Titelthema 4/18: Trockenbleiben mit Sport?

Ob Laufen, Schwimmen, Wandern & Co:

Kann Sport tatsächlich „trocken halten“?

„Ja, ja, ja!“, werden einige von Ihnen, liebe Leser/innen, sofort begeistert rufen. Andere haben vielleicht mit körperlicher Betätigung noch nie viel im Sinn gehabt, weshalb also jetzt? Und wiederum einige unter Ihnen wissen, dass etwas mehr Bewegung gut täte, können sich aber selten überwinden. Und manchen hält vielleicht auch eine Krankheit davon ab.

Was auch immer Sie jetzt gerade über Sport denken – wir wollen versuchen, die obige Frage zu beantworten. Dazu gibt es so einige Theorien, Erfahrungen und Studien, sogar Hamster spielen eine Rolle …

„Kurze Pause, alle Paddel raus!“, tönt es vom Trainer hinten am Steuerruder.

Drachenboottraining in Berlin-Grünau. Der Klärwerk e.V. bereitet sich auf den Cup des Anti-Drogen-Vereins vor. Wir 12 Paddler keuchen bereits, nach 1000 nassen Metern über die Dahme. Schweiß mischt sich mit Flusswasser. Sonne glitzert auf den Wellen. Pause also. Atem schöpfen.

Wortfetzchen von hinten landen an meinem Ohr: „ … meine Bandscheiben … morgen Physiotherapie … ja, mein Knie auch …“ Hut ab, dass jemand trotz Beschwerden mittrainiert. Ich drehe mich mitfühlend um. Sofort kommt mir die Frage entgegen: „Und was hast Du so für Krankheiten?“

Oh. Ähm … ja stimmt. Arthrose in den Knie-und Ellenbogengelenken, kann ich also mitreden, aber dass ich davon nur noch wenig merke, seitdem ich regelmäßig Sport treibe.

Ich weiß auch, dass weiter vorn im Boot jemand sitzt, der chronische Kniebeschwerden hat. Eine Frau mit einer Halswirbelverschraubung auch. Aber jeder paddelt mit, so gut er eben kann. Weshalb?

Die Glücksgefühle, ja regelrechten Hochgefühle, die unser Auspowern mit sich bringt – noch verstärkt durch das Gemeinschaftsgefühl in einem Boot – , sind stärker und wichtiger als alle Zipperleins. Wir fühlen uns so lebendig auf dem Wasser und nach dem Training! Suchtdruck und Sehnsucht nach Bier? Keine Chance. Dafür eine Chance, alte Trinkmuster zu überschreiben, denn wir erleben: Ja, es geht, ohne Alk glücklich zu sein! „Mir geht’s jetzt so gut!“, „War das geil!“, Ich freu mich schon so aufs nächste Mal!“

Wenn wir ehrlich sind, haben doch die meisten von uns in ihrer Trinkzeit, in der nichts wichtiger war als der Alk, auch den Körper vernachlässigt. Arme, Beine, Muskeln, Sehnen, Knochen? Egal. Mir selbst ja auch. Vor meiner Entwöhnung vor fünf Jahren habe ich minutenlang gebraucht, um von der Bettkante aufstehen zu können, Arthritisknie, Gicht, Rücken. Mit erst 50! Aber das war mir damals egal. Hauptsache, ich schaffe es bis zum einzig wichtigen Regal im Supermarkt, irgendwie.

Sport? Na, wie denn …

Eben deshalb vielleicht ist es so schwer, unseren Körper wieder wahrnehmen zu müssen, ohne Betäubungsmittel und Fluchthelfer Alkohol. Mit allen Zipperleins. Er hat ja schwer gelitten.

Aber er ist nun mal unser Zuhause. Wollen wir uns Zuhause wohlfühlen? Wir könnten es wieder erlernen. Sich irgendwann wieder wohlzufühlen im eigenen Körper kann nämlich ebenso das Rückfallrisiko senken wie der Glückshormonausstoß beim körperlichen Betätigen:

Was Hamster uns beweisen

Sport kann in der Suchttherapie als eine Art natürliche und gesunde „Ersatzdroge“ wirken. US-Wissenschaftler J. David Glass belegte das in seiner Studie (2010). Er untersuchte das Verhalten von Hamstern, die sich – freiwillig – in einem sogenannten Hamsterrad bewegen konnten und Zugang zu Wasser mit Alkohol hatten, ohne dass sie gezwungen wurden, dieses zu trinken. Je mehr die Hamster liefen, desto geringer war ihr Alkoholkonsum. Die „fauleren“ Hamster hatten ein größeres Verlangen nach Alkohol und tranken mehr. „Das zeigt, dass körperliche Betätigung eine effektive, nützliche und nicht-medikamentöse Behandlungsmethode für Alkoholismus sein könnte”, schlussfolgerte Glass.

„Alkoholkonsum und freiwillige körperliche Betätigung scheinen zwei Verhaltensweisen zu sein, die von Natur aus belohnend sind”, sagt Alan M. Rosenwasser, Professor für Psychologie an der US-University of Maine. „Die belohnenden Effekte dieser beiden Verhaltensweisen könnten teilweise austauschbar sein. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass die beiden Verhaltensweisen von überlappenden Systemen im Gehirn reguliert werden.”

Ein chinesisches Forschungsteam hat einmal alle verfügbaren Einzelstudien zu diesem Thema zusammenfassend analysiert. Das Ergebnis: Entzugsbehandlungen, die körperliche Aktivität beinhalten, erzielten höhere Abstinenzquoten und reduzierten die Entzugssymptomatik stärker als Behandlungen ohne körperliche Aktivität. Neben typischen Ausdauersportarten wurden auch fernöstliche „Mind & Body“-Aktivitäten wie Tai-Chi, Yoga oder Qigong untersucht. Sie verbessern die Abstinenzrate ähnlich wie klassischer Ausdauersport.

Und noch eine Studie: Dass Alkoholismus nicht nur die Leber, sondern auch Teile des Gehirns –besonders Nervenfasern –schädigen kann, ist bekannt. Sind auch diese neuronalen Schädigungen zumindest teilweise reparabel?, wollten US-Forscher wissen. Eine experimentelle Studie mit 60 Probanden ergab: Ja. Regelmäßige sportliche Betätigung kann solche Beeinträchtigungen verhindern oder gar reparieren (Alcoholism: Clinical & Experimental Research).

Kein Wunder also, dass Sport zu den Reha-Therapiestandards der Deutschen Rentenversicherung in den Entwöhnungskliniken gehört: Als Bewegungstherapie, Physiotherapie, Individualsport, Mannschaftssport.

Sport als Rückfallprophylaxe?

 Vielleicht erinnern Sie sich noch an Ihre ersten Bewegungsversuche in der Entwöhnungsklinik? Mit Spaß hatte das meist noch nichts zu tun, oder? Und dann dieser erste Muskelkater. Und dann doch wieder zum Kreistraining müssen, zum Schwimmen oder Ballspielen …

Wie neuropsychologische Untersuchungen an Alkoholkranken ergaben, ist die Gang-und Standbalance auch vier Wochen nach dem Entzug noch beeinträchtigt! Umso wichtiger, diese Anstrengungen durchzuhalten. Außerdem gibt dies am Ende auch Selbstvertrauen: Ich kann das ja doch! Ich kann mich wirklich durchkämpfen! Ich kann meinen inneren Schweinehund überwinden und etwas schaffen!

Dieserart erlebte Erfahrungen sind für den Einzelnen dann – ob bewusst oder unbewusst – auch übertragbar auf andere Lebensbereiche. Schwierigkeiten und emotionale Krisen können anders bewältigt werden.

Hinzu kommt, dass die gestörte Endorphin-Produktion nach einem Entzug durch körperliche Betätigung wieder angekurbelt wird. Nach den ersten vielleicht noch freudlosen Übungsstrecken setzt irgendwann wirklich Wohlgefühl ein beim Training. Es kann Freude bereiten, glücklich machen. Wer glücklich sein kann ohne Alk – ist weniger rückfallgefährdet …

Rolf Schneider formuliert es so in seiner Suchtfibel (14. Aufl., S. 339): „Sport in der Therapie dient also keineswegs der ,Beschäftigung‘, ,Ablenkung‘ oder Unterhaltung der Rehabilitanden und auch nicht nur der körperlichen Ertüchtigung, um fit für das Erwerbsleben und die Alltagsbewältigung zu sein, sondern ist ein spezielles Modul der Suchtbehandlung, das rückfallpräventiv darauf abzielt, das eigene Befinden und die Stimmungslage ohne psychotrope Substanzen befriedigend steuern zu können. Wenn das gelingt, ist ein großer Schritt von der Abhängigkeit zur Selbststeuerung getan.“

Sport als neues Freizeit-Hobby

Was fange ich nun, nach der Therapie, in meiner Freizeit an? Wenn die alten Kumpels im Biergarten sitzen oder Partys feiern?

Der Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik Berlin, Dr. Darius Tabatabai, erklärt auf der Webseite der Klinik, dass es den meisten Menschen mit einer Abhängigkeitserkrankung schwer falle, sich ein Leben ohne Alkohol oder andere Suchtstoffe vorzustellen: „Zu Genesung und Aufbau einer stabilen seelischen Gesundheit muss die Gestaltung von Freizeit oftmals wieder erlernt werden. Dabei ist ein sportliches Miteinander ein gutes Training, seinen Teamgeist wieder zu entdecken und körperlich fit zu werden für den Alltag. Wir bieten während der Therapie an, verschiedene Formen der Freizeitgestaltung auszuprobieren.“ Neben Volleyball werden zum Beispiel auch Fußball und Schwimmen angeboten. Mit der Möglichkeit, auch nach der Therapie weiter daran teilzunehmen.

Das ist auch so eine zentrale Frage: Wo kann ich denn überhaupt in einem trockenen Umfeld Sport treiben?

Natürlich kann jeder alleine für sich joggen gehen, daheim auf dem Ergometer trainieren oder seine Bahnen in der Schwimmhalle ziehen. Aber wer Spaß im Team sucht, braucht ja denn auch tatsächlich eins.

Ein tolles Beispiel ist der Drogenliga e.V. in Berlin. Eine Suchtselbsthilfegemeinschaft, die 1980 von Betroffenen für Betroffene gegründet wurde. Fußball und Volleyball werden gemeinsam trainiert.

Ein anderes Beispiel in Bochum: Innerhalb des neuen Projektes „Sucht-Selbsthilfe geht neue Wege“ des Blauen Kreuzes in Deutschland gibt es das Sportcafé „Ziemlich gute Freunde“ Hier treffen sich Suchtkranke, Angehörige und Freunde, um gemeinsam Sport zu treiben. Ob Hallenfußball, Badminton und Tischtennis, es gilt für alle: Kein Alkohol, keine Drogen! Man kommt miteinander ins Gespräch, lernt andere Menschen kennen. Ein Teilnehmer berichtet: „Vor einem Jahr habe ich aufgehört, Alkohol zu trinken. Sich freitags mit anderen auszupowern und den Stress der Woche hinter sich zu lassen, tut richtig gut. Und das ohne Alkohol!“

Ein weiteres Beispiel ist der Elefanten-Cup in Berlin, den der Anti-Drogen-Verein e.V. jährlich organisiert (s.S. X). 30 Mannschaften aus verschiedenen Suchtvereinen und Suchthilfeeinrichtungen genießen dieses Drachenboot-Event jedes Jahr alkohol-und drogenfrei – und trainieren oft schon Wochen vorher dafür gemeinsam.

Vielleicht gibt es ja auch in Ihrer Region ähnliche Angebote? Auf der Suche danach können Ihnen die jeweiligen Landesstellen für Suchtfragen und die regionalen Selbsthilfe-Kontaktstellen weiterhelfen.

Eine Alternative könnte auch sein, dass Sie den Treff Ihrer Selbsthilfegruppe nach draußen verlegen und gemeinsam um den nächsten See wandern. Oder Sie gründen selbst eine Gruppe für „Trocken-Sport“?

 

Übrigens: „Vom Alk zum Hulk“. In der nächsten Ausgabe möchten wir unser Thema gerne fortsetzen. Wir planen ein Interview mit dem Rapper-Star Silla, der in seinem Buch mit anfangs genanntem Titel seine persönlichen Erfahrungen beschreibt.

