kinder können sich Informationen schlecht merken, neigen zu sozial unangemessenem Verhalten, haben Probleme, ihre Impulse zu kontrollieren, Handlungen zu planen und sind oft nicht in der Lage, mit abstrakten Konzepten wie z. B. Zeit oder Geld umzugehen.

 

Bei der äußerlich nicht sichtbaren Form ARND kann die Schädigung von Gehirn und zentralem Nervensystem genauso gravierend sein, die Diagnose ist jedoch wegen der fehlenden äußerlichen Merkmale erheblich schwieriger.

 

Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Mutter ein Kind mit FASD auf die Welt bringt, steigt mit der Menge und der Dauer des Alkoholkonsums. Es gibt keinen Schwellenwert für ungefährlichen Alkoholkonsum während der Schwangerschaft. Auch nichtsüchtige Schwangere, die im Rahmen des gesellschaftlichen Trinkens als normal angesehene Alkoholmengen konsumieren, können die Gesundheit ihres Kindes gefährden. Sogar ein nur einmaliger Vollrausch einer schwangeren Frau kann für das Kind gefährlich sein. Grundsätzlich sollte deshalb während der Schwangerschaft auf jeglichen Alkohol verzichtet werden. Umgekehrt gilt: Jeder Schwangerschaftstag ohne Alkohol erhöht die Chancen, ein Kind mit geringerer Schädigung zur Welt zu bringen.

 

Es liegen keine gesicherten Zahlen vor, wie viele Kinder jedes Jahr in Deutschland mit FASD geboren werden. Anhand europäischer Vergleichsstudien schätzen Expertem das Auftreten des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) in Deutschland auf 0,2 bis 8,2 Fälle pro 1000 Geburten. Die Inzidenz für alle Unterformen des FASD-Spektrums wird auf eine pro 100 Geburten geschätzt. Die Bundesdrogenbeauftragte geht für Deutschland aufgrund der hohen Dunkelziffer von jährlich 10.000 Neugeborenen mit FASD aus.

Fetale Alkoholspektrum-Störungen sind nicht heilbar. Die Entwicklung der Kinder kann jedoch durch Förderung und Unterstützung positiv beeinflusst werden. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist, dass FASD zweifelsfrei diagnostiziert worden ist. Liegt die Diagnose vor, können die Kinder gezielt unterstützt werden, u. a. durch Logopädie, Ergotherapie und neuropsychologisch fundierte Psychotherapie. FASD-Kinder brauchen im Alltag eine gut strukturierte Umgebung, in der sie in ihrer Entwicklung unterstützt werden. Die wichtigste Hilfe und Unterstützung aber ist die Beziehung zu den Pflege- bzw. Adoptiveltern oder Heimerzieher/innen, die es den Kindern ermöglicht, eine sichere Bindung zu entwickeln und Liebe und Annahme zu finden.

 

Der Autor ist freier Journalist und Vorsitzender von NACOA Deutschland – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e. V.

 

 

Informationen über Kinder aus suchtbelasteten Familien:

www.nacoa.de

www.traudich.nacoa.de
Informationen über Kinder mit FASD:

www.fasd-fachzentrum.de

www.fasd-deutschland.de

 

Titelthema 3/15: Vorsicht, Suchtverlagerung?

TitelVorsicht, Suchtverlagerung!?

Diesen erhobenen Therapeuten-Zeigefinger haben wohl alle noch vor Augen, die aus einer Entgiftung oder Entwöhnungstherapie kommen. Aber: Ist die Gefahr wirklich so groß? Und was ist überhaupt eine Suchtverlagerung?

Hier eine Definition (aus Wikipedia):

„Unter Abhängigkeitsverlagerung (Suchtverlagerung) versteht man das Ausweichen von Abhängigkeitskranken auf ein anderes Abhängigkeitsverhalten als das ursprüngliche. Eine Abhängigkeit wird durch eine andere ersetzt. So hat z. B. ein Alkoholkranker, der zwar mit dem Trinken aufhört, dafür aber Medikamente oder andere Drogen konsumiert, seine Abhängigkeitserkrankung nicht zum Stillstand gebracht, sondern sie nur auf eine andere Substanz verlagert. Werden die Ursachen der Abhängigkeit nicht aufgelöst – etwa im Rahmen einer Psychotherapie –, werden häufig andere Substanzen oder Tätigkeiten süchtig konsumiert bzw. ausgeübt und treten so an die Stelle der Ursprungssucht.“

So unterschiedlich die Menschen, so verschieden sind die Mittel und Stoffe als Ersatz: Der eine flüchtet in Arbeit, Kaufrausch, Sport oder Spiel, der andere greift zu Schlafmitteln, Cannabis, wird zum fanatischen Plätzchen-Esser oder mag ohne TV und Internet nicht mehr leben.

Es gibt bisher keine Erkenntnisse darüber, wie viele Abhängigkeitskranke nach einer Sucht in die nächste abgleiten, und in welche. Fakt ist aber, dass es tatsächlich passiert. Das belegt auch unsere kleine Umfrage im Internet:

„Heute bin ich gerade mal schlappe sechs Wochen nüchtern. Bei mir schleicht sich aber in jeder Trockenphase die Magersucht wieder ein und auch mein Koffeinkonsum übertrifft weit ein normales Maß. Vom Zigarettenrauchen will ich schon gar nicht anfangen …“

„Meine Suchtverlagerungen: Zunächst Kaffee. Totale Kopfschmerzen im Kaffeeentzug. Dann fast gleichzeitig Schokolade, maßlos. Wenn ich eine Tafel Schokolade aufgemacht habe, habe ich sie innerhalb kürzester Zeit auch verspeist. Und dann noch eine milde Form von Workaholic. War in den ersten 15 Jahren meiner Trockenheit nicht einen Tag krankgeschrieben …“

„Ich habe nach meiner Therapie viel Sport gemacht. Einerseits um meine inneren Spannungen abzubauen, aber auch, um mich körperlich total fit zu fühlen. Auch heute mache ich gerne Sport und bewege mich nach Möglichkeit, doch inzwischen weniger und weniger zwingend.“

„Ich sehe das Ganze nicht so verbissen. Für mich besteht Gefahr erst dann, wenn ich Substanzen zu mir nehme, die meine Persönlichkeit verändern, Alkohol und Drogen! Bei zu viel Schokolade riskiere ich schlimmstenfalls, fett zu werden. Das ‚Schlüsselwort‘ ist für mich ACHTSAMKEIT.“

Eine Differenzierung fällt auch deshalb schwer, weil heute die meisten Abhängigen bereits mehr als nur einem Suchtmittel verfallen sind (polytoxikoman oder mehrfachabhängig). So gehört zum Alkoholiker meist auch die Zigarette oder der Joint oder Tabletten werden in Verbindung mit Alkohol genommen. Kann man in diesen Fällen von einer Primär- und einer Sekundärsucht sprechen? Ist es wirklich so, wie vor allem in den Selbsthilfegruppen üblich: höre erst mal auf zu trinken, das mit dem Rauchen solltest du später angehen. Es ist schon schwer genug eine Sucht in den Griff zu bekommen, zwei würden deine persönlichen Kräfte überfordern. Oder muss die gesamte „Suchtpersönlichkeit“ geändert werden, denn wenn ein trockener Alkoholiker weiterraucht, hat er sein süchtiges Verhalten nicht geändert, es ist lediglich ein Stoff von mehreren weggefallen.

Wie bei vielen Dingen, ist auch hier die persönliche Prädisposition vermutlich entscheidend: der eine kann mit dem Trinken und dem Rauchen gleichzeitig aufhören, der andere schafft es nicht. Allerdings, auch das ist bewiesen, bedienen sich Abhängige mit ihrem gerade erst wieder erwachenden Selbstbewusstsein nur zu gerne der „du-schaffst-nur eine-Sucht“-Theorie. Es ist überhaupt erstaunlich, wie jede noch so krude Aussage von anderen genutzt wird, sein eigenes Verhalten zu rechtfertigen. Ein ganz Schlauer hat in der Sechs-Wochen-Therapie des AKB mal messerscharf geschlussfolgert: Sucht ist eine unheilbare Krankheit. Ich bin krank, die Krankheit ist unheilbar, also muss ich trinken.

Deshalb ist es so wichtig, dass jeder, der sich auf den Weg in die Abstinenz begibt, darauf achtet, ob andere Stoffe oder Verhaltensweisen nicht in eine erneute Abhängigkeit führen. Das ist in erster Linie eine Frage der Einstellung zur Sucht an sich und der persönlichen psychischen Fähigkeiten, bestimmte Belastungen oder Stress zu ertragen, ohne Ausgleich in einem anderen Suchtmittel zu suchen. Daraus ergibt sich auch die Frage, ob eine Suchtverlagerung nicht gleichzeitig auch ein Rückfall ist, nur mit einem anderen Mittel?

Bei trockenen Alkoholikern steigen oft der Kaffee-, Zigaretten-, Schokoladen- und Kuchenkonsum erheblich. Da freuen sich die meistens schon angeschlagenen inneren Organe! Die Leberzirrhose hat man gerade noch so umschifft, jetzt drohen der Diabetes oder der Lungenkrebs.

Mehr zum Thema Suchtverlagerung in unserem folgenden großen Interview mit Dr. Tabatabai, Chefarzt der Hartmut-Spittler-Klinik in Berlin.

Wilhelm/Schiebert

Ist Suchtverlagerung ein Thema?