Anja Wilhelm

 

Adressen:

www.drogenliga.de

www.anti-drogen-verein.de

www.facebook.com/ziemlichgutefreunde

 

 

Titelthema 3/18: Die Tücken der Sucht

Neue Serie:

Die Tücken der Sucht

Von Winfried Lintzen

Suchttherapeut der PBAM Berlin-Schöneberg

Viele Abhängige finden den Weg zur Abstinenz, bevor viel im Leben zu Bruch geht, nur wenige bringt die Sucht ins Heim oder ins Grab. Doch jeder Rückfall kann für das Gelingen des Lebens gefährlich werden. Je weniger Rückfälle, desto besser. Deshalb lohnt es sich, die Tücken der Sucht zu kennen.

(1) Sucht ist ein bösartiges Gewächs im Kopf

Hirn wächst: Die Zellen vernetzen sich und das Netz wird umso stärker, je öfter sich etwas wiederholt und je heftiger es mit Gefühlen einhergeht.

Wird über lange Zeit regelmäßig ein Suchtmittel konsumiert, entsteht ein Nervenzellnetzwerk, in dem alles gespeichert ist, was mit dem Konsum zu tun hat: wieviel und wie oft konsumiert wurde; wie der Konsum wirkt und was man damit anfangen kann; wie man vor sich selbst das nötige Lügen und Verheimlichen rechtfertigt usw. – Sobald es durch einen Auslösereiz aktiviert wird, sorgt das Verhalten komplett für sich selbst, es findet den Weg zu seinem Ziel buchstäblich „wie im Schlaf“, sogar dann, wenn die Betroffenen es gar nicht mehr wollen. Es ist wie das Gängeschalten im Auto, das ebenso „instinktiv“ und nebenbei abläuft und keine bewusste Steuerung mehr braucht.

Je stärker das Suchtnetzwerk ist, desto öfter setzt es sich gegen alles durch, was im Leben wichtig ist. Langsam aber sicher wird das ganze Leben der Sucht untergeordnet, gnadenlos: die Interessen, der Beruf, die Familie, die Gesundheit, das Leben. – Stoppen kann diesen Prozess nur die Abstinenz.

(2) Sucht stellt sich tot

Nervenzellnetzwerke werden nicht abgebaut, selbst wenn sie jahrelang nicht mehr aktiviert werden. Bekannt ist dieser Effekt vom Radfahren, auch das kann man nicht mehr verlernen. – Abhängige, die die Abstinenz beenden, müssen damit rechnen, dass ihnen früher oder später der Konsum wieder entgleist.

Bei manchen stellt sich bereits nach kurzer Zeit das alte Konsumverhalten wieder her. Andere jubeln, wenn sie es schaffen, mehrmals zu konsumieren, ohne das frühere Verlangen zu spüren. Das ermutigt sie, wieder öfter zu konsumieren. Manchmal muss es dann erst zur Katastrophe kommen, bevor sie zur Abstinenz zurückkehren: Jemand hatte nach einem Jahr Abstinenz mehrmals bloß ein Bier getrunken, ohne weiteres Verlangen. Doch dann waren es plötzlich einmal vier, und er kam auf die Idee, mit dem Wagen noch schnell was zu erledigen. Auf dem Rückweg rammte er mehrere parkende Autos. Mit dem Führerschein musste er auch seinen Garten abgeben, seine größte Quelle von Erholung und Freude, denn der Garten lag an einem idyllischen kleinen See, weit ab von Bussen und Bahnen, er konnte ihn nur mit dem Auto erreichen. Dabei hatte er noch Glück gehabt, keinen Radfahrer erwischt zu haben …

Manchmal stellt sich auch ein völlig anderes problematisches Konsummuster ein: Manche Abhängige, die überwiegend täglich konsumiert haben, entwickeln einen episodischen Konsum (bekannt als „Quartalstrinken“): Sie konsumieren dann zwar nur alle paar Wochen mehrere Tage, dafür aber exzessiv. Die Betroffenen halten das für einen Fortschritt – aber ihr Gehirn nicht, ihre Angehörigen auch nicht, oft auch nicht ihr Arbeitgeber und manchmal nicht mal die Polizei …

Generell gilt: Die Sucht hat den längeren Atem. Angenommen, jemand entscheidet sich mit 35 für die Abstinenz, lebt 15 Jahre rückfallfrei, beginnt mit 50 wieder mit dem Konsum und schafft es tatsächlich, zwei Jahre so zu konsumieren, dass nichts zu Bruch geht. Dann sagen alle: „Der kann wieder kontrolliert trinken!“ – Gut, aber wie lange? Er ist erst 52! – Die Sucht grinst. – Was ist, wenn er mit 54 wegen Alkohols am Steuer seinen Führerschein verliert, an dem der Arbeitsplatz hängt? Mit 54 arbeitslos – na Klasse! – Und wie sieht es dann mit der Motivation zur Abstinenz aus, wenn es eh egal ist, ob er trinkt oder nicht? – Abgesehen davon: Was heißt es schon, wenn über zwei Jahre „nichts zu Bruch geht“? Auch ohne dass die Ehefrau oder der Arbeitgeber sich trennen, kann man sich auf Dauer um Kopf und Kragen konsumieren. Mit 60 einen Schlaganfall zu haben ist auch nicht so toll … – Sucht ist tückisch. Sucht hat Zeit. Sucht grinst …

Die Sucht ist ein Monster, das mit jeder Futtergabe wächst, und es kann selbst nach Jahren des Aushungerns seine alte Stärke wieder herstellen, sobald es wieder Futter kriegt – denn es hungert nicht, es schläft einfach ein, wenn es nicht mehr gefüttert wird, es kann nicht auszehren und nicht schrumpfen …

(3) Sucht drängt sich vor

Unser Gehirn belohnt gutes Verhalten mit guten Gefühlen: ein sinnvolles Werk verrichten, etwas Gutes essen, mit netten Menschen zusammen sein, tanzen, lieben, Erfolg haben, Musik hören usw. Unser Gehirn „macht“ die guten Gefühle: Gefühle sind neuronale Stoffwechselzustände, also Biochemie. Und das birgt die Möglichkeit, der Chemie etwas nachzuhelfen und die gewünschten „Stoffwechselzustände“ durch Zufuhr einer chemischen Substanz herzustellen, statt durch das Tun des Richtigen. Nutzen wir diese Eselsbrücke lange genug, ziehen wir sie irgendwann allen anderen Wegen zum Glück vor, der Suchtmittelkonsum nimmt dann selbst den attraktivsten Aktivitäten „den Wind aus den Segeln“: Jemand malt in seiner Freizeit und hat viele tolle Ideen, die er unbedingt realisieren will. Aber immer, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, sagte er sich: „Ach, erstmal einen Wein!“ – Auf Dauer spürt er immer seltener die Energie, die er fürs Malen braucht. Er findet das zwar nicht toll, aber zunächst auch nicht besonders schlimm, denn er sagt sich: „Die Bilder laufen schon nicht weg!“ Nur fällt ihm irgendwann auf, dass er regelmäßig den Wein demjenigen vorzieht, was ihm wirklich am Herzen liegt. Er wundert sich und denkt: „Das kann doch nicht sein!“ Er geht ein paar Mal bewusster mit dem Alkohol um. Aber nach ein paar Wochen muss er feststellen: Tatsächlich, egal, wie wichtig und faszinierend das Malen für ihn ist: den Suff zieht er vor!

Sucht ist ein autonomer Wille, der sich völlig ablösen kann von dem, was ein Mensch eigentlich will, wertvoll findet und anstrebt. Die Sucht behält ihre Macht selbst dann, wenn der Betroffene das, womit sie ihn belohnt, gar nicht mehr mag. Viele Abhängige sagen nach einem Rückfall: „Ich weiß doch, dass es nicht mehr so toll wird wie früher – verflixt nochmal, wie war das möglich, dass ich es trotzdem wieder gemacht und dabei so viel riskiert habe?“

(4) Sucht unterläuft Einsicht und Vorsatz

Die Fähigkeit, uns auf eine Sache zu konzentrieren, besteht darin, alles zu blockieren, was die Konzentration stört. Wenn wir bei der Flucht vor dem Tiger an den Ärger mit dem Chef denken würden, hätte der Tiger es leicht. Es ist immer nur ein Nervenzellnetzwerk voll aktiv, und es wird aktiviert, indem es die anderen Nervenzellnetzwerke runterfährt. Diesen Effekt der „reziproken Hemmung“ kennt jeder: Manchmal ist ein Film oder ein Fußballspiel so spannend, dass man gar nicht mehr merkt, wie stark eigentlich die Blase drückt.

Je attraktiver eine Vorstellung ist, desto heftiger hemmt sie alle anderen Vorstellungen, wir denken  immer stärker nur noch an sie. Und je stärker wir an sie denken, desto weniger fragen wir uns, ob wir wirklich so stark an sie denken wollen. Doch selbst, wenn wir uns das fragen würden, hätten wir keine Lust, uns die Frage zu beantworten und es fiele uns schwer, uns überhaupt darauf zu konzentrieren.

Das Tückische des Prinzips der reziproken Hemmung besteht darin, dass sie auch das Bewusstsein hemmt, dass gerade etwas gehemmt worden ist, wir kriegen das nicht mit, im Bewusstseinsstrom erleben wir keinen Bruch. – Wird das Verlangen geweckt, blockiert es den Kontakt zur Lebenserfahrung, zur Einsicht, zu Vorsätzen und Vorhaben. Die Betroffenen denken nicht mehr an die Gründe für die Abstinenz, und wenn, dann ist es so anstrengend wie mit dem Rad steil bergauf zu fahren, während alle anderen Wege bergab gehen. Es blitzen automatisch Gedanken auf, die die Abstinenz in Zweifel ziehen: ob man die Abstinenz denn wirklich so konsequent durchhalten muss – ob man nicht mal eine kleine Ausnahme machen kann – dass es doch gehen müsste, wenn man sich ganz stark vornimmt, nur wenig zu konsumieren – gegen so ein bisschen kann doch keiner was haben … – Das Aufblitzen genügt, um die Erlaubnis zu erteilen, die Weiche in Richtung Konsum zu stellen und Einsicht und Vorsatz zu hemmen, es ist aber gleichzeitig so kurz, dass die Einsicht kaum eine Chance hat, dazu Stellung zu nehmen, bevor sie gehemmt wird. So schafft es die Sucht, den Willen zu unterlaufen. – Die Betroffenen stehen hinterher verwundert da und berichten, die Argumente für das Durchhalten der Abstinenz seien wie weggewesen, wie bei einem Black-out.

Abstinenzfähigkeit erfordert, zu trainieren, die unwillkürlichen Zweifel an der Abstinenz bewusster wahrzunehmen und darauf mit einem „Stopp, was mach ich hier gerade!“ zu reagieren.

Selbst Menschen, die seit Jahren abstinent leben, die die Tricks der Sucht kennen, die ihren Frieden mit dem Abschied vom Suchtmittel gefunden und eine attraktive Vision entwickelt haben für die Nutzung der durch die Abstinenz entbundenen Potentiale – selbst die können noch von der Sucht ausgetrickst werden. Aufgrund ihrer Erfahrung und Willensbildung müssten sie eigentlich Eins und Eins zusammenzählen: „Wie komme ich darauf, dass ich jetzt schaffen könnte, was ich trotz so vieler Versuche nie mehr geschafft habe? – Und wozu überhaupt so ein Risiko eingehen?“ – Wir Menschen können uns an solchen Fragen vorbeistehlen. Wie ist das möglich? Kann man sich einfach sagen: „Ich weiß zwar, dass es Irrsinn wäre, aber das interessiert mich jetzt nicht“? Nein, das kann man nicht, jedenfalls nicht so einfach. Sich an der eigenen Lebenserfahrung vorbeizustehlen geht etwa so: „Wenn du so ein gutes Gefühl hast, es schaffen zu können, dann zermartere dir doch nicht das Hirn mit deinem Scheiß-Wissen! Folg doch einfach mal deinem Gefühl! Außerdem: Du hast dich in der Zeit der Abstinenz doch bestimmt weiterentwickelt, vielleicht kannst du es dadurch wieder besser kontrollieren!“ – Das Verlangen nach Alkohol führt zu dem Gefühl, es diesmal schaffen zu können, so zu trinken, dass nichts zu Bruch geht. Dieses Gefühl führt dazu, die Abstinenzbeendigung als „mutig“ zu bewerten und jeden Einspruch als altkluge Bedenkenträgerei. Und für „Rückendeckung“ sorgt die Spekulation, dass die Weiterentwicklung in der Abstinenz vielleicht die Kontrollfähigkeit verbessert habe. – So verschafft Sucht eine Erlaubnis, die Erlaubnis zur Abstinenzbeendigung nicht in Frage zu stellen …

Auf „Vielleichts“ fallen nicht nur Süchtige rein, „Vielleichts“ haben in der Weltgeschichte viel verdorben, unsere Bestechlichkeit durch das „Vielleicht“, durch die spontanen Gewissheitserlebnisse bei der Entdeckung von Erklärungsmöglichkeiten, wird von der Sucht bloß ausgenutzt. – Alle Menschen sollten sich beizeiten angewöhnen, ihre „Vielleichts“ zu identifizieren und kein „vielleicht“ stehenzulassen ohne ein: „Und was, wenn nicht?“

Doch was ist nun mit dem Gefühl, es unter den besonderen, in dieser Situation gerade gegebenen Bedingungen schaffen zu können, so zu konsumieren, dass kein Schaden entsteht? Kann man dem denn gar nicht mehr trauen? – Nein, dem kann man nicht mehr trauen. In diesem Gefühl nutzt das Prinzip „Der Wunsch ist der Vater des Gedankens“ (Punkt 6) die irreführenden Alltagsintuitionen aus, die die Komplexität unseres Gehirns verkennen.

Die Fortsetzung folgt in der nächsten Ausgabe der TrokkenPresse mit:

(5) Sucht trickst unsere Intuition aus

 

Titelthema 2/18: Abstinenz und Sinnfindung

Viktor Frankl und die Wirkung seiner „Sinnfindung“ auf Suchtkranke: Teil 2

Welche Fragen stellt das Leben an mich?

 Von Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel

 Ich hatte mich gerade am Schreibtisch niedergesetzt, um zu arbeiten, als mich ein Anruf erreichte: Hermann F., den ich länger als zwölf Jahre kannte, war am frühen Morgen tot in seinem Bett gefunden worden. Seine Frau teilte mir mit, F. sei auf der Seite liegend eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht, eher entspannt, mit einem feinen Lächeln im Gesicht.

Ich hatte Herrn F. in der Klinik in B. kennengelernt, in der ich damals mit alkohol- und drogenabhängigen Menschen arbeitete, und unsere Beziehung dauerte so lange, weil Herr F. polytoxikoman war, in erster Linie von Alkohol und Opiaten abhängig, und sich immer wieder meldete. Oft haben wir uns in der Hoffnung verabschiedet, er werde in absehbarer Zeit dauerhaft abstinent bleiben. Die Summe seiner Rückfälle war bei seinem Ableben nicht mehr zu zählen.

Der freundliche, jungenhafte Mann wurde beinahe ein Freund von mir, ich mochte ihn und er mich wohl auch. Zu einer engeren Freundschaft kam es in den folgenden Jahren nicht, denn in regelmäßigen Abständen erhielt ich Arztbriefe von stationären Aufenthalten und Bitten des Patienten um einen erneuten Termin bei mir. Jedem Gesprächsversuch, die Schwierigkeiten der Abstinenz und des Arbeitslebens in den Fokus zu nehmen, wich der Patient jedoch aus.

Nach der Verabschiedung folgte regelmäßig eine längere Pause, aus der ich entnehmen musste, dass F. ein gutes Geld verdiente, mit einer Lebensgefährtin gut zurecht kam, von Zeit zu Zeit in eine Selbsthilfegruppe ging und eine neue Wohnung fand. Viele Jahre später, die ähnlich aussahen, arbeitete F. im englischsprachigen Raum und absolvierte aufgrund eines Rückfalles eine Therapie in Minnesota.

Danach tauchte er wieder bei mir auf, alles begann von vorn und ich verpulverte meine therapeutischen Möglichkeiten. Meine Freundlichkeit und meine Geduld nahmen ab und in der folgenden Zeit wartete ich geduldig auf den nächsten Rückfall. Aber meine Geduld wurde deutlich geringer und mein Interesse an dem Patienten auf eine merkwürdige Art auch. So, als ob wir beide im Nebel stünden.

Als Herr F. mir eines Tages bei einem Anruf mit schleppenden Worten mitteilte, er bekäme jetzt eine Berufsunfähigkeitsrente und wolle sich ein kleines Häuschen am Rhein bauen, wurde mir plötzlich übel vor Wut, und ich legte mit einem knappen Satz den Hörer auf, ohne Herrn F. eine deutliche Antwort auf seine Pläne zu geben. Was ich hätte sagen wollen, war: „Ich bin ihre dauernden Lügen so leid, ich kann nicht mehr, hören Sie auf damit, wenn Sie nicht sterben wollen, Sie sind ja eh schon halb tot. Ihr ganzes Leben besteht nur noch aus Lügen.“ Aber ich konnte das alles nicht aussprechen.

Wenn ich mir meine Akten vornahm und spazieren ging, dachte ich oft an meinen  Patienten und fiel es mir nicht schwer, mir die körperlichen und seelischen Veränderungen des Herrn F. vorzustellen, und ebenso das Bemühen der Psychologen und Ärzte, diesen grausamen Zustand zu bessern und zu verhindern.

Wenn ich aber auf mich schaute, musste ich zugeben, dass meine Genesung in den ersten fünf Jahren nur sehr langsam vorangegangen war und ich große Schwierigkeiten hatte, ehrlich zu mir selbst zu sein.

Sucht als Lebenslüge?

Ich habe mir oft über den Begriff „Lebenslüge“ im Verlauf meiner Sucht und der anderer Menschen Gedanken gemacht: Mein Sponsor Peter war es, kurz nach dem Beginn meiner Abstinenz, der mich auf die „Sucht als Lebenslüge“ hingewiesen hatte. Und ich war mir klar darüber, dass sich die chronische Gehirnvergiftung, die sich z.B. Alkoholiker im Laufe der Zeit zuziehen, beim weiteren Trinken und z.B. bei gleichzeitigem Kiffen und der Einnahme von Opiaten sogar noch verschlimmert. Im Grunde konnte man, wie in der Geologie, von einer Erosion des Hirngewebes sprechen – das bezieht sich im Übrigen auch z.B. auf die Muskulatur – , bei der wie in der Landwirtschaft bei chronischen Unwettern ganze Landschaften eines fruchtbaren Ackerbodens bis zur Unfruchtbarkeit erodiert werden und nichts mehr taugen.

Die wenigsten Süchtigen haben den Mut, sich im Laufe der Zeit einzugestehen, dass dieser Erosionsprozess unser ganzes Leben bereits verändert hat, besonders, wenn sich unsere Gefühle verändern und auch – wenn man großes Pech hat – eine Liebe dabei zu Grunde geht.

Erst als ich an jenem Nachmittag das Buch von Viktor Frankl, seine Lebensgeschichte und seine therapeutischen Gedanken teilweise begreifen konnte, löste sich ein großer Druck in meinem abstinenten Leben.

Viktor Frankl schreibt zu Recht, dass die Seele und der Geist des Menschen im Leben stets nach einem Sinn suchen, um ein zufriedenes Leben führen zu können.

Je älter und erwachsener wir abstinent werden, desto mehr spüren wir dieses Gefühl der Sinn-Sehnsucht, und nicht selten, beim Hören von Nachrichten oder Lesen in einer Zeitung, spüren wir schmerzhaft die Sinnlosigkeit innerhalb der Gesellschaften, die uns umgeben.

Aufgeladen mit unterschiedlichen Drogen oder auch abstinent voll mit theoretischem Gefasel und stolz auf die cleanen Tage, diskutieren wir mit Freunden und wandern nach Hause, fallen in irgendein Bett und schauen wach vor dem Einschlafen in die Dunkelheit, spürend, dass irgendetwas nicht stimmt.

Ich selbst, aber auch mein Patient, waren an diesem Nachmittag am Telefon genau an diesem Punkt angekommen. Wir lebten nämlich nicht zufrieden – weder mit noch ohne unsere Drogen und begriffen nicht, dass wir unsere persönliche Wahrheit, abstinent oder rückfällig, verloren und noch nicht wiedergefunden haben.

Und weitergehend in Sinnlosigkeit lebten. Und dieser zu entrinnen, ist alleine nicht zu schaffen. Dieser Zustand wird von nicht wenigen Erwachsenen „Lebenslüge“ genannt.

Edith Stein, die Karmelitin, welche im KZ Birkenau hingerichtet wurde, hat es auf den Punkt gebracht: „Wer die Wahrheit sucht, sucht Gott, ob er es glaubt oder nicht.“

Dieser Satz machte mir klar, dass Fortschritte in meiner Entwicklung eine langfristige, ehrliche Arbeit in der Abstinenz an der persönlichen Sinnfindung bedeuten würden.

Mitten in meiner Trockenheit begann ich, mich um Viktor Frankl und die Sinnfindung zu kümmern, und das dauert mittlerweile schon einige Jahre und ergänzt meine Gruppenbesuche vortrefflich.

Homo sapiens bedeutet „einsichtsfähiger Mensch“, das heißt: Wir Menschen können uns

Gedanken machen über uns selbst, wir sind kritikfähig und entwicklungsfähig. Und wie bei jedem Kranken schädigt die Sucht uns unterschiedlich und ganz persönlich (individuell s.u.).

Aber auch, wenn wir von unterschiedlichen „Bereichen“ oder „Teilen“ des Menschen sprechen (von dem körperlichen, dem seelischen, dem geistigen und dem spirituellen Bereich), steht dennoch fest: Der Mensch ist und bleibt immer eine persönliche Ganzheit, ein unverwechselbares Individuum, ein Unteilbares. Jeder Mensch lebt und reagiert also auch auf eine Sucht/Abhängigkeit persönlich (wie z.B. auch auf eine Blinddarmentzündung). Dieser ganze Mensch, dieses menschliche, individuelle Ganze ist aber insofern besonders, als es nicht völlig abgegrenzt ist, sondern immer noch in einer Beziehung steht zu einem anderen, zu anderen, gleichen Wesen seiner Art, und wohl solange er auf der Erde ist.

Das gilt wohl für die gesamte Natur: Ein Atom ist ein Ganzes, aber auch ein Teil von einem Ganzen, einem Molekül. Viele Moleküle sind ein Teil einer ganzen Zelle und viele Zellen sind ein Teil eines ganzen Organismus. Nichts ist ausschließlich ein Teil oder ausschließlich ein Ganzes.

Das bedeutet: Wir Menschen sind zwar unverwechselbare Individuen, wir unterscheiden uns aber von anderen Menschen durch die Eigentümlichkeit unseres Wesens (Identität). Wir sind keine abgegrenzten Einzelwesen, sondern miteinander verbunden und wir brauchen diese Beziehungen, um uns gesund zu entwickeln und gesund zu bleiben. Denken Sie nur an die im Verhältnis zu anderen Wesen auf dieser Erde sehr lange dauernde Kindheit von 18-25 (!) Jahren.

Sehnsucht nach Lebenssinn?

Die oben genannte Sehnsucht nach Lebenssinn reicht interessanterweise über meine persönliche Welt hinaus: Wenn wir über Liebe, Krankheit, Geburt und Tod nachdenken und nachfühlen, wenn wir träumen, wenn wir lieben und wenn wir an eine höhere Macht glauben (Gibt es nicht Erlebnisse und Erfahrungen, nach denen wir spüren: „Dieses Erlebnis war göttlich!“?).

Das Transzendente überschreitet die Grenzen der Erfahrung und einer sinnlich erkennbaren Welt, es ist „übersinnlich und übernatürlich“.

Der Mensch muss um diese drei Seiten seiner Art wissen:

  1. Seine Einzigartigkeit,
  2. die Beziehungen zu anderen und
  3. seine Sehnsucht nach einem Bereich, der über seine Welt hinausgeht.

Ein Ersatz kann keine echte, persönliche Transzendenz nachbilden. Sinnlosigkeit fördert Süchtigkeit, Kriege, Auseinandersetzungen, Lug und Trug. Wenn man sich mit dem Buch „Mein Kampf“ von A. Hitler beschäftigt, wird sofort klar, dass diese ganze Schrift ein einziger (miserabler) Ersatz ist, also untauglich, Sinn zu ersetzen. Die Folge: „Adolf Hitler, mein Kampf, meine Lebenslüge.“

Wenn viele Menschen in bestimmten Lebensphasen in Sinnlosigkeit stecken bleiben, wird es immer wichtiger, Literatur daraufhin zu untersuchen, ob eine veröffentliche Arbeit inhaltlich Sinnlosigkeit fördert und unsere Verhaltensweisen nicht selten dem entsprechen.