Gespräch mit dem Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik, Dr. Darius Tabatabai, über die Arbeit von Berlins renommierter Entwöhnungsklinik und das Thema „Suchtverlagerung“

TP: Wie beschreiben Sie das Profil der Spittler-Klinik am Auguste-Viktoria- Krankenhaus in Schöneberg?

Im Mittelpunkt unserer Arbeit steht das Grundverständnis für den Abhängigen. Wir wollen seine gesamte Persönlichkeit erfassen und arbeiten nach der psychoanalytisch- interaktionellen Methode. Die Konzepte von Hartmut Spittler, aber auch meinem Vorgänger Andreas Dieckmann, werden ständig weiterentwickelt. Auf Grund meiner langjährigen Tätigkeit an der Klinik konnte ich eine Reihe von eigenen Ideen verwirklichen.

Arbeitstherapeutische Prozesse, berufliche Wiedereingliederung und Familienarbeit sind wichtige Eckpfeiler unserer Arbeit. Dabei wird unser Angebot, auch die Kinder mit einzubeziehen, sehr gut angenommen. Die Freizeitgestaltung mit Sport, Chor und anderen Aktivitäten wird gut genutzt.

Außerdem spielt unser Standort „mitten im Leben“ eine wichtige Rolle. Schon vor der Kliniktür beginnt die Konfrontation mit dem Biertrinker im Bus, Risikofelder (Stammkneipe) müssen passiert werden, aber auch der Kontakt zur Familie und Besuche der eigenen Wohnung während der Therapie gehören dazu.

Wie ist die Klinik ausgelastet?

Das ist unterschiedlich. Zeitweise können wir neue Patienten sofort aufnehmen, manchmal ergeben sich Wartezeiten. Speziell im Februar und März konnten wir eine große Nachfrage beobachten.

Wie ist die Zusammensetzung der Rehabilitanden? Den „reinrassigen Alkoholiker“ gibt es ja nur noch selten.

Das entspricht auch unseren Beobachtungen. Polyvalente Süchte nehmen offenbar gerade bei jüngeren Menschen zu. Der Altersdurchschnitt liegt bei etwa 46 Jahren. Dabei sind die Älteren oft noch reine Alkoholkonsumenten, während bei den Jüngeren auch Cannabis, Amphetamine, Kokain und synthetische Drogen eine Rolle spielen. Dabei nehmen viele Rehabilitanden eine innere Trennung vor: vom Alkohol möchte ich los, aber mit dem Kiffen habe ich gar nicht so ein Problem. Unsere Entwöhnungstherapie allerdings ist so eine Art Trainingslager, bei dem die Erfahrung mit der Abstinenz im Vordergrund steht. Ein „Splitten“ der stoffgebundenen Abhängigkeiten ist daher auch bei uns nicht möglich. Zudem setzen die eingesetzten Stoffe die Kritikfähigkeit so weit herab, dass auch der erneute Konsum von Alkohol in den meisten Fällen nur eine Frage von Zeit ist.

Wie geht es nach der Therapie weiter?

Abhängigkeitserkrankte erleben den Gebrauch der Stoffe recht essenziell. Deshalb ist es wichtig, sich mit der Frage zu beschäftigen: welche konkrete Bedeutung hat das Suchtmittel für mich? Ein Drittel hält nach der Therapie die Abstinenz aufrecht, ein weiteres gutes Drittel konsumiert, manchmal reduziert, weiter, ist nun aber schneller am Hilfesystem dran, und etwa ein Viertel zeigt gegenüber dem ursprünglichen Konsum keine Veränderung. Deshalb ist in der Therapie der offene Umgang mit der Situation wichtig, weil sich nur ein Teil der Abhängigen konsequente Veränderungen vorstellen kann. Es ist sehr wichtig, den Zweiflern offen und zugewandt zu begegnen, weil dies langfristig die Bereitschaft, später erneut Hilfe anzunehmen, erhöht. Insgesamt sind wir in Berlin in einer sehr guten Situation hinsichtlich der ambulanten Weiterbehandlung: das Netz aus Beratungsstellen, weiteren komplementären therapeutischen Maßnahmen und nicht zuletzt der breit aufgestellten Selbsthilfe ist hervorragend.

Die Reduzierung des Konsums kommt gegenüber der vollständigen Abstinenz immer stärker in die Diskussion, so auch in den neuen S3-Leitlinien. Wie sehen Sie die Situation?

Ich stehe der Diskussion aufgeschlossen gegenüber, aber unsere Klinik ist eindeutig ein „Trainingslager“ für die Abstinenzfähigkeit. Hier soll ein suchtmittelfreies Leben erfahren werden, welche Bewertung die Rehabilitanden am Ende vornehmen, bleibt in ihrer Hand. Die Diskussion um die Trinkmengenreduktion polarisiert aus meiner Sicht unnötigerweise, weil sie nur dem schlechten Erreichungsgrad der Alkoholabhängigkeit (2015 bei 16%) Rechnung trägt und hofft, dies durch eine weniger dogmatische Grundhaltung zum Positiven zu verändern. Unsere Gesellschaft pflegt einen sehr doppelbödigen Umgang mit dem Alkohol, der ja sehr zum kulturellen Leben dazu gehört. Lange Zeit wird großzügig darüber hinweggesehen, wenn Menschen schon in riskanter Weise, Schäden in Kauf nehmend, konsumieren. So lange sie aber nicht „unangenehm“ auffallen, werden sie meist auch nicht angesprochen. Gesundheitliche, aber auch soziale Schäden werden lange Zeit dabei hingenommen. Fallen Betroffene dann aber doch unangenehm auf, wendet sich das Blatt recht radikal: aus dem „gepflegten Wegschauen“ wird dann nicht selten Abscheu. Dieses Phänomen trägt zur Aufrechterhaltung von Abhän-
gigkeiten nicht unerheblich bei.

Hausärzte und Kliniken müssen bei Änderungswilligen nicht zwingend mit dem Abstinenzdogma kommen, sondern dem Patienten nahelegen: ändere etwas, bewerte das Risiko für dich und versuche, den Konsum herunterzufahren! Das kann aber nur eine Empfehlung für Menschen sein, die noch keine Entzugssymptome zeigen und ihren Konsum noch steuern können. In unserer Klinik kommen solche Patienten aber nicht an. Viel wichtiger als Medikamente (lt. Prof. Bschor bewirkt Nalmefen eine Reduktion um ein Glas Bier á 0,25l pro Tag) sind die persönlichen Gespräche mit dem Hausarzt: nach einer halbstündigen Intervention trinken 50 Prozent weniger! Kürzere Interventionen führen immerhin in zehn Prozent der Fälle zu einer Reduzierung der Trinkmenge. Deshalb halte ich diese Methode für zulässig. Nicht aber für gesichert Abhängige, da hier der erneute Kontrollverlust hochwahrscheinlich ist.

Ein Argument in der Selbsthilfe ist es: mit kontrolliertem Trinken wird nur Geld verdient.

Natürlich darf, wenn es hilft, damit auch Geld verdient werden. Das Drama in den Hausarztpraxen ist allerdings, dass einfach die Zeit fehlt, ausführlich mit dem missbräuchlich Trinkenden zu reden. Dabei ist bekannt, dass die Grenze zwischen Missbrauch und Abhängigkeit sehr schmal ist. Hier muss vor allem ein Umdenken bei den Krankenkassen erfolgen, um solche Leistungen in der hausärztlichen Praxis auch dementsprechend zu vergüten.

Auch im Medizinstudium muss dem Stoffgebiet „Sucht“ mehr Zeit eingeräumt werden. Bei etwa 3,5 Millionen Alkohol-
kranken und schädlich Konsumierenden in Deutschland ist das dringend geboten. Die Abhängigkeitserkrankungen müssen ihr Schmuddelimage verlieren, ähnlich wie es seit mehreren Jahren bereits zunehmend besser gelingt, den Depressionen ihr Stigma zu nehmen.

Welche Rolle spielen Suchtverlagerungen in Ihrer Klinik?

Bei einer recht ungestörten Persönlichkeitsentwicklung verfügen Menschen über Fertigkeiten (skills), die ihnen helfen, mit den herausfordernden Situationen des Lebens umgehen zu können. Bleibt die Entwicklung einiger Skills aus, kann dies durch den Konsum von Suchtmitteln aufgefangen werden. Ein Suchtmittel kann dabei auch die Funktion von einem anderen übernehmen. Benzodiazepine z. B. sind „elegant“, auch, weil der Gebrauch initial in vielen Fällen kaum bemerkt wird, im Gegensatz zur Alkoholwirkung. Nach recht kurzer Zeit ist der Konsum jedoch genauso risikoreich wie der Alkoholkonsum. Wir weisen auf diese Zusammenhänge hin, aber ohne zu moralisieren. In der Therapie sprechen wir über die Risikobewertung von Kaffee, Essen, Sexualität usw. Welche Gesundheitsrisiken sind damit verbunden? Die Menschen merken während der Entwöhnung, auf zum Teil schmerzhafte Weise, dass etwas fehlt. Das Zusammenspiel der Hirnbotenstoffe ist noch in Unordnung. Das Gehirn wartet also auf Stoffe von außen, die die Befindlichkeit verbessern. Das können auch Süßigkeiten sein. Die Leber hat ein bisschen Ruhe, dafür wird durch die Erhöhung der Blutfette möglicherweise der Herzinfarkt wahrscheinlicher. Die durchgeführte Ernährungsberatung glückt nur, wenn ein Grundverständnis für die schwierige Situation der Erkrankten besteht.

Wozu tendieren trockene Alkoholiker?

Wir registrieren vor allem viel Kaffee, Zigaretten und das Verlangen nach Süßem. Das ist für einen durch Alkohol vorgeschädigten Körper insgesamt nicht gerade förderlich. Aber es bleibt dennoch ein Erfolg, wenn unsere Rehabilitanden ihre Alkoholabhängigkeit in den Griff bekommen.

Können Polytoxikomane (Mehrfachabhängige) einzelne Süchte zum Stillstand bringen oder muss die Suchtpersönlichkeit verändert werden?

Die isolierte Abstinenz von Alkohol ist schwierig. Ich erinnere den Beitrag eines Rehabilitanden , der drei Jahre lang alkoholfreies Bier getrunken und immer wieder einen Joint geraucht hat. In der Gruppe fielen alle über ihn her, dabei wurden die drei relativ risikoarmen Jahre (in Bezug auf die Biografie des Rehabilitanden) völlig übersehen. Zu häufig werden demotivierende, unnötige Gräben geschaufelt, die es schwer machen, sich selbst zu motivieren und alle Suchtmittel in Angriff zu nehmen.

Gibt es eine Angst vorm Trockenwerden?

Natürlich. Es kann zu Schockreaktionen führen, wenn ich plötzlich auf etwas verzichten soll, das fester Bestandteil meines Lebens war. Die entstehende Leerstelle wird dann oft mit einem anderen Suchtmittel ausgefüllt. Am besten ist es, wenn sich der Betroffene ein Umfeld aufbaut, das ihm Halt gibt, wie es bei anderen Krankheiten auch erforderlich ist.

Wie sieht es mit dem Wechsel von stofflichen auf nichtstoffliche Süchte aus?

Eine Bedürfnisbefriedigung, die vorher mit dem einen Stoff erfolgte, sucht sich häufig neue Quellen. Das können Shoppingattacken, rezidivierendes (wiederkehrendes) Verlieben, Onlinesucht, klassische Spielsucht und andere sein. Bei uns ist seit einiger Zeit der Gebrauch von Smartphones und Laptops weniger reglementiert, weil dies mehr unserer aller Lebensrealität entspricht. Dabei dürfen allerdings die persönlichen Kontakte in der Klinik nicht reduziert werden. Wir haben nach wie vor abends Leben in den Aufenthaltsbereichen, aber man muss schon darauf achten, dass keine riskante „Verabschiedung“ in virtuelle Räume stattfindet.

Bedeutet Suchtverlagerung gleichzeitig einen Rückfall?

Ein Rückfall wird oft wie eine Niederlage empfunden. Wenn ich ein Risiko gegen ein anderes austausche, muss ich es ernst nehmen. Dabei ist der erhobene Zeigefinger fehl am Platze. Motivation ist wichtig, da Abhängige sehr häufig Schwierigkeiten in der Selbstwertregulation aufweisen. Wir sagen: toll, dass Sie den Alkohol im Griff haben, jetzt wollen wir auch das zweite Problem noch in Angriff nehmen, den Zustand erreichen, wo es weniger schädlich ist (essen statt trinken, aber aufpassen!). Wenn Sie weiter so rauchen, … so ist das ungesund, nimmt Ihnen aber nicht den Erfolg, mit dem Trinken aufgehört zu haben.

Strenge sich selbst gegenüber ist nicht einfach, da sie zu stark angewendet in Destruktion mündet. Der Aspekt „Schuld und Sühne“ kann da wieder sehr doppelbödig sein.

Herr Dr. Tabatabai, die TrokkenPresse bedankt sich für das Gespräch!

Das Gespräch führte

Jürgen Schiebert

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von Joachim Seiler, mit Zeichnungen von Heiko Gliesche-Neumann
Die Sammlung der beliebtesten satirischen Kolumnen aus der TrokkenPresse  – vom Autor des legendären Buches „Blaupause“.
Taschenbuch, 100 Seiten, Preis: 10,00 Euro, ISBN 978-3-9813253-5-5   
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Titelthema 02/15: Suchthilfe im Internet

Cover_TP-2_15Ob per Handy von unterwegs oder Zuhause am PC:

Suchthilfe im Internet

Was gibt es, was bringt es?

Sind Sie auch jeden Tag im Internet? Dann gehören Sie zu den rund 80 Prozent Deutschen, für die der Besuch im Web zum Alltag gehört. Ob zum Chatten, Mailen, Shoppen, um Informationen zu finden und Rat. Auch Süchtige finden inzwischen viele Hilfsangebote. Gibt man zum Beispiel die drei Suchwörter „Alkoholismus, Hilfe, Beratung“ bei einer Suchmaschine ein, kann man heute unter 400 000 Einträgen dazu auswählen! Aber wonach denn nun auswählen? Das erfahren Sie hier…

(Auszug aus dem Chat einer Alkoholiker-Gruppe bei einem sozialen Netzwerk (Namen geändert):

Andra: „Guten Morgen, liebe Gruppe! Ich bin seit fast zwei Jahren trocken. In letzter Zeit kommt mir immer häufiger der Gedanke, dass mir die Abstinenz eigentlich nicht viel bringt. Ich bin aber nicht akut gefährdet zu einem Rückfall, habe keinen Suchtdruck, ekele mich sogar davor, wenn andere nach Bier riechen. War das bei irgendjemandem hier auch schon mal so?“

Rose: „Das geht mir auch so, Andra, und ich bin über 30 Jahre trocken, also wenn jemand nach Alkohol riecht. Aber zum ersten Gedanken: Man sollte halt sein ganzes Leben ändern und nicht nur den Alkohol weglassen. Zur Selbsthilfegruppe gehen!“

Andra: „Hey Rose, kann mir denn die Selbsthilfegruppe dabei helfen? Ich finde keinen Lebenswillen, keine Freude mehr. Alles nervt nur noch und kotzt mich an. Ist das bei euch so, geht das irgendwann mal weg???“

Karin: „Mich würden deine Abstinenzgründe interessieren und was deine Stoppschilder sind nicht wieder anzufangen zu trinken. LG“

Karin: „Ach so: Shg ist wirklich wichtig! Ich spreche aus eigener Erfahrung. Such dir nicht die erste beste aus, sondern es muss auch zwischenmenschlich stimmen. Dann hast du Freunde, Berater, wie ne kleine Familie. Die dir mit Rat und Tat zur Seite stehen!“

Paule: „Ja, Andra, es geht wieder weg, wenn du durchhältst und nicht wieder anfängst zu trinken. Selbsthilfegruppe wäre ein guter Tipp … aber es gibt auch andere Dinge, die dir über diese schlimme Phase helfen: Tue etwas für DICH!!!“

Sylvie: „Hmmm … ich bin da sehr radikal. Wenn ich lese/höre, das jemand fragt: was bringt mir die Abstinenz? Gibt es für mich nur eine Antwort: dein Leben!!“

Gerd: „Wenn Du keinen Sinn im Leben findest, keine Freude, finde ich Dich aber höchst akut gefährdet in Bezug auf einen Rückfall, Kerstin … pass bloß gut auf …“

Paule: „Ja – ich sehe auch die Gefahr zum Rückfall … Diese Stimmungen/Phasen musst du trocken überstehen! Also hole dir Hilfe und denke immer, es wird wieder besser. Wenn du wieder trinkst, dann fängt das Elend von vorne an. Bleibe stark!“

Andra:„Erstmal danke für eure ehrlichen Antworten. Ich bin noch nicht solange trocken (fast zwei Jahre erst) und vllt dachte ich auch fälschlicherweise, dass sich dann einfach was von alleine ändert an meinem Lebenswillen …“

Diese sieben trockenen AlkoholikerInnen sind einander noch nie direkt begegnet …
Aber sie „reden“ im Internet miteinander, sie teilen ihre ganz persönlichen Erfahrungen zu dem sie verbindenden Thema: Alkoholkrankheit. Völlig unabhängig davon, wo der Computer eines jeden gerade steht, in Berlin oder Thüringen, daheim oder im Büro – und es ist auch egal, wie spät es gerade ist.
Sie chatten miteinander.

Chats und Foren

Chatten ( engl. plaudern) ist elektronische Kommunikation mit anderen in Echtzeit, meist auf Websites mit dafür ausgelegten technischen Funktionen. Menschen treffen sich an einem „Ort“ – dem Chat-room. Oft, wie z. B. bei facebook, ist es ein eigener virtueller „Gruppenraum“, zu dem nur Mitglieder Zutritt haben.

Der Unterschied zu einem Forum: Dort kann man – nachdem man sich angemeldet hat – in verschiedene (n streichen) Themenbereichen seine Frage „einstellen“. Die wird dann meist vom Moderator/Administrator geprüft (um Beleidigungen u. ä. vorzubeugen), und dann erst für alle Forumsmitglieder freigegeben. Wer es liest, und ob jetzt oder später, kann dann antworten. Die Unterhaltung verläuft also asynchron.

In diesen Foren und Chats finden Sie Gleichgesinnte:

www.clic-deutschland.de

www.suchtundselbsthilfe.de

www.forum-alkoholiker.de

www.selbsthilfe-interaktiv.de/foren

www.sucht-selbsthilfe.com

www.trockeneralkoholiker.forumieren.com

facebook-Gruppen:

(bei www.facebook.com anmelden, unter Suchfunktion die Gruppe finden)

FTA – Forum Trockener Alkoholiker

Trockene Alkoholiker sind die wahren Helden

Trockene Alkoholiker

Alkoholiker

Alkoholsucht

Anonyme Spieler und Alkoholsüchtige

Suchtselbsthilfe in Deutschland

Suchtfrei…ich bin dabei

AA-Meetings:

www.online-aa.de

(Für die „aa-only-Meetings” müssen Sie sich einschreiben [(anmelden]).