So komme ich zu etwas besonders Wichtigem, das sich schon angedeutet hat: Mein Sinn ist etwas, das mich allein betrifft, ich kann immer nur von meinem Sinn sprechen. Mein Lebenssinn, den es zu finden gilt. Der Begriff „Sinnfindung“ unterscheidet sich in seiner Klarheit von der „Sinnsuche“ und „Sinnfrage“. Der erste Begriff öffnet eine Tür und führt auf einen Weg, dem ich langfristig folgen kann.

Wie ist denn der Schaden nun zu differenzieren?

Es gibt mehr als 15 ernst zunehmende Psychotherapieformen, an deren Kardinalsymptomen (Beispiel VT oder Tiefenpsychologie) sich eine manifeste Sucht wie ihre Besserungen in Richtung Abstinenz in Einzelgesprächen und Gruppentherapien (wie Gruppen des Kreuzbundes, Blaues Kreuz, Guttempler/IOGT und Anonyme Alkoholiker – hier besonders die 12 Schritte) zeigen lassen. Diese Entwicklungen sind zeit- und gruppenabhängig. Andere Hilfen sind das Jellinek-Schema und Ähnliches.

Gleichzeitig können wir bis an unser Lebensende etwas lernen und dies weitergeben (Prinzip Lernen und Lehren).

Deshalb fasse ich noch einmal zusammen: Wir leben einerseits in unserem innerweltlichen Leben (alles, was wir spüren, erkennen und erfahren können), entwickeln uns und lernen bis an unser Lebensende etwas.

Inhaltlich erkennen wir und erfahren zum Beispiel Raum, Zeit, Materie, Kausalität-Naturgesetze, Geburt, Lebenswelt und Tod. Im Unterschied dazu hatte ich das Transzendente genannt, das jenseits von Erfahrung und Erkenntnis Liegende („das geglaubt Werdende“), das die Bewusstseinsgrenzen überschreitet und zu einer Überwelt gehört und „das Göttliche“ genannt und als solches empfunden wird.

Frankl erkannte und entschied, dass es ein sinnloses Leben generell nicht geben kann, auch wenn wir Momente in unserem Leben für sinnlos halten oder sie so erfahren. Er schrieb dazu: „… die Frage ist falsch gestellt, wenn wir nach dem Sinn des Lebens fragen. Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen stellt …“

Diese Feststellung in seinem Buch „… trotzdem Ja zum Leben sagen …“ zu lesen, war für mich, wie gesagt, eine enorme Erleichterung. Das lag offensichtlich daran, dass ich zwar abstinent war und in meine Gruppen ging, auch arbeitete, aber bis zu dieser Erfahrung nicht zufrieden war.

Zum Experten meiner selbst werden

Ich hatte im Verlauf meines süchtigen Lebens, meines Fleißes und der Arbeit zum Trotz, große Flächen, Berge und Täler sowie breite Flüsse an Sinnlosigkeit angesammelt. Rückblickend finde ich, dass außer mir nicht wenige jüngere Menschen im ersten Drittel ihres Lebens sinnlose Seiten des Lebens ausprobieren mit Suchtstoffen und Verhaltensweisen.

Mich hatte die Sucht belogen und betrogen, aber am Ende konnte ich mit stationären und ambulanten Maßnahmen trotzdem abstinent bleiben, woran mir nahestehende Menschen durchaus beteiligt waren. Ganz langsam wurde mir klar, dass ein Weg in mein eigenes, nüchternes Leben länger dauern würde, nicht einfach ist, und es bis zu einer „zufriedenen Nüchternheit“ einige Jahre dauert.

Viktor Frankl und andere in den Gruppen oder Einzeltherapien haben mir gezeigt, wie ich ein Experte meiner selbst werden kann. Dabei lernte ich:

  1. 4 l Kaffee und 60 Zigaretten bedeuten keine Abstinenz.
  2. Ich besuche meinen Hausarzt regelmäßig, um feststellen zu lassen, ob ich körperlich gesund bin, zusätzliche Krankheiten bekommen habe und arbeiten kann.
  3. Benötige ich körperlich oder seelisch eine weitere ärztlich-psychologische Behandlung?
  4. Kann ich Beziehungen gestalten?
  5. Wie kann ich mit meinen Gefühlen umgehen?
  6. Wie gelingen meine Beziehungen zu drogenfreien Menschen?
  7. Wie schwer fällt es mir, drogenfrei zu leben?
  8. Ich schließe mich einer Selbsthilfegruppe an.

(Schneider schreibt dazu in seiner „Suchtfibel“ Seite 323: Viele Alkoholiker und andere Suchtkranke gelangen einzig und allein durch Selbsthilfegruppen zur dauerhaften Nüchternheit. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor der Selbsthilfe besteht darin, dass sie die Verantwortung vollständig beim Betroffenen lässt. Es gibt keinen neutralen Experten, nur selbst betroffene Experten in eigener Sache.)

Es war für mich nicht einfach, die Verantwortung für die Fragen zu übernehmen, die das Leben oder die Menschen, mit denen ich abstinent leben wollte, mir gestellt haben.

Wenn ich die Verantwortung für den Beginn auf dem Weg meiner Sinnfindung übernehmen will, schlägt Frankl drei Wegzeichen vor:

  1. a) Ich erlebe, was als gut oder schön und bereichernd erfahren werden kann,
  2. b) zu verändern und zum Besseren – und nicht nur für mich Besseren – zu wenden, wo und was immer möglich ist,
  3. c) wo es nötig ist, die Umstände zu ertragen, gilt es nicht, sie einfach passiv hinzunehmen, sondern an ihnen trotz allen Leidens selber zu wachsen und zu reifen.

 Etwa 1940 hat einer der beiden Gründer der AA, Bill W., in einem Büchlein über die zwölf Schritte darauf hingewiesen, dass es sich zu Beginn der Abstinenz und auch dauerhaft um die „Bereitschaft“ handeln sollte, gegen meine Sucht und die gesamten damit verbundenen Lebensumstände regelmäßig etwas zu tun, um nicht rückfällig zu werden und zufrieden leben zu lernen.

Manchmal werde ich gefragt, warum ich mich nicht für die Abstinenz entschieden hätte.

Als meine Abstinenz begann, war ich gar nicht fähig, etwas zu entscheiden. Dazu hatte ich in vielen Jahren Alkoholismus gelernt, wie unfähig ich für Entscheidungen zur Abstinenz seit Jahrzehnten gewesen bin, sodass ich mir eine solche Entscheidung auch gar nicht mehr zutraute. Wenn ich mich damals in der Psychiatrie gegen meinen Alkoholismus entschieden hatte, so war das keine großartige Eigenleistung, sondern weil ich leben und mich nicht umbringen wollte. Heute steht für mich der Begriff „Bereitschaft“ wie ein ständiger Regenbogen über allem, um mich zu behüten und täglich gegen meinen Alkoholismus etwas zu unternehmen, aber auch für mich und die Meinen zu sorgen.

 

Fortsetzung folgt in einer der nächsten Ausgaben mit Teil 3

Titelthema 1/18: Abstinenz und Sinnfindung

Viktor Frankl und die Wirkung seiner „Sinnfindung“ auf Suchtkranke

Vom Parkplatz im Regen ins Gehirn und von dort in die Seele

Von Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel *

Mittlerweile bin ich nun 78 Jahre alt geworden. Ich bin lange abstinent und gehe seit vielen Jahren in meine Selbsthilfegruppe. In den Jahren der Abstinenz musste ich nicht rückfällig werden, und oft wird auf diese Tatsache mit dem Satz geantwortet: „Da sind sie doch sicherlich stolz drauf.“ Nach all diesen Jahren des Trinkens und der Genesung ist „stolz“ keine Bezeichnung, für die ich mich noch interessieren würde.

Der Alkohol hatte mich, als ich mit dem Trinken aufhören konnte oder musste, derartig zugerichtet, dass ich völlig am Boden war und Angst, Panik, Scham und ein dauerhaft schlechtes Gewissen für Jahre mein Leben bestimmten, und ich deshalb sehr lange keine lobenden Beiworte mehr auf mich anwenden konnte und wollte. Ich hatte an meinem Schreibtisch einen Abschiedsbrief geschrieben und diesen noch einmal gelesen, als ich eine Stimme in meinem Kopf – wörtlich und klar – hörte: „Du musst sofort einen Psychiater anrufen, du willst dich umbringen.“ Bis heute nehme ich an, dass es entweder eine Seite von mir selbst war, die leben wollte oder mein Gott, der noch etwas mit mir vorhatte. Ich nahm den Telefonhörer in die Hand, es meldete sich der Oberarzt einer großen psychiatrischen Klinik, mit dem ich aus Weiterbildungen gut bekannt war, und meine Entwöhnung begann.

Von der damals diensthabenden Ärztin an bis zum heutigen Tag haben mir sehr viele Menschen auf die eine oder andere Art geholfen, besonders die, deren Zuneigung, manchmal Liebe, ich spüren konnte, und meine Schwestern und Brüder mit dem Programm meiner Selbsthilfegruppe. In der langen Zeit meiner Abstinenz habe ich einige Male auch therapeutische Hilfe in Anspruch genommen.

Es gab auch eine Reihe von Menschen, die mich bis heute immer noch am liebsten von hinten sehen, darunter ein weibliches Wesen, das laut und fest behauptete, ich sei überhaupt kein Alkoholiker und hätte mich nur in der Selbsthilfegruppe festgesetzt, um ein Buch zu schreiben. (Eine ganze Weile hat mich die Frage beschäftigt, wie ich mit einer solchen Aussage umgehen sollte, denn ich konnte und wollte ja nicht das Gegenteil dieser Behauptung beweisen.)

Trotzdem es mir viele abstinente Alkoholiker schon gesagt hatten, dauerte die Zeit, bis ich zufriedener wurde, eine Frau kennenlernte, mit der ich bis heute sehr gerne zusammenlebe, und bis ich gut arbeitsfähig wurde, etwa 3-5 Jahre, auch wenn ich aus der Wissenschaft wusste, dass die Abstinenzrate nach zwei Jahren Trockenheit und bei regelmäßigem Gruppenbesuch zuverlässig anstieg.

Bis auf den heutigen Tag nehme ich von Zeit zu Zeit bis heute bestimmte Ereignisse wahr, die ich schmunzelnd als Wunder bezeichne, wie zum Beispiel Folgendes: Ich kam etwa acht Monate nach Abstinenzbeginn an einem Nachmittag müde und verwirrt von der Arbeit aus dem Krankenhaus, als ich eine Buchhandlung bemerkte, die ich meinte, noch nie gesehen zu haben, als es zu regnen begann und ich eine trockene Stelle suchte. Vor mir stand in einer Reihe von Taschenbüchern ein schmales Taschenbuch, das mich durch ein großes Bild des Eingangstores vom Konzentrationslager Auschwitz anzog, mit dem Titel „… trotzdem ja zum Leben sagen/Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“. Mich hatte dieses Thema immer schon mit Scham erfüllt und interessiert, darüber hinaus war ich schon viele Jahre am Jüdischen Krankenhaus in Berlin tätig. Mich ekelte, seit ich denken und fühlen konnte, die Tatsache, dass eine deutsche Ärztekammer dem Autor Viktor Frankl den Titel Arzt aberkannte (etwa um 1936) und er sich „Jüdischer Krankenbehandler“, wie alle jüdischen Ärzte, nennen musste. Trotz meiner internistischen und psychiatrischen Ausbildung und auch langjährigen psychotherapeutischen Erfahrungen stellte sich mir immer wieder die Frage, wie Menschen sich in Tiere verwandeln können, und dann wieder zurück in Menschen, um zu Hause mit den Kindern Weihnachten zu feiern, wie die Mörder in den KZ es in der Regel machten.

Ich blätterte in dem Buch, kaufte es, fuhr mit dem Auto auf den Parkplatz des Volksparks und las in vier Stunden das gesamte Buch.