Den Chat können Sie über einen Gastzugang mitbenutzen.)

Natürlich finden Sie im Internet auch reine Informationen zum Thema Alkoholabhängigkeit, Sucht, Entgiftung, Entwöhnung usw., und können so anonym überhaupt erst einmal einen ersten Zugang zum Thema bekommen. Sie können sich auch an Tests versuchen und herausfinden, ob Sie oder ihr Partner süchtig sind oder nicht. Für Letzteres aber bieten sich besonders Onlineberatungen an …

Online-Beratung

„Mein Mann trinkt jeden Abend zehn Bier, ist er gefährdet? Was kann ich tun?“

Solche und ähnliche Fragen können Sie anonym an Experten stellen. Das Grundprinzip: Sie machen keinen realen Termin wie bei einer Suchtberatungsstelle, sondern schreiben eine E-Mail mit Ihrer Frage zu jeglichem Problem, versenden Sie und erhalten in ein bis zweiTagen eine Antwort. Und zwar von Fachleuten auf diesem Gebiet, meist Therapeuten.

Hier zum Beispiel finden Sie Online-Beratung:

www.caritas.de (hilfeundberatung/onlineberatung/suchtberatung)

www.suchthotline.info

www.step-hannover.de (angebote/online-beratung)

www.diakonie.de (Ich suche Hilfe/ Alle Beratungsleistungen/nur online-Beratung, auf Karte klicken)

www.das-beratungsnetz.de

(Auch regional werden mitunter Online-Beratungen angeboten. Sie könnten Sie finden, wenn Sie die Suchbegriffe Sucht, Beratung online, Ihren Ort angeben)

Außer den vorgestellten Möglichkeiten im Internet entwickeln sich derzeit weitere. Eine davon: Die Online-Therapie. Sie könnten dann von Zuhause aus per Video-Chat mit einem Therapeuten täglich ihr Therapie-Pensum bearbeiten. Das wird gerade mit einigen Projekten an Universitäten getestet. Da aber in Deutschland das Fernbehandlungs-Verbot besteht, sind die rechtlichen Voraussetzungen dafür erst noch zu schaffen. Deshalb hier nur eine Website, die es bereits ermöglicht, weil die deutschsprachigen Betreiber in Frankreich agieren: www.myonlinetherapie.com. Aber Vorsicht, lesen Sie sich alle Hinweise auf der Seite genau durch. Diagnosen werden nicht gestellt – und es ist auch selbst zu bezahlen.

Was können diese Angebote, was nicht?

Ich muss nirgendwohin fahren.

Ich muss keine Termine einhalten.

Ich muss mich nicht vor Bekannten outen.

Ich muss schreiben, das klärt Gedanken.

Ich kann jederzeit alles wieder nachlesen.

Ich kann jederzeit rund um die Uhr Informationen, Erfahrungen und Hilfe erhalten.

Das scheinen die wesentlichen Vorteile der Hilfe aus dem Internet zu sein.

Ein Handbuch der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V.* zum Thema empfiehlt die Nutzung virtueller Selbsthilfegruppen vor allem für „… Betroffene, die an ihrem Wohnort keine geeignete reale Selbsthilfegruppe haben, die aus anderen Gründen keine reale Gruppe aufsuchen können oder wollen, … die ausdrücklich die Kommunikation über das Internet wünschen, weil sie ihre Probleme ansprechen können, ohne ihre Identität bekannt geben zu müssen.“ Dennoch, heißt es weiter, könne die Gruppe im Internet „ … trotz des intensiven Austausches die wirkliche Begegnung und das solidarische Gruppenleben nicht ersetzen … Gerade für Menschen mit Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Umgang kann die mediale Information und Vermittlung kein wirklicher Ersatz und keine Alternative für den direkten zwischenmenschlichen Kontakt und die damit verbundenen Auseinandersetzungen sein.“ Außerdem könne die Gefahr der Suchtverlagerung – des Austausches eines Suchtmittels gegen ein anderes (Internet) – bestehen.

* DHS, Manual „Sucht-Selbsthilfe: Beratung und Begleitung von suchtkranken Menschen und ihren Angehörigen im Internet“, Christina Meyer)

Anja Wilhelm

So schützen Sie Ihre Daten im Net

Vorab:
Was einmal im Netz steht, ist weltweit zugänglich – und nur sehr schwierig wieder „zurückzuholen“! Deshalb als Grundregel:

Stellen Sie nur Informationen, Fotos und Filme ins Internet, die auch die ganze Welt lesen und sehen darf, ohne dass es Ihnen schaden kann.
Schaden können Ihnen vor allem auch kriminelle Nutzer, vom so genannten ¸Identitäts-Klauer‘ (zum Beispiel, um auf Ihren Namen in Online-Shops zu bestellen) bis zum Passwort-Dieb (zum Beispiel für das Online-Banking).
Dagegen können Sie sich mit den folgenden Regeln „selbst verteidigen“:

– Überlegen Sie genau, welche Daten Sie herausgeben. Wenn in Foren oder Shops Informationen zu Ihnen erfragt werden, ist es zum Beispiel nicht immer nötig, auch die Telefonnummer „auszuplaudern“ o.ä.
– Sie dürfen auch ruhig ein bisschen flunkern in Foren, Chats oder sozialen Netzwerken, benutzen Sie ein Pseudonym.
– Passwörter sollten mindestens achtStellen in Groß/Kleinschreibung plus Zeichen haben. Wechseln Sie diese alle zwei bis drei Monate. Geben Sie sie niemals weiter an andere.
– Versäumen Sie das Ausloggen nicht!
– Benutzen Sie E-Mail-Dienstanbieter, die nicht nur die Daten verschlüsselt speichern, sondern auch den Transport der Daten (z.B. web.de, gmx …)!
– Öffnen Sie niemals SPAM-Mails oder deren Anhänge, sie könnten Viren enthalten.
– Achten Sie beim Online-Banking auf eine sichere Verbindung, zu sehen in der Adresszeile als „https“
– Installieren Sie eine Firewall, sie schützt vor unberechtigten Zugriffen aus dem Internet.
– Aktualisieren Sie Ihr Antivirenprogramm stetig, das schützt vor sogenannter Spyware (Viren, die Ihren PC „ausspähen“ könnten).
– Stellen Sie in sozialen Netzwerken Ihren Privatsphäre-Filter genau ein: Wer darf dies oder das von mir sehen und lesen?
– Facebook: Sobald Sie sich als Mitglied registriert haben, unterliegen Sie denfacebook-Datenschutzrichtlinien. Lesen Sie diese also vorher. Denn facebook darf laut safe-harbour-Bestimmungen (sie regeln den Datenaustausch zwischen den USA und der EU) alle Informationen sammeln, die Sie bereitstellen, von der Telefonnummer bis zu Urlaubsfotos. Um sie dann zum Beispiel Mess- und Anzeigendiensten zu verkaufen. Regeln Sie In den Privatsphäre-Einstellungen, wer welche Daten sehen und lesen kann. Wenn Sie einer Gruppe beitreten, beachten Sie: Nur geheime Gruppen sind wirklich geheim – niemand außer den Gruppenmitgliedern kennt Gruppe, Namen, Beteiligte und die Postings.

Weitere Hinweise finden Sie unter www.bfdibund.de, einem Datenschutzforum, und unter www.selbstdatenschutz.info, wo technische Schritte genau erklärt werden.

 

Titelthema 01/15: Frau und Sucht

titeltp115FRAU und SUCHT

Sind Frauen anders süchtig als die Männer?

Etwa 370 000 Frauen und Mädchen sind alkoholabhängig,meldete die Drogenbeauftragte der Bundesregierung vor vier Jahren. Seitdem gibt es noch keine neuen offiziellen Zahlen, aber Schätzungen liegen höher, nämlich bei 500-600 000. Tendenz steigend. Immer mehr Frauen trinken immer mehr. Aber weshalb?

Ich stehe vor dem Weinregal im Supermarkt. Ganz bewusst. Das tat ich bis jetzt höchstensdann, wenn mal eine Feier bevorstand. Heute ist das aber anders … Also: Welche Flasche nehme ich? Die Etiketten sagen mir gar nichts. Weiß? Rot? Ja, rot. Rot wärmt. Ich nehme die Flasche mit nach Hause. Nicht wie ein Paket Nudeln. Eher so hoffnungsvoll wie eine neue, unbekannte beste Freundin. Mit der Zuversicht, sie würde mich heute Abend ablenken können. Mir abzuschalten helfen. Den Verstand auszuknipsen, die ewigen zermürbenden Gedankenkreisel mal anhalten. Die Einsamkeit verscheuchen. Die Sorgen, die Angst. Denn ich bin allein. Mein Mann ist zu einem Job in den fernen, gefährlichen Kongo gereist. Aber ich habe nicht nur Angst um ihn, sondern auch seit Monaten Furcht um unsere Ehe. Er ist so anders in letzter Zeit. Er verheimlicht mir Dinge,die er tut. Auf meine Fragen bekomme ich nie Antworten … All das will ich heute einfach mal nicht fühlen müssen. Sondern vergessen dürfen. Und ich ahne, der Rotwein könnte helfen. Für diesen Abend tat er es – bis zum nächsten Morgen zwar nur. Aber immerhin!

Dieser ganz bewusste Kauf vor 12 Jahren, an den ich mich erinnere, als wäre es gestern gewesen, war mein Einstieg ins Alkoholikerleben. Denn es folgten ihm noch unzählige … So sehe ich das heute.