Viktor Frankl hatte es sechs Monate nach Kriegsende geschrieben, ein Arzt für Neurologie und Psychiatrie in Wien, der in vier verschiedenen Konzentrationslagern gewesen war und dessen gesamte Familie dort ausgerottet worden war. Aus meiner vermeintlichen Verzweiflung und Schwäche heraus suchte ich in den Monaten nach Beginn der Abstinenz immer wieder Menschen, die so etwas, was ich lächerlicherweise noch vor mir zu haben glaubte, schon hinter sich hatten, um daraus zu lernen, und nun fand ich mit einem Mal einen Bericht, der mein Leid bei weitem in den Schatten stellte und besonders mein Selbstmitleid ordnete und schrumpfen ließ.

Die Frage nach dem Sinn des Lebens beinhaltet die Frage nach der Bestimmung des Menschen und ist eng verbunden mit dem Vertrauen in mein Leben (Selbstvertrauen und Vertrauen in andere Menschen oder eine göttliche Macht).

„Unter dem Sinn des Lebens kann die Bedeutung der individuell gegebenen Lebenszeit eines Menschen verstanden werden, wobei es vorteilhafter ist,… vom Sinn (nur) MEINES Lebens zu sprechen.“(Jörg Riemeyer, „Die Logotherapie Viktor Frankls und ihre Weiterentwicklungen“, Bern, 2007) Was für einen Menschen sinnvoll ist, muss es noch lange nicht für den anderen Menschen sein. Dennoch:

Der Mensch hat immer eine Sehnsucht nach seinem Sinn. Im engsten Sinn ist damit die „Deutung des Verhältnisses, in dem der Mensch zu seiner Welt steht“ gemeint, wenn ich also etwas Sinnvolles erlebe oder tue und damit zufrieden bin.

Wir Menschen haben einen unzerstörbaren, gesunden Kern, der geschützt ist von unseren Ich-Grenzen und den wir „das Selbst“ nennen. Das Selbst bezeichnet das subjektive Erleben des Menschen. Das „Ich“ hat die Funktion, unser Selbst zu schützen, indem es bestimmte Reize von außen oder Ansprüche von innen reguliert. Ein sinnvolles Leben stellt sich durch die „Lebenserfahrung“ her, also durch unsere Vorbilder, durch Üben, aber auch durch schreckliche Erfahrungen oder durch die Erfahrung ehrlicher Liebe. Die Liebe und die Nächstenliebe spielen dabei eine ebenso große Rolle wie die Fähigkeit, zu glauben, also etwas oder an etwas glauben zu können und zu wollen.

Wie sich unsere Ich-Grenzen entwickeln und stabilisieren, lernen wir in der Regel im Elternhaus. (Im ersten Lebensjahr besonders beim Stillen durch die Mutter oder bei Menschen, die uns liebevoll/in Liebe über einen längeren Zeitraum „als Ersatz“ zur Verfügung stehen.) Mit und von diesen Vorbildern lernen wir, wenn wir gesund aufwachsen, innerlich frei (autonom) ein selbstbestimmtes Leben zu führen und uns einen Lebensweg zu wählen, den wir als sinnvoll erachten.

Sinnvoll erscheint uns ein Leben auch dann, wenn es so weitgehend wie möglich meiner (idealen) Wertvorstellung entspricht, und wenn mein Gewissen „Ja“ zu meinem Handeln und Leben sagt. Und ich als Folge zufrieden bin.

Wert und Bedeutung eines Vorganges oder einer Sache erhalten ihren Sinn durch geistige Vorgänge wie das Lesen, Verstehen, Interpretieren und Bewerten (Beispiel: Wie fühle ich mich, wenn ich geliebt werde?).

Wir spüren also das Sinnvolle auch: Wenn etwas einen Sinn hat und es für uns spürbar ist, sind wir zufrieden.

Der Begriff Sinnfindung ist neben anderen Menschen von Viktor Frankl erarbeitet worden, der sich damit bereits Mitte der Dreißigerjahre des vorigen Jahrhunderts beschäftigt hat.

Frankl war ein – wie ich meine, gut aussehender – eher kleiner Mann, Bergsteiger, Neurologe und Psychiater – klug, zäh und fit also, der sich Gedanken über die Sinnfindung im Rahmen seiner täglichen Arbeit an der Universitätsklinik Wien mit seelisch Kranken, besonders mit jugendlichen Selbstmördern oder Studenten, aber auch in Vorträgen und schriftlichen Arbeiten machte. 1942 kam er mit seiner Ehefrau, mit der er 18 Monate verheiratet war, und seinen Eltern in das KZ Theresienstadt und von dort nach Auschwitz-Birkenau, weil er Jude war. Nach seiner Entlassung konnte er dann 1946 das genannte Buch schreiben, das ich nun 1991 in Händen hielt.

„Dieses Buch will nicht Mitleid erregen oder Anklage erheben“, schreibt Riemeyer, „es kommt Frankl vor allem darauf an, zu beschreiben, durch welche Phasen der Entmenschlichung die KZ-Häftlinge gehen mussten, und wie es doch einigen von ihnen möglich war, innerlich zu vollbringen, ,trotzdem ja zum Leben (zu) sagen‘.“

An diesem schrecklichen und Menschen verachtenden Ort, in einer Atmosphäre, in der sozusagen stündlich die Möglichkeit bestand, das Leben zu verlieren, verzweifelten sehr viele Menschen und empfanden alles – ja das ganze Leben – als sinnlos, was es ohne jeden Zweifel im Konzentrationslager auch war. Frankl hatte, wie wohl jeder Mensch, eine sehr große Sehnsucht, seine Familie wiederzusehen, und so bemühte er sich, wie er sagt, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um am Leben zu bleiben. Er begann, über die Sinnlosigkeit, die alle Menschen in seiner Umgebung beklagten, genauer nachzudenken und kam zu dem Schluss, dass das Leben ganz allgemein niemals sinnlos sein kann, auch wenn wir selbst durchaus in eine Situation geraten können, die uns als sinnlos erscheint. Z.B. durch eine Sucht in einem fortgeschrittenen Stadium oder ständige Folterungen und Todesgefahr, so dass sich unsere Ich-Grenzen aufzulösen beginnen und das Selbst unmittelbar in Gefahr gerät. (Genau das wollen Folterer erreichen! Siehe „Spiegel“ 15/2016.)

Frankl fasste den Entschluss, auch in diesem tödlichen Umfeld für sich und sein Leben Verantwortung zu übernehmen. Er formulierte das so:

„… was hier Not tut, ist eine Wendung in der ganzen Fragestellung nach dem Sinn des Lebens: wir müssen lernen …, dass es eigentlich nie und nimmer darauf ankommt, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf: was das Leben von uns erwartet!

Zünftig philosophisch gesprochen könnte man sagen, dass es hier also um eine Art … Wende in das komplette Gegenteil geht, so zwar, dass wir nicht mehr einfach nach dem Sinn des Lebens fragen, sondern dass wir uns selbst als die Befragten erleben, als diejenigen, an die das Leben täglich und stündlich Fragen stellt. Fragen, die wir zu beantworten haben, egal ob wir nicht entweder trinken oder Drogen oder Glücksspiele nehmen, auch nicht, indem wir nicht durch ein Grübeln oder Reden, sondern nur durch ein Handeln, ein richtiges Verhalten, eine bzw. die rechte Antwort geben. Leben (und in diesem Fall abstinentes Leben, sv) heißt letztlich eben nichts anderes als: Verantwortung zu tragen für die rechte Beantwortung der Lebensfragen, für die Erfüllung der Aufgaben, die jedem Einzelnen das Leben stellt, für die Erfüllung der Forderungen der Stunde.“

Es scheint also für jede/n in einer Therapie darum zu gehen, für die Erfüllung der Aufgaben, die jedem Einzelnen hier das Leben stellt, die Verantwortung zu tragen.

Da saß ich nun und vergaß diese Sätze bis zum heutigen Tag nicht mehr. Die Wende in das komplette Gegenteil nannte Frankl die Tatsache: „… dass wir uns selbst als die Befragten erleben, als diejenigen, an die das Leben täglich und stündlich Fragen stellt. Fragen, die wir zu beantworten haben …“ Und es gäbe eben nur die „rechte Antwort“ durch „ein Handeln, ein richtiges Verhalten“. Wie könnte jemand seine/ihre „rechte“ Antwort finden?

Es hat sich nun langsam herumgesprochen, dass dieser Vorgang Sinnfindung Zeit braucht: durch Lebenserfahrung, die wir im Umgang mit einzelnen Menschen oder in einer Gruppe ebenso wie bei der Arbeit finden können. Ich will das Ergebnis einer „rechten“ Antwort vorwegnehmen.

Ich habe in der salus Klinik in Hürth lange mit suchtkranken Menschen über die Sinnfindung zu sprechen versucht, und in der Regel bekam ich in den 90 Minuten von jedem irgendein Echo, wir sprachen miteinander und stritten auch. Oft wurde ich gefragt, was das Ganze denn solle und warum ich darüber sprechen wolle. Ich wurde nach meiner Geschichte gefragt, räumte dafür auch die Zeit ein, und logischerweise fiel gegen Ende das Wort „Gott“. Da passierte es schon mal öfter, dass im besonderen Drogenabhängige aufsprangen und mir mitteilten, für einen solchen Unsinn seien sie nicht in die Therapie gekommen. Das ging, je nach meiner Tagesform und wie ich mit der Ansprache umging, gelassen und höflich vor sich.

Aber einmal war ich nicht gut in Form, reagierte gereizt auf einen Angriff und antwortete: „Jetzt will ich Ihnen einmal zeigen, was bei dieser Therapie für Suchtkranke herauskommen soll!
Beginnen Sie den Tag mit einer Besinnung, egal ob religiös oder nachdenklich oder meditierend. Dann nehmen Sie sich für den Tag etwas vor, das sie auch leisten können, und vor allem hören Sie auf, zu lügen. Versuchen Sie den ganzen Tag bei ihrer persönlichen Wahrheit zu bleiben und benennen Sie Vorgänge oder Begriffe, so ehrlich sie können, mit dem rechten Namen: zum Beispiel „Nikotinsucht“, „ich kann heute nicht, weil ich kaum geschlafen habe und mich so schwach fühle“, „ich habe Heimweh …“, „ich habe solche Sehnsucht nach einem Menschen, der mir zärtlich begegnet und mich in den Arm nimmt …“

Davon ausgehend verhalten Sie sich bitte den gesamten Tag so, dass sie sich abends zufrieden in ihr Bett legen können.

Aus dem, was ich gesagt hatte, ergab sich:

Sinnfindung kann sich nur herstellen aus meiner persönlichen Ehrlichkeit, aus einer gewissen Demut, aus Ruhe und Erholung, aus Zärtlichkeit bzw. Liebe und dem Beginn eines Glaubens daran, aus Beziehungen und, dass es in meinem Leben vielleicht Sehnsüchte gibt, die über meinen Geist hinausgehen, vielleicht in eine „Welt“, die ich nicht verstehen kann.

Ich kann die Fragen des Lebens nicht beantworten und die Sinnhaftigkeit meines Lebens entdecken, wenn ich pro Tag 5 l Kaffee trinke, rauche (10-60 Zigaretten) und nicht verordnete Tabletten schlucke, und schon am zweiten Tag meiner Therapie die Partner/in meines Lebens finde.

Die Schwierigkeit dabei scheint zu sein, dass es meine Aufgabe sein möge, die Verantwortung für etwas zu tragen, was ich teilweise noch gar nicht verstehen kann, und vielleicht habe ich auch Angst vor dem Ergebnis (es gibt Gruppen und in ihnen Regeln, um das zu lernen, und es gibt für Suchtkranke abstinenzorientierte – darauf müssen Sie achten! – Psychotherapeutische Einzeltherapien).

Der Anfang einer Abstinenztherapie ist auch deshalb so mühsam, weil ich die Inhalte nicht im Lotto gewinnen kann, sondern täglich bereit sein muss, die Verantwortung für Fragen zu übernehmen, die das Leben oder auch vielleicht ein persönlicher Gott uns stellen. Und das unter abstinenten Bedingungen.

Die geistige Grundlage unseres Lebens ist das Grundvertrauen bzw. Lebensvertrauen, und ich habe noch keinen manifest Süchtigen – mich eingeschlossen – erlebt, der so etwas bei Beginn seiner Suchttherapie hatte.

Ich werde mir also Zeit nehmen müssen, um vieles wieder zu erwerben, und dabei gibt es durchaus Hilfen für Sie: Es gibt nämlich zwei „Thermometer“ für das Ausmaß der Sinnhaftigkeit in meinem Leben, das eine ist unser Gewissen und das zweite ist der Grad unserer Zufriedenheit.