Ich war damals 40 Jahre alt, arbeitete als Redakteurin und versorgte meinen Sohn, unseren Hund, Haus und Garten; mein Mann arbeitete die Woche über in einer anderen Stadt. Damit passte ich haargenau hinein in das Bild, das die große EU-Studie „Alkoholkonsum und Alkoholprobleme bei Frauen in europäischen Ländern“ heute von 40 % der alkoholabhängigen Frauen zeichnet: gute Ausbildung, berufstätig, Familie. Hinzu kommen meist noch Doppelbelastung, geradlinige Lebensläufe. Häufig Minderwertigkeitskomplexe. Schuldgefühle. Oft eine plötzliche Lebenskrise, die zu bewältigen wäre. Heimlich trinkend, unauffällig. Sich aus Scham erst spät Hilfe suchend. Ein anderer großer Anteil sind laut Studie sehr junge Mädchen und Frauen, aus oftmals zerrütteten Elternhäusern, mit Erfahrungen von Misshandlungen und Missbrauch. Zerrissen zwischen Größenwahn nähern sie sich dem Koma-Trinken der Jungen an.

Christina Schadt von der Fachstelle für Suchtprävention Berlin bestätigt diese Studienergebnisse in einem Interview mit der TrokkenPresse:

Weshalb trinken Frauen und rutschen in die Sucht?

Schadt: „Die Sozialisation von Frauen und das ,so habe ich zu sein als Frau‘ birgt spezifi sche Risiken hinsichtlich der Entwicklung einer Sucht. Viele Frauen kümmern sich auch heute noch zuerst um andere und wollen um jeden Preisfunktionieren und ihren Alltag bewältigen. Anders als Männer richten Frauen sich meist an den Anforderungen von außen aus. An dem, was andere von ihnen wollen. Nicht daran, was sie selber wünschen. Frauen wollen heute beides, einen Beruf, der sie erfüllt und den sie gut ausfüllen, aber gleichzeitig auch gut die Familie versorgen. Diese Doppelbelastung kann zu Überforderungssituationen führen. Denn noch immer erhalten Frauen traditionell zu wenig Unterstützung von der Familie, vom Partner. Solche Situationen der hohen Belastung versuchen Frauen – im Gegensatz zu Männern – mit sich selbst zu klären. Und trinken Alkohol, weil sie sich zum Beispiel entlasten und entspannen wollen.“

Wie trinken Frauen – und weshalb?

Schadt: „Generell trinken sie weniger als Männer, und eher Mixgetränke, Wein und Sekt als Spirituosen. Was das riskante Trinken angeht, liegen Frauen mit einem Anteil von 12,8 % im Vergleich zu Männern mit 15,6 % ähnlich hoch. Eine Abhängigkeitserkrankung weisen dagegen etwa 9,5 % der Männer und 3,5 % der Frauen in Deutschland auf (vgl. ESA 2012). Auch die Situation des Trinkens an sich ist anders: Frauen trinken eher im Verborgenen, eher zuhause. So, dass die Öffentlichkeit das nicht mitbekommt. Denn Frau und Alkohol ist gesellschaftlich stigmatisiert. Der Mann dagegen erfährt sogar eher soziale Anerkennung. Sein Trinken wird gesellschaftlich bewertet als männlich und stark. Gleichzeitig allerdings versuchen inzwischen einige Frauen, dieses alte Stigma aufzubrechen und trinken jetzt auch öffentlich.“

Werden Frauen schneller süchtig?

Schadt: „Ja. Wenn Frauen das Gleiche trinken wie Männer, hat es stärkere Auswirkungen. Das liegt zum Beispiel am geringeren Körpergewicht, der Alkohol verteilt sich auf kleinerem Raum. Dazu ist die relative Fettmasse größer als beim Mann, diese ist aber kaum durchblutet. Der Alkoholspiegel im Blut ist dementsprechend höher, wirkt intensiver und begünstigt raschere Organschäden. Außerdem haben Männer einen höheren Anteil bestimmter Enzyme, die für den Abbau des Alkohols zuständig sind, im Körper. Bei Frauen wird also Alkohol schlechter abgebaut.“

Brauchen Frauen geschlechtsspezifi sche Beratung und Therapie?

Schadt: „Ja! Weil sie andere Motive haben zu trinken. Andere Bedürfnisse. Darauf sollte unbedingt eingegangen werden, um passgenaue Betreuungsmöglichkeiten zu finden. Das beginnt ja schon bei der Kinderbetreuung, Mütter brauchen Angebote, die Therapie und Kind unter einen Hut zu bringen gestatten.“

Was könnten oder müssten Frauen anders tun, um nicht zum Alkohol zu greifen?

Schadt: „Frauen sollten eine Menge mehr für sich selber tun. Nach eigenen Bedürfnissen schauen, denen mehr Gewichtgeben. Sie müssten lernen, ihre Belastungen zu reduzieren, indem sie sie auf mehrere Schultern verteilen, sich Unterstützung zu suchen. Und: Entspannung lernen. Aber das Wichtigste ist wirklich, dass Frauen ihre Denken verändern: Nämlich dahin, sich vielmehr als bisher um sich selbst zu kümmern.“

Frau und Sucht

 

titeltp115Die aktuelle TrokkenPresse …

TrokkenPresse 1-15… hat als Hauptthema diesmal, wie schon angekündigt, „Frau und Sucht“: Frauen wie Marion aus Brandenburg und Mia aus Berlin schildern ihre Erfahrungen als Alkoholikerin. Männer erzählen, wie sie die nasse Zeit mit ihrer Partnerin erlebten. Expertenmeinungen, Zahlen und Fakten geben Auskunft auf unsere Frage:

Sind Frauen anders süchtig?

Ja? Oder nein? Schauen Sie doch vorab auf unsere Leseproben unter dem Button „Aktuelle Trokkenpresse“.
Weitere Themen: Cannabis, frei verkäuflich oder nicht? Stadtentwicklung in Berlin-Schöneberg und und und… Wie immer natürlich werden Sie AnDi`s aktuelle Gedanken im ABC der Sucht lesen können, über Rolf Zweifels neue Kolumne schmunzeln, Veranstaltungstipps finden. Auch Gedichte und Gerichte fehlen natürlich nicht.

Übrigens: Ihre Ideen, Erfahrungen und Gedanken sind uns immer sehr wichtig!!!! Bitte einfach hier unter Kontakt klicken – und losschreiben!

HERZLICH WILLKOMMEN…

2013-03-23 002… auf unserer neuen Webseite!


Das Team des Verlages TrokkenPresse wünscht Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, dass jeder Tag des neuen Jahres 2015 ein „trockener“ sein möge –  voller Zufriedenheit und Gesundheit. Jenen, die noch auf dem Wege dahin sind, Hoffnung und Kraft!

 


Was erwartet Sie hier?

Aktuelle Termine, Hilfs-und Freizeitangebote, Informationen für Suchtpatienten und -therapeuten in Berlin/Brandenburg und mehr. Außerdem Leseproben der aktuellen Ausgabe und der Bücher sowie Bestell-und Kaufmöglichkeiten.
Um ständig „frisch“ zu sein, sind wir auch auf Sie angewiesen:
Bitte senden Sie uns IHRE Erfahrungen, Gedanken, Tipps und Ideen!


Neu: Unsere aktuelle Print-Ausgabe ist da!

TP06-14-TrokkenPresse

Möchten Sie vorab schon einmal hineinschnuppern?

Die Inhaltsangabe und Text-Auszüge finden Sie immer unter dem Button Aktuelle TrokkenPresse, Titelblatt/Inhalt, Thema, Kolumne und Hausdestille.
Wo Sie die TrokkenPresse erwerben können, sehen Sie unter Kaufen&Bestellen.

Viel Spaß!

Titelthema 6/14: Datenschutz

Gespräch mit Dr. Alexander Dix über den Datenschutz im Gesundheitswesen

Dr. Alexander Dix

Dr. Alexander Dix

Datenschutz ist Grundrechtsschutz!

Vor wenigen Tagen hatte die „TrokkenPresse“ die Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit, Dr. Alexander Dix. Auslöser war ein Beitrag von Prof. Dr. Renate Schepker im „Deutschen Ärzteblatt“ vom Oktober 2014 (siehe TP 5/14). Dort wird u. a. festgestellt: „Die Datenübermittlung (von Kliniken, Ärzten usw. d. V.) gestattet derzeit theoretisch jedem bei den Krankenversicherungen beschäftigten Sachbearbeiter – 2009 waren das 137.513 Personen – Kombinationen von Diagnosen und Leistungen und damit Fallverläufe nachzuvollziehen.“ Das führt zu der Schlussfolgerung: „Den Patienten und ebenso den Patientenverbänden dürfte nicht bekannt sein, dass gerade aus den besonders sensiblen Leistungskodes für psychische Erkrankungen deutlich mehr ablesbar ist als aus denen des DRG-Systems (Fallpauschalen d. V.).“

Wir wollten wissen, wie es mit dem Schutz persönlicher Daten, auch über den Gesundheitsbereich hinaus, bestellt ist.

 Warum müssen wir unsere Daten schützen?

Spätestens Edward Snowdens Enthüllungen über die exzessiven Überwachungspraktiken der amerikanischen und britischen Geheimdienste haben den Menschen die Augen geöffnet, welcher Krake seine Fühler nach „unseren“ Daten ausstreckt. Vielen war schon vorher klar, dass das Internet eine unsichere Infrastruktur ist. „Unbekannt war dagegen, dass es systematisch als Plattform für eine weltweite, anlasslose Überwachung genutzt wird und dass darüber hinaus Geheimdienste auch demokratischer Staaten, die jedes Maß verloren haben, die gesamte Telekommunikation jederzeit beobachten.“ (Bericht des Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit 2013). Dass die Konsequenzen, welche die Bundesregierung daraus gezogen hat, „im Wesentlichen verbaler Natur“ (ebenda) sind, lässt die Schlussfolgerung zu, dass man an oberster Stelle um das Problem weiß, aber nicht gewillt ist, es zu lösen. Letzten Endes sind gerade personengebundene Daten mittlerweile zu einer hochprofitablen Handelsware geworden.

„Wissen ist Macht“, lautet eine nicht neue Erkenntnis von Francis Bacon. Das Wissen über Persönliches hat weitreichende Bedeutung für Regierungen, Geheimdienste, Unternehmen und Institutionen. Jeder Bürger wäre deshalb gut beraten, verantwortungsbewusst und sparsam mit dem Weitergeben von persönlichen Informationen umzugehen.
Deshalb ist ein funktionierender Datenschutz von größter Wichtigkeit, wollen wir unsere Identität und Individualität auch zukünftig erhalten und nicht „Big Brother“ noch mehr Möglichkeiten geben, in unsere Privatsphäre einzudringen.

Der gläserne Patient

Dr. Dix stellte eingangs fest, dass der Schutz der persönlichen Daten ein Grundrecht jedes Bürgers ist. In der heutigen Zeit des Abschöpfens von Daten geht es darum, dieses Recht zu stärken und zu verteidigen. Besonders betroffen davon ist das Gesundheitswesen. Es gibt den Widerspruch zwischen ärztlicher Schweigepflicht und gleichzeitiger elektronischer Übermittlung von Patientendaten, z. B. an die Abrechnungsstellen der Krankenkassen. Hier sind die Einflussmöglichkeiten des Berliner Datenschutzes begrenzt, da keine gesetzliche Krankenkasse ihren Standort in Berlin hat.

Nicht jeder im Gesundheitswesen Beschäftigte müsse alles wissen, so Dix. Es muss gewährleistet werden, dass nur die unbedingt erforderlichen Daten weitergegeben werden und zur Weitergabe aller persönlichen Daten das Einverständnis des Patienten vorliegen muss. Die Schwierigkeit bestehe darin, dass Patienten, die sich meistens in einer psychischen Ausnahmesituation befinden, oftmals gar nicht wissen, was sie in der Klinik unterschreiben.

An dieser Stelle versucht der Datenschutz verstärkt Einfluss zu nehmen. So werden Beschwerden der Patienten sehr ernst genommen und ihnen wird konsequent nachgegangen. Darüber hinaus informieren sich die Datenschützer regelmäßig über die Krankenhausinformationssysteme und deren Umfang. Im Bedarfsfall geben sie den Kliniken Orientierungshilfen, was zulässig ist und was nicht.

Die Hauptverantwortung liege aber beim Patienten. Denn er bestimmt über den Umgang mit seinen Daten. Dazu sei wichtig, sagte Dr. Dix, dass er sich nicht nur über seine Krankheit informiere, sondern genauso auch über seine Bürger- und Patientenrechte. Es gibt mittlerweile eine Reihe von gesetzlichen Grundlagen, die den Schutz sensibler Daten beinhalten. So ist im § 4a des Bundesdatenschutzgesetzes festgelegt, dass der Bürger über die Weitergabe von persönlichen Daten voll aufgeklärt werden muss. Das bedarf der Schriftform und einer ausdrücklichen Einwilligung, soweit besondere Arten personenbezogener Daten (§ 3, Abs. 9) erhoben, verarbeitet oder genutzt werden. Aber mal ehrlich: wer unserer Leser weiß das schon? Hier komme der Aufklärung eine große Bedeutung zu, stellte der Datenschutzbeauftragte fest. Oftmals fehle ihm diese in den Krankenhäusern. Dass ein minimaler Datenfluss zu den Krankenkassen unumgänglich sei, schon wegen der Abrechnung, sei nicht zu umgehen.

Wie sieht es mit Sanktionen bei Verstößen aus? Vielen Missständen komme man durch Anfragen und Informationen der Bürger an den Berliner Datenschutz auf die Spur. Aber auch durch regelmäßige Kontrollen. Im öffentlichen Bereich, wozu z. B. die Vivantes-Krankenhäuser zählen, bestehen die Möglichkeiten des Datenschützers vor allem darin, Verstöße zu beanstanden, die Verursacher zur Stellungnahme aufzufordern und Vorschläge zur Beseitigung der Mängel zu unterbreiten. Bei Privatunternehmen, wozu z. B. die Helios-Krankenhäuser zählen, werden schwerwiegende Datenschutzverstöße mit einem Bußgeld geahndet.

Auf der zukünftigen Krankenversicherungskarte sollen auch bestimmte sensible Daten (Diagnosen, Therapien, Medikamentengaben usw.) gespeichert werden. Das ist erst einmal wichtig für die ganzheitliche Behandlung, wenn z. B. der Urologe weiß, welche Medikamente der Patient vom Kardiologen bekommt. Trotzdem ist vor allem hier die Mitarbeit des Patienten gefordert. Er entscheidet, welche Diagnosedaten gespeichert werden dürfen und er muss informiert werden, was auf die Karte gespeichert wird. Ein Problem dabei sieht Dr. Dix bei einem Backup der Daten: Wo werden diese abgelegt? Wer hat darauf Zugriff? Eine Sicherungskopie ist deshalb erforderlich, falls die Karte verloren geht…

(Den gesamten Text lesen Sie bitte in der Print-Ausgabe der Trokkenpresse 6/14)

Hübler/J. Schiebert

Titelthema 05/2014: Wohnungslos – und kein Ende in Sicht

WOHNUNGLOS – UND KEIN ENDE IN SICHT


Die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt ist seit der Jahrtausendwende eindeutig. Die Mietpreise steigen und der Bestand an bezahlbarem Wohnraum sinkt. Selbst bei Neubauprojekten beträgt der Anteil an sozialem Wohnraum oft weniger als 30%. Das Phänomen Wohnungslosigkeit trägt damit wesentlich zur sozialen Ungleichheit zwischen denen, die haben und denen, die nicht(s) haben, bei. Betroffen ist davon zum Beispiel das Rentnerehepaar mit begrenztem Einkommen, das aufgrund von Gentrifizierung seine alte Wohnung nicht mehr bezahlen kann und aufgeben muss. Den Mangel an sozialem Wohnraum bekommen auch jene deutlich zu spüren, die wir im Rahmen der ambulanten Hilfen betreuen. Die Unterbringung bei Verwandten und Freunden kann in diesem Zusammenhang nur als Notlösung angesehen werden. Folgt man der Definition von Wohnungslosigkeit, die die Bundesarbeitsgemeinschaft der Wohnungslosenhilfe (BaGW) formuliert hat, dann gehören beide Personengruppen bereits zu den fast 300.000 Menschen, die allein in Deutschland von Wohnungslosigkeit betroffen sind. Es reicht schon der Umstand, dass jemand über keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügt und auf ordnungs- oder sozialrechtlicher Grundlage in eine kommunale Wohnung oder in ein Heim der Wohnungslosenhilfe eingewiesen wird. Dort ist allerdings die Aufenthaltsdauer begrenzt und Dauerwohnplätze gibt es nur wenige. Typische Beispiele dafür sind Übergangswohnheime und -wohnungen, Asyle, Herbergen und betreute Wohnformen. Dies gilt gleichermaßen für den von uns im Rahmen von betreutem Einzelwohnen und einer therapeutischen Wohngemeinschaft zur Verfügung gestellten Wohnraum. Ganz gleich um welche Wohnform es sich dabei handelt, für die betroffenen Wohnungslosen geht es immer „nur“ um kurzfristigen Schutz, nicht um langfristiges Wohnen.

Dass es oft unverschuldete unglückliche Umstände, wie der Tod von Menschen und Tieren, Krankheit, Scheidung, Gefängnis, Gewalt, psychische Erkrankung und Sucht sind, die Menschen in die Wohnungslosigkeit treiben, macht die Sache nicht einfacher. Noch weniger hilft das Recht auf Wohnen, dieses 1948 international verbriefte Menschenrecht. Man mag jetzt einwenden, dass der menschenrechtliche Handlungsbedarf hierzulande eh weniger offenkundig ist als in vielen Teilen der Welt, wo unfassbares Wohnelend herrscht. An der Verpflichtung eines jeden Staates, für seine Bürger Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben zu schaffen, ändert dies aber nichts. Und: eine sichere, angemessene und dauerhaft finanzierbare Wohnung bleibt dafür eine we- sentliche Grundvoraussetzung. Die steigenden Zahlen wohnungsloser Menschen sind jedoch eher ein Indiz dafür, dass die Politik allein diese Aufgabe nicht bewältigen kann. Es braucht mehr Initiativen, z.B. in kleinerem Zusammenhang orientierten Kontext und ganz allgemein mehr gesellschaftliches Verständnis für die Ursachen von Wohnungslosigkeit.