Diese Hilfen und weitere „Thermometer“ finden Sie in der folgenden Arbeit (Teil 2 in der nächsten Ausgabe, d.Red.).

Außerdem bitte ich Sie um Gedanken und Kommentare, Fragen, auch Unsicherheiten, Unklarheiten zu diesem Text. Ich würde das gerne im zweiten Teil „ausbügeln“ und beim Verständnis helfen. Schreiben Sie also bitte bis zum 5. März an die TrokkenPresse, Crellestr. 42 a, 10827 Berlin, info.trokkenpresse@pbam.de.

Ich ende heute mit einem Gedicht von Hermann Hesse und freundlichen Grüßen,

Ihr Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel.

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

 

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe

Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

In andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

 

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

An keinem wie an einer Heimat hängen,

Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,

 

Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,

Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

Uns neuen Räumen jung entgegen senden,

Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden …

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

 

Herrmann Hesse

 

*Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel ist Dr. med., Arzt und Psychotherapeut – und abstinenter Alkoholiker. Jahrelang arbeitete er als Chefarzt der Abteilung für Abhängigkeitskranke am Jüdischen Krankenhaus Berlin. In der TrokkenPresse schrieb er regelmäßig über seine Erfahrungen – und seine Kolumnen als Rolf Zweifel waren nicht nur beliebt, sondern wurden auch in seinem Buch „Im Zweifel ohne“ veröffentlicht (TrokkenPresse Verlag).

Titelthema 6/17: Sexualität und Sucht

Sexualität und Sucht

Ein Tabubruch

Von Dr. Andreas Dieckmann

Über die wichtigen Dinge im Leben redet man nicht: Einkommen, Wahlen, Glauben und – natürlich – Sexualität. Dabei sind das spannende Themen des Lebens. Dagegen ist der Austausch über den ausgebliebenen Sommer ein Dauerthema. Wir sprechen nicht gern über Intimes. Auch in Therapien vermeiden Betroffene nicht selten das Thema ebenso wie deren Therapeuten. Vermutlich fürchten wir verletzliche Situationen.

Nur für Erwachsene

Ein Erlebnis mit einem alkoholkranken Patienten hat den Eindruck bestärkt: Im Zusammenhang mit der Frage der Rückfallvermeidung suchten die Teilnehmer an der Informationsstunde nach Alternativen zum Rückfall. Kontakt aufnehmen, in eine Gruppe gehen, sich ein gutes Buch nehmen und einige andere Vorschläge veranlassten einen der Betroffenen zu der Bemerkung: „Wenn ich so unter Druck stehe, dann suche ich nach etwas geil Entspannendem, nicht nach dem erwartbaren drögen Rat, ich solle mir Gedanken machen, was bei einem Rückfall am Ende herauskommt. Das weiß ich selber.“

Was denn „geil entspannend“ sein könnte, wurde erfragt. Es begann ein Kichern und Murmeln wie unter pubertierenden Jugendlichen unter den Anwesenden. Der Gruppenleiter sprach dann die Sexualität direkt an und es setzte eine Diskussion ein, dass man in solchen Situationen ja wohl nicht immer einen Partner oder eine Partnerin zur „Verfügung“ habe und „das Puff kann ich mir nicht leisten“. Im weiteren Verlauf deutete ein Teilnehmer sehr vorsichtig die Möglichkeit zur Selbstbefriedigung an. Wieder musste der Moderator den „Fall“ beim Namen nennen. Während der gesamten Therapie ließ der Teilnehmer nur wenige Gelegenheiten aus, um zu bemerken, der Doktor selber habe gesagt, er solle sich „einen herunterholen“, wenn er „Durst“ habe.

Damit sei angedeutet, wie kompliziert es für viele – besonders männliche Menschen – ist, über Sexualität in angemessener Weise zu reden. Es hat ja auch sein Gutes, den Hauch des Besonderen zu wahren. Wenn wir aber jetzt über das Thema Sucht und Sexualität sprechen, dann ist Offenheit erforderlich. Und der Schutz derer, die mit diesem Thema noch nichts anfangen können. Also Weiterlesen: Nur für Erwachsene!

Der Stoff regt an

Wer sich mit der Funktion süchtigen Verhaltens auseinandersetzt, der stößt sehr bald auf die Wirkungen des Suchtmittels bei längerem Gebrauch. Der gelegentliche Nutzer von bewusstseinsverändernden Genussmitteln schätzt die stimmungsaufhellende Wirkung als Bereicherung der Lebensqualität. Ein nicht süchtiger Mensch kann Drogen sogar für eine zeitlich begrenzte Ekstase, also einen Rausch, nutzen. Dieses Verhalten kennen wir bei ritualisierten Festen wie Karneval oder auch in mystischen Religionen. Menschen mit einer entsprechenden Veranlagung schaffen es in religiösen Gemeinschaften sogar, auch ohne ein bewusstseinsveränderndes Mittel einzunehmen, sich über ihre Vorstellung der Nähe zu Gott in ekstatische Zustände zu bringen, aus denen sie nach der Zeremonie wieder „erwachen“. Ein glückseliges Erleben.

Manchmal beschreiben auch süchtige Menschen während ihrer aktiven Krankheitsphase ihre Erlebnisse in ähnlicher Weise. Manche Künstler haben ihre kreativen Phasen unter Einsatz von Substanzen, die das Erleben beeinflussen, optimieren können. Ich kenne aber auch einen ehemaligen Verkäufer von vielfältig nutzbaren Haushaltsgeräten, der mir berichtet hat, dass er in den ersten Jahren des Einsatzes von Alkohol mit seinen Verkaufsfähigkeiten über sich hinausgewachsen ist. Erst mit dem Einsatz der Entzugserscheinungen und der Unfähigkeit der selbstbestimmten Regulierung der Trinkmenge stellte er an seinem Umsatz fest, dass „die schöne Zeit vorbei“ war.

Befriedigung im Tran

Sehr viele Suchtkranke mussten aber die Erfahrung machen, dass angenehme Zeiten und Erlebnisse eng verbunden waren mit dem Rausch, anschließend indes als angenehme im Innern zu bewahrende Erlebnisse nicht mehr zur Verfügung standen. Sie müssen feststellen, dass wohltuendes Erleben überhaupt nur im Rausch möglich ist, hinterher aber nicht mehr für die nachhaltige Erinnerung als Befriedigungsmöglichkeit zur Verfügung steht. „Ich bin wie ein Sieb”, formulierte es einmal ein Betroffener. Deshalb, so meinte er, habe er stets im „Tran“ bleiben müssen, um sich einigermaßen wohl zu fühlen. Zuletzt ging es nur noch darum, Gefühle des Unwohlseins zu vermeiden – lange nicht mehr um Genuss.

Ein wesentliches Problem der Sucht ist der mehr oder weniger ausgeprägte Verlust der Genussfähigkeit, sollte sie denn zuvor bestanden haben. Genuss kann man vor allem in dem Wechsel von Spannung und Entspannung erfahren. Nehmen wir nun endlich die Sexualität als Beispiel: Sex ist wunderbar, wenn er sich langsam von der Freude darauf, über die flirtende Kontaktaufnahme und die allmähliche Annäherung mit zärtlicher Erotik zu einer Spannung aufbaut, die sich im günstigen Fall im gleichzeitigen Orgasmus entlädt. Anschließend kann es dann in den Armen des Partners zu dem wohligen Gefühl der Befriedigung, zärtlicher Berührung und sanftem Einschlafen kommen. War die Partnerin oder der Partner mit Bedacht gewählt, kommt nach dem süßen Schlaf statt der erschreckten Ernüchterung die wunderbare Erinnerung.

Die Lust versiegt in den Promille

Das ist ein Genuss, der sich anfänglich sogar mit Genussmitteln steigern lässt. Eine Nase Kokain soll die vielfache Stärke eines Orgasmusgefühls vermitteln. Längerfristiger Alkoholkonsum dagegen dämpft die sexuelle Lust auf Dauer. Das hängt mit einigen biologischen Faktoren zusammen. Insbesondere das im Limbischen System des Gehirns liegende Gebiet, in dem die angenehmen Empfindungen aus dem Körper zusammenfließen, wird durch viele Suchtstoffe „unempfindlich“ für Genüsse. Der unglückliche Begriff des „Belohnungssystems“ verschleiert die vielfältigen Genüsse, die etwa mit Erotik zusammenhängen, von den Schmetterlingen im Bauch über die anregende Wirkung von Blicken, die Zärtlichkeit, das Gefühl der Zusammengehörigkeit und natürlich die differenzierten Gefühle der Sexualität bis zum Orgasmus.

Wenn chronischer Alkoholkonsum das Limbische System verändert hat, kann die Freude an der Sexualität, die Libido, sehr eingeschränkt werden. Man könnte vielleicht sagen, dass der Alkohol und andere Drogen die Sensibilität des Empfindens verringern. Es braucht stärkere Reize, um Wohlbefinden auszulösen. Im Genusstraining haben sich die Rehabilitanden über Düfte oder feine Geschmacksnuancen häufig lustig gemacht, weil sie die Unterschiede nicht wahrnehmen konnten. Die feinen Signale sind es aber auch bei der Sexualität, die die Bereitschaft und Vorfreude über das Limbische System bahnen.

In der Abstinenz das Genießen neu erlernen

Es gibt Potenzprobleme, unter denen Männer oft sehr leiden, wenn sie einen nicht geringen Teil ihres Selbstwerterlebens aus der Stärke ihres Glieds beziehen. Das muss aber nicht so bleiben, wenn sich Betroffene darüber klar sind, dass mit der Abstinenz auch das Genießen wieder erfahren und gelernt werden muss. Dazu gehört auch die Bereitschaft, Genuss neu zu verstehen: Es gibt dann keine Dauerentlastung von unangenehmen Empfindungen, keinen giftigen „Dauerorgasmus“ mehr, sondern eher den Genuss aus den Gegensätzen: Nur wer das Gefühl des Hungers gespürt hat, kann den Genuss des Sattwerdens erleben. So paradox es klingt: Wer dauernd isst, wird nicht satt.

„Er steht wieder, jetzt fehlt nur noch `ne Frau“, sagte einmal ein Rehabilitand in der Klinik. Er lebt in der Erwartung, dass etwas passiert, auf ihn zukommt. Er hat nicht mehr das Gefühl der Selbstwirksamkeit, dass sich etwas ändert, wenn er etwas tut.

Die Funktionsfähigkeit des Limbischen Systems ist sehr komplex. Sie wird von biologischen und seelischen Komponenten beeinflusst. Deshalb lässt sich auch kein Zeitraum angeben, wann nach dem Abstinenzbeginn das Genießen wieder einigermaßen funktioniert. Die zur Sexualität gehörenden physiologischen Vorgänge unterliegen ohnehin noch vielen anderen Einflüssen des Körpers. Diesen ist man aber nicht völlig hilflos ausgesetzt, sondern kann sie positiv beeinflussen.

In partnerschaftlichen Beziehungen muss die Kommunikation über Sexualität nicht ausschließlich unter die Gürtellinie gehen. Vielleicht ist es ungewohnt, aber das Gespräch über die gegenseitigen (geheimen) Wunsche und Vorlieben kann Störungen des sexuellen Miteinanders auflösen oder mildern. Manche mögen auch den verbalen erotischen Austausch, andere Menschen bevorzugen „dirty speaking“, wieder andere belassen es bei Zärtlichkeiten und einigen sich über die Art und Weise des Beisammenseins.

Ja, es gibt auch potenzfördernde Medikamente, die viele Urologen den Männern rasch bei Erektionsproblemen verordnen. Solche Substanzen wirken dann häufig schnell, lösen aber das Problem nicht. Für Frauen gibt es ohnehin kaum ungefährliche Substanzen neben der Gabe von Hormonen. Das sind Lösungen, die auf Dauer nicht tragfähig bleiben. Zudem: Wollen wir wirklich Sexualität auf Abruf? Außerdem greifen die Nutzer solcher Möglichkeiten wieder in die Physiologie ihrer Sexualität ein und verhindern die Normalisierung des hormonellen Rhythmus.

Das sexuelle Sahnehäubchen musst du dir erspüren

In der nachsüchtigen Lebensgestaltung geht es auf vielen Gebieten eher um geduldige Aktivität. Die Zeit der passiven Wunscherfüllung ist dann vorbei. Die Hinwendung zur Realität umfasst auch die Akzeptanz der eigenen Empfindungen. Es gibt so viele Formen der Sexualität wie es Menschen gibt und keine Norm quantitativer Sexualität. Daher lohnt es sich, sich seiner eigenen sexuellen Orientierung, seiner Wünsche und Bedürfnisse bewusst zu werden. Wer mit wenig sexueller Aktivität zufrieden ist, lebt kein schlechteres Leben als jemand mit starken sexuellen Bedürfnissen.

Zum Wiedergewinnen sexueller Lust kann es gehören, sie sich allmählich wieder anzueignen. Das bedeutet praktisch, dass nicht jede erotische Situation zum Orgasmus führen „muss“. In einer Partnerschaft gibt es immer wieder gute Gelegenheiten, den anderen und sich selber zu erkunden, die Wünsche und Empfindungen kennen zu lernen. Man kann das Zusammensein, die Zärtlichkeit, eine gute erotische Atmosphäre und die Sexualität in den einzelnen Bereichen genießen und als Ganzes erleben, ja man kann es vielleicht als wohltuendes Erlebnis beim gegenseitigen Blick in die Augen wiederbeleben.

Manche Menschen, die das Gefühl haben, sie seien wie ein Sieb und können nichts (be-)halten, können so üben, sich zu erspüren und nachhaltig zu genießen: Die Erinnerung wird wach, wenn man sich Koseworte zuflüstert oder vielleicht sogar beim gemeinsamen Einkauf spürt, wir gehören zusammen. So kann Sexualität aus der Sonderrolle herauskommen und sich als Teil des umfassenden Lebensgefühls integrieren. Diese Entwicklung bedarf der Geduld, die man zu zweit leichter aufbringen kann, wenn man sich darüber immer wieder verständigt.

Das ist nicht suchtspezifisch. Insbesondere in Beziehungen zwischen Frau und Mann hilft das Reden über die gegenseitigen Bedürfnisse, weil die Geschlechter tatsächlich deutlich unterschiedlich empfinden. Generell kann man davon ausgehen, dass Frauen wechselnde Phasen von Lust und Zärtlichkeitsbedürfnis haben und Männer eher stets sexuell aktiv sind. Dazwischen gibt es jedoch äußerst differenzierte Variationen, weswegen auch gleichgeschlechtliche Partnerinnen und Partner nicht davon ausgehen können, dass die oder der andere ebenso empfindet wie sie oder er.

Die geheimen Wünsche

Beim gegenseitigen Entdecken wird man auch auf die Schätze der Vielfalt von Praktiken stoßen. Wenn die Art der Sexualität niemandem Schaden zufügt, kann sie die Lebensqualität wunderbar erhöhen. Mit wachsendem Vertrauen dürfen dann auch geheime Wünsche ausgetauscht werden. Hier kommt es wieder darauf an, sich gegenseitig zu respektieren. Gerade Süchtige haben gelegentlich die Vorstellung, andere Menschen empfinden ebenso wie sie. Deshalb müsse man gar nicht so viel reden. Wenn man es aber probiert, lernt man bereichernde andere Empfindungs- und Denkweisen kennen – nicht nur auf dem Feld der Sexualität.

Eine partnerschaftliche Beziehung ist ein guter Nährboden für befriedigende Sexualität. Der beschriebene Umgang mit gegenseitiger Sexualität ist eine Verbindung, mit der sich Beziehungen stabilisieren. Mit den Jahren entwickelt man sich in eine Phase, in der möglicherweise aktive Sexualität nicht mehr so eine entscheidende Bedeutung für die Lebensqualität hat wie das Gefühl der Zusammengehörigkeit, etwa in der Elternzeit, nach Operationen, aber auch manchmal mit zunehmendem Alter. Sexualität ist ja auch keine Pflichtleistung, sondern eine Lebensqualität, die durch andere Sinnesgenüsse abgelöst werden kann.

Sex an und für sich

Einige Menschen mit süchtigem Verhalten machen die Erfahrung, dass ihnen die Gestaltung und Erhaltung einer Partnerschaft nicht gelingt. Sie entscheiden sich für ein Leben in Eigenverantwortung, ohne die Verbindlichkeiten der Zweisamkeit. Das kann nach reiflicher Abwägung eine abstinenzerhaltende Entscheidung sein. Was machen diese Singles mit ihrer Sexualität?

Es würde das Thema erheblich erweitern, wenn wir hier erörtern würden, warum jemand diese Lebensweise wählt oder aber auch keine andere Wahl hat. Daher beschränken wir uns auf die Sexualität: Viele Aspekte entsprechen der Sexualität zwischen Partnern, insbesondere die beschriebenen Gedanken zur Genussfähigkeit.

Singles sind stärker als Paare mit dem Thema der Selbstbefriedigung konfrontiert. Auch bei dieser Art der Sexualität kann man sich kennenlernen, darauf achten, dass es ein Erlebnis wird und nicht lediglich eine notwendige gelegentliche Spannungsabfuhr. Auch dabei kann süchtiges Verhalten auftreten und den Spannungsbogen zerstören. Es gibt aber auch die Möglichkeit des liebevollen Umgangs mit sich selber, der Erzeugung einer guten Atmosphäre und des Genusses durch Schaffung einer Spannung. Zwischen dem Erleben des Bedürfnisses und der Sexualität selber gibt es Raum und Zeit für Vorfreude und Phantasie.

Manchen Menschen gelingt es auch, Sexualfreundschaften zu pflegen, also gemeinsamen Sex zu haben ohne umfassende Beziehung. Das „Pflegen“ spielt dabei eine besondere Rolle, weil wir in unseren Lebensvorstellungen fast alle die Sexualität mehr oder weniger intensiv mit umfassenderer Beziehung verbinden. Deshalb entstehen dann oft Erwartungshaltungen, deren Enttäuschung vorhersehbar ist. Aufmerksamkeit ist auch bei dieser Konstellation wichtig, wenn es nicht zu „abhängigen“ und eventuell missbrauchenden Beziehungsgestaltungen kommen soll.

Die Freunde des „One-night-stands“ verfügen häufig über eine gute Portion Annäherungsfähigkeit und klagen vermehrt über ein schales Gefühl. Ein solches Arrangement kann sexuell befriedigend sein, ist aber mit einem hohen Risiko der Enttäuschung und den Nebenwirkungen der Sexualfreundschaften verbunden.

Sex gegen Bares

Der Erwerb käuflicher Liebe ist nicht nur ein Singlethema. Auch hier entfallen bei unserer Beschäftigung mit Sexualität wichtige Aspekte, die wir wenigstens als Fragen benennen wollen: Wie denke ich ethisch über das (Ver-)Kaufen von Sexualität? Habe ich Achtung vor dem Sexarbeiter? Gibt es andere Möglichkeiten zu gemeinsamem Sex ohne die Verbindlichkeit einer Beziehung? Die Beschäftigung mit diesen und anderen Fragen hat Einfluss auf die Art und Weise, wie unsere Seele diesen Genuss verarbeitet. Dabei geht es tatsächlich mehr um die Sorgfalt – heute spricht man auch von Achtsamkeit (als wäre sie neu erfunden worden) – mit sich und anderen, als um eine allgemeine Moral.

Anregend wirkt für manchen Menschen auch die Beobachtung sexueller Aktivität und Erotik. Zeitgemäße Medien bieten dafür die Möglichkeit, leicht an Material zu kommen, um Sexualität zu sehen. Pornografie ist eine Erscheinungsform, von der behauptet wird, 80 Prozent der Männer würden sich ihrer „erektiv“ bedienen. Auch der Umgang mit diesem Angebot wirft einige Fragen auf: Tun die Akteure das freiwillig und selbstbestimmt? Wozu muss ich mich anregen? Warum warte ich nicht, bis mein eigener Wunsch oder ein möglicher Partner Anregung genug ist?

Sex mit Kontrollverlust und ohne Lust

Oder benötige ich immer mehr und mehr Sex, um zur Befriedigung zu gelangen? Es gibt Menschen, die sich ständig sexuell stimulieren müssen und ihr Verhalten wie in einer zweiten Welt abseits der Realität leben. Dann ist Sexualität selber zur Sucht geworden, manchmal auch im Sinne der Suchtverlagerung. In Fällen des Kontrollverlustes ist der Weg in die Selbsthilfe oder zu professioneller Behandlung dringend anzuraten.

Viele dieser Themenbereiche lassen sich schwer alleine klären. Deshalb ist es günstig, sich Menschen zu suchen, mit denen man vertrauensvoll in eine Auseinandersetzung mit diesen Themen kommen kann. Gelegentlich finden sich Selbsthilfegruppen, denen eine solche Gesprächskultur gelingt. Manchmal helfen auch Seelsorger, ein Arzt oder ein Psychotherapeut, um spezielle Fragestellungen zu klären wie hormonelle, andere biologische Störungen, seelische Belastungen wie sexuelle Wünsche, die gesellschaftliche oder ethische Tabuzonen betreffen oder die Unsicherheit über die eigene sexuelle Identität. Manche Menschen merken eine Parallelität zwischen sexueller Aktivität oder deren Versagen und ihrem Selbstwertgefühl.

Prävention und Sexualität

Haben Menschen mit süchtigen Verhaltensweisen generell eine andere Sexualität? Ja, weil Sucht und deren seelische und biologische Hintergründe den ganzen Menschen betreffen, wie wir sehen konnten. Und: Nein, weil die Aneignung einer befriedigenden und würdigen Sexualität Chance und Problem aller Menschen ist.

Sexualität als Teil der Lebensqualität scheint präventive Möglichkeiten im Umgang mit einer Krankheit zu bieten, die Betroffene lediglich zum Stillstand bringen können. Die offensive Gestaltung des abstinenten Lebens bietet Chancen, sein Leben so zu bewältigen und zu genießen, als habe man die Erkrankung nicht. Das betrifft eben auch den Umgang mit Sexualität.

Sex und Liebe – Liebe und Sucht

Kann man über Sexualität sprechen, ohne die Liebe zu erwähnen? Diese Perspektive auf die Sexualität eines süchtigen Menschen eröffnet ein neues Kapitel – des Zusammenhangs von Sucht und Liebe. „Was soll ich über die Liebe sagen, da ich mich selber fast zerstört habe“, äußerte ein kluger Betroffener, als es um Beziehungen ging. Er hielt sich nicht für fähig, sich einem anderen Menschen so zuzuwenden, dass dahinter sein Egoismus zurücktritt und seine starke Zuneigung aus der Selbstachtung kommt.

Sicher, er hat offensichtlich einen hohen Anspruch. Aber hat er nicht auch einen guten Blick darauf, dass seine Krankheit ein Beleg dafür ist, dass er zumindest sich selber nicht geliebt hat. Liebe ist sicher nicht die Dankbarkeit für die Zuwendung eines anderen. Für ein Kind mag das sogar stimmen, weil die Mutter oder eine andere enge Bezugsperson die Liebe bedingungslos schenkt.

Liebe und Sexualität haben sicher Überschneidungspunkte, sind aber wohl eher Themen, die nicht in einem direkten Zusammenhang stehen müssen.

Let’s talk about…

In diesem Artikel wird darauf verzichtet, die neurophysiologischen Zusammenhänge und die hormonellen Regelkreise wissenschaftlich korrekt zu beschreiben. Sie sind die körperlichen Begleiterscheinungen gelebter Sexualität. Es soll nicht der Anschein erweckt werden, Sexualität sei eine reine Funktion der Biologie. Das unterscheidet uns von den Tieren. Bei uns geht der Sex durch den Kopf. Oder anders formuliert: Die gewählte Sexualität ist eine Frage unserer Einstellung dazu. Der Tabubruch, den Mantel des Schweigens zu lüften, kann helfen, sich und andere zu finden. Dass Taktgefühl dabei hilfreicher ist als Exhibitionismus in der Kommunikation, versteht sich – wenn auch nicht von selbst.

Dieser Beitrag stellt keine wissenschaftliche Expertise zur Sexualität Süchtiger dar, sondern ist als Versuch zu verstehen, Menschen über Widerspruch und Zustimmung zum Nachdenken anzuregen. Vielleicht erfühlt sich der eine oder andere eine Haltung zu diesem Tabuthema, das längst keines mehr ist. Es gibt die Ehe für alle – vielleicht ein Signal für eine verantwortliche Freiheit. Auch für dieses Thema gilt: Es ist alles erlaubt, wenn die Grenzen der Würde des anderen und Deiner selbst gewahrt bleiben.