Auch Menschen, die aus Institutionen wie Gefängnissen, Kliniken und Heimen entlassen werden, gehören zum Personenkreis der Wohnungslosen. Sie bleiben immer häufiger in ihrer schwierigen Situation stecken, wenn zum Zeitpunkt der Entlassung kein Wohnplatz zur Verfügung steht. Der Schritt in die Selbstständigkeit durch eigenen Wohnraum bleibt ihnen somit verwehrt. Für solche Fälle ist in Berlin die Soziale Wohnhilfe ein verlässlicher Ansprechpartner. Sie kooperiert seit langem mit den Berliner Wohnungsbaugesellschaften. Doch der Bedarf übersteigt bei weitem das Angebot, das vermittelt werden kann. Richtig kritisch wird es, wenn man dann noch auf die steigende Anzahl von Immigranten und Asylbewerbern blickt. Sie müssen in der Regel monatelang in Auffangstellen, Lagern, Heimen oder Herbergen wohnen, bis wenigstens der Aufenthaltsstatus geklärt ist.

Für fast alle hier genannten Betroffenen gilt, dass sie aufgrund eines schwierigen Wohnungsmarktes zu lange in einer Situation leben, die auf Dauer krank macht. Und zwar nicht nur körperlich, sondern vor allem psychisch. Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe in Berlin schlagen bereits seit langem Alarm und beklagen die unhaltbaren und unmenschlichen Zustände für die Betroffenen. Wie gestrandete Seelen warten sie auf ein normales Leben in eigener Wohnung. Hinzu kommt der Umstand, dass diese Menschen zunehmend als Konkurrenz von jenen empfunden werden, die noch weiter unten sind. Die, die „Platte machen“, also auf der Straße leben und ohne eigene Unterkunft an öffentlichen Plätzen, in Abbruchhäusern, Parks oder unter Brücken nach einem Schlafplatz suchen, bis sie nicht mehr können und ein Dach überm Kopf benötigen oder verschrieben bekommen.

Man glaubt es kaum: der 11. September ist nicht nur der „Tag des Terrors“, sondern auch der „Tag der Wohnungslosen“. Grund genug zu hoffen, dass zukünftig etwas mehr, und sei es nur ein winziger Bruchteil des Geldes, welches für die Terrorbekämpfung ausgegeben wird, für die Wohnungslosen abfällt. Vielleicht schlägt man damit sogar zwei Fliegen mit einer Klappe: die Zellen von Wut und Verzweiflung befrieden!

Andreas Peters

Titelthema 04/14: Mut zur Veränderung

MUT ZUR VERÄNDERUNG


Einige Leitsätze möchte ich meinen Ausführungen voranstellen:

– Das Leben ist Veränderung und Veränderung gehört zum Leben dazu.

– Wir können uns nicht nicht verändern.

– Ohne Veränderung gäbe es keine Weiterentwicklung.

– Veränderungen tragen grundsätzlich die Chance zu eine Verbesserung der bestehenden Situation in sich.

– Veränderung ist ein Instrument der aktiven Lebensgestaltung.

Veränderungen bringen neue Dinge mit sich, mit denen wir erst noch lernen müssen umzugehen. Mit dem Vertrauten kennen wir uns aus, aber Neues wirkt erst einmal bedrohlich, weil wir nicht einschätzen können, welche möglichen Gefahren oder Unannehmlichkeiten damit verbunden sind. Unsere Skepsis beziehungsweise Angst vor Veränderungen ist natürlich oder normal, denn sie sichert unser Überleben. Wir dürfen uns nur nicht von diesen Impulsen beherrschen lassen.
Wir warten mit vielen notwendigen Entscheidungen bezüglich Veränderungen oft so lange, bis irgendetwas auf uns zukommt. Wir werden selbst also erst aktiv, wenn es nicht mehr anders geht. Und dann haben wir den Eindruck, dass wir nur noch reagieren können, selbst aber keine Wahl hatten. Beispiele in Ihren Reihen gibt es zuhauf!

Sie werden z. B. „völlig überraschend“ gekündigt. Die Ehefrau reicht „aus heiterem Himmel“ die Scheidung ein. Ihr Arzt stellt „plötzlich“ einen schweren Leberschaden fest…

Doch fast alle Veränderungen haben Vorzeichen, und in der Regel haben wir sehr viele Möglichkeiten, zu erkennen, in welche Richtung etwas verlaufen wird.
Wenn wir aber alle Zeichen ignorieren und hoffen, dass alles beim Alten bleibt, kommt irgendwann der Augenblick, in dem die Veränderung, z. B. die Kündigung oder die Scheidung, uns tatsächlich wie ein Schicksalsschlag trifft, auf den wir nur noch reagieren können. Dann fühlen wir uns in der Regel überfordert, hilflos und sind verunsichert.

Anders ist es, wenn Sie sich selbst rechtzeitig für eine Veränderung entscheiden, selbst dann, wenn es noch nicht zwingend notwendig ist. Das wäre dann ein Vorbeugen, z. B. bei kleinen Anzeichen für gesundheitliche Probleme. Statt abzuwarten, bis Sie ernsthaft erkranken, ein sogenannter Schicksalsschlag Sie trifft, könnten Sie z. B. überlegen, ob Sie etwas an Ihrer Lebensweise ändern müssen. Sie werden damit zu einem aktiven Gestalter der Situation und Ihres Lebens. Dazu brauchen Sie Mut und Kraft und, um durchzuhalten, Disziplin und Eigenmotivation.
Manche sind zu der Erkenntnis gekommen, dass es durchaus einiges gibt, an dem sie etwas verändern möchten oder sogar müssen, und stürmen voller Energie und Entschlossenheit los (bevor die Angst sie wieder lähmt?). Das kann jedoch Menschen in Ihrem Umfeld schnell überfordern. Erwarten Sie keine Freudenrufe, wenn Sie beginnen, sich und Ihr Leben zu verändern, denn Veränderung verunsichert oder macht Angst, macht misstrauisch („bist Du krank?“ oder„plötzlich übergeschnappt?“,„wird sowieso nicht lange anhalten“).

Das heißt, neben aller Veränderung brauchen wir auch einen gewissen festen Rahmen, um uns sicher zu fühlen und orientieren zu können. Verändern Sie die Dinge Schritt für Schritt und eines nach dem anderen.

Fritz Riemann, ein Psychoanalytiker, hat sich in seinem Werk „Grundformen der Angst“ intensiv mit der menschlichen Entwicklung, den verschiedenen Entwicklungsschritten und den damit verbundenen Ängsten auseinandergesetzt. Eine unserer Entwicklungsaufgaben besteht darin, sich auf Dauer einzulassen und in die Zukunft zu planen, z.B. im Beruf, in der Ehe, beim Hauskauf, so als ob die Welt stabil und die Zukunft vorhersehbar und planbar ist – und gleichzeitig jederzeit bereit zu sein, uns zu verändern, weiter zu entwickeln, Veränderungen und Entwicklungen zu bejahen.

Mit allen Entwicklungsprozessen sind Ängste verbunden. Wir möchten bleiben, möglichst immer gleich; sich vom einmal Erreichten zu lösen, bedeutet Abschied nehmen vom Vertrauten. Insofern bedeutet jede Psychotherapie auch Wandel und Veränderung, und sie macht daher vielen Menschen Angst, löst Widerstände aus. Neben vielen suchtmittelabhängigen Menschen kennen auch viele Angehörige von Süchtigen diese Angst. Sie bleiben in der Beziehung, beteuern ihre Hoffnung, dass sich der Suchtkranke vielleicht doch noch ändert und versäumen, sich selbst auf den Weg der Änderung zu machen, aus Angst, einen unvertrauten Weg mit all seinen Wagnissen zu beschreiten.
Die Sehnsucht nach Dauer ist eine sehr tief liegende, denn sie beschert uns Verlässlichkeit in der Welt und gibt uns Orientierung und Ordnung. Das erhöhte Sicherheitsbedürfnis geht einher mit einer erhöhten Angst vor dem Risiko – wie bei dem Mann, der erst ins Wasser gehen will, wenn er schwimmen kann.

Sich auf eine Psychotherapie einzulassen bedeutet jedoch immer ein gewisses Risiko mit ungewissem Ausgang, und genauso ist es mit der Abstinenz. Wer jahrelang getrunken hat, ein Leben ohne  Suchtmittel nicht mehr kennt, für den ist die Abstinenz ein Risiko, er muss lernen, das Leben ohne Suchtmittel auszuhalten und zu meistern; und er weiß eben nicht von Anfang an, wie es geht und ob es gelingen kann. Er muss das Schiff besteigen, die vertraute Küstenlinie hinter sich lassen, ohne genau zu wissen, wo er landet.
Das erfordert Mut!

Dazuzulernen, Neues zu probieren, sich verändern und neu orientieren kann auch durchaus etwas Lustvolles und Spannendes sein. Wir erfahren dadurch, dass wir fähig sind, uns an Neues anzupassen und uns weiter zu entwickeln. Unser Selbstvertrauen wächst, ebenso unser Kompetenzerleben. Indem wir Neues probieren, erfahren wir auch etwas über unsere Grenzen. Wir erfahren, dass wir noch dazulernen müssen, aber auch können! Und schließlich bekommen wir mit der Zeit einen Erfahrungsschatz, der uns bei zukünftigen Aufgaben zugutekommt und uns Sicherheit gibt, auch diese Situation zu meistern.

Betrachten wir die kindliche Entwicklung. Sie dauert lange und ist störanfällig. Wollen wir überleben, sind wir von der ersten Stunde unseres Lebens an gezwungen, uns anzupassen und uns auf neue Situationen einzustellen.

Grundvoraussetzung für ein gelingendes Leben ist Selbstvertrauen, eine Selbst-Verlässlichkeit, die aus früheren positiven Verlässlichkeitserfahrungen resultiert. Dazu brauchen wir die Erfahrung von Halt und Sicherheit gebenden Menschen, die unsere Bedürfnisse nach sozialem Kontakt, nach Achtung und Beachtung, nach Geborgenheit und Wärme zuverlässig befriedigen, die sich angemessen um uns kümmern, uns versorgen und umsorgen. Daraus entwickelt sich dann das sogenannte Urvertrauen, dass die Welt erlebt wird als etwas, wozu man Vertrauen haben kann oder, wenn dies nicht gelingt, ob sie als unzuverlässig, bedrohlich und versagend erlebt wird. Und wenn die Entwicklungsschritte einigermaßen zuverlässig gelingen, entwickelt sich das Vertrauen in mich selbst, dass ich aktiv Einfluss nehmen kann auf mein Schicksal, in der Lage bin, mich und meine Welt aktiv zu gestalten.

So wie Kinder die wohlwollende Unterstützung der Eltern oder wichtiger Bezugspersonen bei dem schwierigen Entwicklungsprozess, dem verunsichernden Übergang von einer Entwicklungsstufe in die andere benötigen, so benötigen auch Erwachsene Unterstützung und Ermutigung bei Veränderungsprozessen, insbesondere dann, wenn wir etwas aufgeben sollen, das uns bisher wichtig war und geholfen hat und wir (noch) nicht wissen (können), ob wir die Veränderung, das Loslassen durchhalten und schaffen können.

Der Veränderungsprozess

Man kann einen Veränderungsprozess in einzelne Abschnitte unterteilen bzw. einzelne Abschnitte unterscheiden.
Unsere erste Reaktion auf eine Veränderung ist Schock und Verwirrung. Fliehen oder kämpfen. Denken Sie daran, als Sie zum ersten Mal mit der „Diagnose“ Alkoholiker und der Aufforderung „Du musst was ändern“ konfrontiert wurden. Wann immer eine neue Situation auftaucht, müssen wir damit rechnen, dass uns unsere bisherigen Annahmen, Fähigkeiten oder Verhaltensweisen in dieser Situation nichts nützen. Das macht Angst. Dem Schock folgt die Verneinung der Realität: „das kann nicht sein“, „ich doch nicht“. In dieser zweiten Phase mobilisieren wir häufig zusätzliche Energie. Diese Energie ist aber ein Mehr von dem, das bereits in der Vergangenheit nicht funktioniert hat.

Darauf folgt eine Phase, die man mit rationaler Akzeptanz umschreiben könnte, ein „Ja … aber“ Denken. „Ich würde ja gerne auf hören, das habe ich auch schon probiert, aber ich schaff es nicht“. Oder: „Ja, ich trinke zu viel, doch ich kann jederzeit auf hören“. Wir sehen zwar die Notwendigkeit einer Veränderung ein, aber wir finden noch keine Lösung, die uns wirklich weiter bringt und wir wollen auch die möglicherweise notwendigen Konsequenzen nicht in Kauf nehmen.
Dann   kommt die wohl schmerzlichste, gleichzeitig aber auch die wichtigste Phase: die emotionale Akzeptanz und Annahme der Situation. An diesem Punkt erkennen wir, dass wir nicht weiterkommen wie bisher. Man nennt diese Phase auch „Tal der Tränen“, weil diese Erkenntnisse meist schmerzlich sind. Ja, es ist so und ich muss neu anfangen. Ohne diese Phase kann es keine wirklichen Veränderungen geben.
Nach diesem „Tal der Tränen“, also der emotionalen Erkenntnis, dass sich nun tatsächlich etwas verändern muss, werden wir frei für neue Lösungsansätze. Wir beginnen nun wirklich Neues auszuprobieren, gehen z. B. in eine Beratungsstelle, zu AA oder beginnen eine Suchtbehandlung. In dieser Phase fangen wir an, die Situation aktiv umzugestalten. Dabei geschehen immer auch Fehler. Diese Fehler helfen uns auf dem Weg, eine geeignete Strategie zu entwickeln. Wie wir z. B. als Abstinenter in unserem Umfeld dauerhaft abstinent leben können. Die einen werden missio- narisch, die anderen ziehen sich vollkommen zurück, bedauern sich oder schämen sich usw. Das Motto dieser Phase lautet: Versuch und Irrtum bringen mich weiter.

In Zeiten großer Veränderungen sollten wir uns „mildernde Umstände“ geben und behutsam mit uns umgehen. Wir sollten keine Perfektion erwarten oder von uns verlangen. Irgendwann finden wir eine Lösung oder eine für uns passende und hilfreiche Strategie, die uns weiterbringt. Unsere Eigenkompetenz, also die Fähigkeit mit einer Situation umzugehen, ist nun höher als zu Beginn des Veränderungsprozesses. Wir haben etwas gelernt. Wir haben eine neue Strategie entwickelt, um mit einer uns zuvor unbekannten Situation (Abstinenz) klar zu kommen. Wir übernehmen Verhaltensweisen, die sich als erfolgreich herausgestellt haben, in unser Handlungsrepertoire, welches sich dadurch kontinuierlich erweitert. Wir empfinden Zufriedenheit, da wir etwas geschafft haben. Wir haben unsere Kompetenz erweitert. Vielleicht ist das der Zustand, den man mit „zufriedene   Abstinenz“   umschreiben kann, jedoch ohne sich nun selbstzufrieden zurück zu lehnen.

Wir sind in eine Phase des neuen Gleichgewichts eingetreten.

Der gesamte Veränderungsprozess bekommt noch einmal eine andere Dynamik, wenn an seinem Ende ein klar definiertes Ziel oder eine attraktive Vision steht. Wenn wir wissen, wohin wir eigentlich wollen, dann halten wir Phasen von Misserfolgen oder „Abwegen“ besser aus als ohne Ziele und Visionen. Deshalb ist es immer mal wieder sinnvoll innezuhalten und sich zu fragen: Wie ist meine derzeitige Lebenssituation, wo befinde ich mich gerade persönlich und wie möchte ich in ein oder zwei Jahren leben? Welche nächsten Schritte sind nötig um weiter zu kommen?

Und besonders wichtig: Was bin ich bereit dafür zu tun?

Ich möchte nun zum Schluss noch auf einige hilfreiche Eigenschaften und Fähigkeiten für den Prozess der Veränderung hinweisen. Es sind dies in erster Linie die sogenannten Erfolgseigenschaften wie Mut, Selbstvertrauen, Optimismus, Flexibilität, visionäres   Denken …, die Einfluss haben auf unsere Bereitschaft, unser Leben eigenverantwortlich und aktiv zu gestalten. Anstatt Veränderungen aus der Opferrolle heraus zu erleben, können wir sie dann als Herausforderung und als Chance annehmen.

Einige der Fähigkeiten möchte ich gesondert herausstellen.

– Die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Gemeint ist damit das Vermögen, das eigene Handeln und die eigenen Einstellungen zu überdenken und auf ihre Nützlichkeit hin zu überprüfen. Das ist nicht immer leicht. Es bedeutet letztlich, innerlich einen Schritt beiseite machen zu können und sich selbst zu beobachten bzw. zu kommentieren.

– Die Fähigkeit, die eigene Inkompetenz zu erkennen. Das bedeutet, in der Lage zu sein, die eigenen Fehler zu erkennen, sie eingestehen und Abhilfe schaffen zu können. Aus Fehlern kann man lernen!

– Soziale   Kompetenz, das bedeutet die Fähigkeit zu einem konstruktiven Miteinander, denn die wenigsten Dinge kann man ganz allein für sich durchziehen. Bei den meisten Veränderungen geht es nicht um das Alleine, sondern um das Miteinander.

– Die Fähigkeit, uneindeutige oder sogar widersprüchliche Situationen ertragen zu können. Oft gibt es kein eindeutiges Richtig oder Falsch. Bei Veränderungen, bei denen es, wie ich weiter oben schon gesagt habe, um ein Probieren geht, erlebt man auch viel Unklarheit, und das muss man aushalten lernen, statt nur in schwarz-weiß und entweder-oder bzw. perfektionistischem Denken zu verharren.

– Loslassen können, das heißt auch mal Kontrolle abgeben können. Bei Veränderungsprozessen können wir nicht alle Details beeinflussen. Manches geschieht nicht so, wie man es will. Deshalb: loslassen, was nicht in Ihrer Macht steht und Gelassenheit, die Dinge auch mal laufen zu lassen. Dazu braucht man innere Zuversicht und Sicherheit und manchmal auch etwas Geduld.

– Gelassenheit beruht auf einer realistischen Einschätzung der Situation, der eigenen Person und der Wahrscheinlichkeit eines Misslingens, der Erfahrung, dass Erfolg und Misserfolg zum Alltag gehören und dass Misserfolge nicht den Weltuntergang bedeuten.

– Flexibilität meint innere Beweglichkeit, denn Veränderung bedeutet immer Bewegung. Deshalb gilt: Verbeißen Sie sich nicht in ein Problem und versteifen Sie sich nicht auf einen Lösungsweg. Manchmal gibt es eben Umwege und gelegentlich sogar Abkürzungen.

Und zu guter Letzt

Sie sollten Freude haben an dem, was Sie tun. Dafür sollten Sie wissen, was Sie wollen, die Dinge aktiv in die Hand nehmen und mit Herz und Seele dabei sein. Dann können Sie auch andere dazu bewegen, mitzuziehen und mit Hilfe oder Unterstützung bei und mit Ihnen zu sein.

 

Alfred Scheib

Psychologischer Psychotherapeut

 

 

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