Die Kernsätze:

  • Genussfähigkeit braucht den Wechsel von Anspannung und Entspannung
  • Kurzfristig regt Alkohol an – auch die Sexualität
  • Langfristig hemmt Alkohol die Genussfähigkeit – auch die Sexualität
  • Genussfähigkeit lässt sich durch geduldiges Erspüren der eigenen Wünsche und die des Partners aneignen
  • Die geheimen Wünsche gehören in das intime Gespräch
  • Selbstbefriedigung kann eine Form individueller Sexualität sein – auch Rückfallprävention
  • Sexualität und Liebe haben (nicht immer) miteinander zu tun
  • Eine verantwortliche selbstbestimmte Sexualität ist frei(er als mancher denkt)
  • Die Würde des Menschen und seine Sexualität stehen in Verbindung

 

Orgel, Jazz und null Promille

20 Jahre Kunst und Kultur in der Krankenhauskirche Wuhlgarten

Orgel, Jazz und null Promille

Am Rande des grünen Wuhletales in Berlin, zwischen hohen Bäumen, eine kleine Kirche. Seit über hundert Jahren hat sie ihren Platz auf diesem Krankenhausgelände. Ihre Geschichte? So wechselhaft wie die Zeiten selbst. Heute jedenfalls sind Unfallkrankenhaus, Augenklinik und die Tagesklinik für Suchtkranke ihre Nachbarn. Und heute feiert die Krankenhauskirche Wuhlgarten e.V. in Berlin-Marzahn/Hellersdorf ein besonderes Jubiläum. Seit der Einweihung nach ihrem Wiederaufbau sind nun 20 Jahre vergangen. Gewürdigt wird das mit einer großen Ausstellung, vielen Künstler-Gästen und einem Festgottesdienst im November. Die TrokkenPresse war neugierig und besuchte die Kirche:

Stille.
Flüstern.
Eine Kaffeetasse klirrt leise beim Absetzen.
Vier Tische mit blaugepolsterten Stühlen laden im Kirchenschiff, umgeben von Säulen, zu Besinnung ein, bei Kaffee und Kuchen. Das dicke Gemäuer schluckt das Draußen, hält es fern. Egal, was das Draußen für jeden Besucher bedeuten mag: Ob die Hektik auf der Klinik-Station. Die Baugeräusche gegenüber. Der Lärm des eigenen Verstandes. Hier darf jeder zur Ruhe kommen, ob Patient, Schwester, Arzt oder Besucher. Von 14-17 Uhr täglich gibt es im Café der Stille der Krankenhauskirche den Frieden umsonst – und auch den Kaffee fast: Nur 60 Cent die Tasse, 80 Cent ein Stück Kuchen.
Stille.
Aber manchmal geht es hier auch ganz, ganz anders zu: Orgelklänge erfüllen die Kirche. Oder Choräle, Cello, Harfe, Jazz. Auch Kabarett und Lesungen gibt es. Gottesdienste. Und bis zu fünf Mal im Jahr Ausstellungen, die Wände bleiben niemals leer. In den 20 Jahren seit ihrer Wiedereinweihung ist die Krankenhauskirche ein kulturelles Zentrum für den ganzen Stadtbezirk Berlin-Marzahn/Hellersdorf geworden – und sogar darüber hinaus. Ein Ort, an dem sich Menschen begegnen und gemeinsam am Leben freuen. Ob umgeben von Stille, von schönen Klängen oder Bildern.

Das war einmal auch ganz anders …

Als 1893 die „Anstalt für Epileptische Wuhlgarten bei Biesdorf“ eröffnet wurde, eine parkähnliche Krankenhausanlage mit Aufnahme- und Koloniehäusern, Gutshof und Wirtschaftseinrichtungen, eigener Strom- und Wasserversorgung, Gärtnerei, Werkstätten – bekam sie auch eine Kirche. Die Patienten wohnten und arbeiteten auch hier und blieben oft viele Jahre. Der in der Mitte des 19. Jahrhunderts vom Nervenarzt Wilhelm Griesinger entwickelte Gedanke des Verbindens von Therapie und Milieuwirkung wurde hier verwirklicht.

Mit dem Nationalsozialismus begann das dunkle Kapitel: Die „Vernichtung unwerten Lebens“ machte auch vor dieser Klinik nicht halt. Die meisten Patienten wurden 1941 im Rahmen des Euthanasie-Programmes in Tötungsanstalten gebracht. Bombenangriffe und das Vorrücken der Roten Armee in den letzten Kriegstagen forderten weitere Opfer. Die Anstalt, die nach der Vernichtung der psychiatrischen Patienten als Lazarett und Infektionskrankenhaus diente, war überfüllt mit Flüchtlingen. Innerhalb kurzer Zeit mussten Bombenopfer, Tote aus Infektionshäusern und umgekommene Flüchtlinge beerdigt werden. Dazu hob man ein Massengrab auf dem südlichen Wuhlehang unweit der Hauptallee aus und bestattete dort in den ersten Maitagen 1945 180 Tote. Ein Gedenkstein erinnert daran.

Nach 1950 entwickelte sich die Einrichtung zum modernen neurologisch-psychiatrischen Fachkrankenhaus Wilhelm Griesinger. 1989 erhielt das Krankenhausgelände mit seinen Gebäuden den Status Bau- und Gartendenkmal. 1997 fusionierte das Wilhelm- Griesinger- Krankenhaus mit dem Krankenhaus Kaulsdorf zum „Krankenhaus Hellersdorf“, das später „Vivantes Klinikum Hellersdorf“ wurde (heute an anderen Standorten).

Auch die Kirche wurde im zweiten Weltkrieg stark beschädigt. Danach diente sie als Lagerraum, verkam zu einer Ruine. Denkmalspflegerische Maßnahmen waren der DDR zu teuer. Gottesdienste fanden in einem Kellerraum eines Hauses statt.

Anfang der 90er Jahre begann der Wiederaufbau. Mit finanziellen Mitteln aus Wirtschaft, Bund und Ländern und Eigenmitteln des Wilhelm-Griesinger-Krankenhauses. Am 18. November 1997 fand die feierliche Wieder-Einweihung statt.

Seit 2009 betreibt der Wuhlgarten e.V. die Krankenhauskirche. Für einen symbolischen Euro von Vivantes gekauft durch die „Wuhletal – psychosoziales Zentrum gGmbH“, deren Gesellschafter der Wuhlgarten e.V. ist. Und die IG (Interessengemeinschaft) Kirche, die etwa 20 ehrenamtliche Mitglieder hat – Vereinsmitglieder, Krankenhausmitarbeiter, Seelsorger, Anwohner/innen – gestaltet, organisiert und begleitet das Programm heute.

Garantiert alkoholfrei

Der Sprecher der IG Kirche, Detlev Strauß, war einst selbst Mitarbeiter des Griesinger-Krankenhauses, im Wirtschaftsbereich. Vielleicht liegt ihm auch deshalb dieses historische Kleinod und seine Nutzung so am Herzen. Ihm würde es gefallen, wenn auch Menschen sogar zum Trommeln herkämen oder junge Leute Rock präsentierten. Die Kirche sei ein Raum für Kunst und Kultur, sagt er.

„Unser Uranspruch war und ist: Eine Krankenhauskirche zu sein für Gesunde und Kranke, offen für Patienten, Anwohner, Besucher, Personal. Wir wollen Menschen Raum geben, die soziale Probleme haben und wir wollen Kultur bieten. Neben bekannteren Künstlern bewusst auch regionalen ein Forum geben, auch Laien – und auch zum Beispiel therapeutisch Malenden. Wir gehören keiner Kirche, weder die evangelische noch katholische besitzt uns – aber wir bieten natürlich Gottesdienste an, die von Krankenhausseelsorgern gehalten werden.“

Auch wenn Rock und Trommeln in der Kirche erwünscht wären: Es gibt dennoch gewisse Grenzen, wie das Leitbild des Vereins beschreibt: Betrieb und Nutzung der Kirche orientieren sich im Wesentlichen an der Handreichung „Kirchen – Häuser Gottes für die Menschen“ (Hrsg. Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz 2006). Die Angebote und Veranstaltungen dürfen dem Geist und der Intention der Kirche nicht widersprechen. Dies gilt auch für Mietnutzungen durch Dritte.

So wird kein Besucher, nur zum Beispiel; vor rassistischen, rechten Parolen Angst haben müssen in diesem Gebäude. Und übrigens: Auch trockene Alkoholiker finden hier ihren Schutzraum. „Hier gibt es keinen Alkohol mehr, früher war das anders.“ Auch nicht bei den Ausstellungs-Vernissagen? „Nein. Wir vom Wuhlgarten e.v. bringen Menschen erst gar nicht in Versuchung, sie müssen schon woanders genug Versuchungen widerstehen. Und wenn die Kirche mal vermietet wird: Auch dann nur alkoholfrei. Wir haben ja auch im Personal gefährdete oder betroffene Menschen.“

Und nun noch die übliche Frage, denn die meisten Veranstaltungen sind eintrittsgeldfrei: Wer bezahlt denn das alles, die Künstler, die laufende Fußbodenheizung im Winter und und und?

„Die Betriebskosten übernimmt die Wuhletal gGmbH“, erklärt Detlev Strauss. „Was innerhalb stattfindet, müssen wir selbst finanzieren. Wir bitten um Spenden. Von Fremdnutzern nehmen wir Miete. So liegen wir plus minus null im Jahresdurchschnitt.“

Das scheint zufriedenstellend zu sein, denn schon schweifen seine Augen wieder durch das Kirchenschiff und seine Ohren lauschen vergangenen Konzerten nach und freuen sich auf die künftigen: „Die Akustik ist so toll hier! Wenn Sie hier drin Vivaldi hören, oder das Weihnachtsoratorium, oder die Kausldorfer Kantorei … wunderschön! Wunderschön!“

 

Anja Wilhelm

 

 

Titelthema 5/17: Alkoholismus – Schicksal oder Staatsversagen?

Suchtpolitik

Alkoholismus: Schicksal oder Staatsversagen?

 Mit dem Kanzlerkandidaten Martin Schulz hatte zum ersten Mal ein bekennender trockener Alkoholiker einen Anlauf auf eines der höchsten Staatsämter genommen. Leider hat die Krankheit des Kandidaten aber keinerlei Auswirkung auf den Umgang seiner Partei mit den Themen Alkohol und Sucht. Seine Partei ist nicht allein, sie befindet sich in schlechter Gesellschaft aller anderen Parteien, wie die Antworten auf unsere Wahlprüfsteine in der letzten Ausgabe zeigten.

In Deutschland verhält es sich mit dem Alkoholproblem ähnlich wie mit dem Tempolimit auf den Autobahnen: jeder weiß, dass ein Tempolimit Menschenleben retten, das klimaschädliche CO2 verringern würde usw., kurz, es wäre vernünftig. Aber kein Politiker mit Karrierewunsch würde ernsthaft ein Tempolimit fordern. Autobahnrasen gilt als deutsches Kulturgut, dass der Rest vernünftige Tempobeschränkungen hat, interessiert das Wahlvolk nicht. Als ein weiteres deutsches Kulturgut gilt neben Goethe, Schiller und Bach auch das Saufen. Auch hier gilt: Es verursacht tausende Tote, kostet die Allgemeinheit Milliarden und bringt Leid über Millionen Kinder und, vorwiegend, Frauen in durch den Suff zerrütteten Familien. Ein deutscher Politiker mit Karrierewunsch wird das Problem vielleicht erkennen, aber etwas ändern am deutschen Alkoholproblem wird er nicht wollen, denn dies wäre vorerst das Ende seiner politischen Karriere.

Kampfstern Alkoholoica

Ein Kampfungetüm, vergleichbar mit dem Science-Fiction-Stern, stellt sich ihm in den Weg: Da sind nicht nur der Verband der Deutschen Schnapsbrenner und Schnapsimporteure, es sind deutsche Kulturträger wie der Deutsche Brauerbund („Reinheitsgebot …“) mit tausenden „Kulturschaffenden“ in den Biersiedereien und der Deutsche Weinbauverband mit tausenden Winzern, die die „Kultur“ des Weintraubenverfalls vermarkten. Weitere Teile des Kampfsterns sind internationale „Investoren“ („Heuschrecken“ wurden sie mal genannt), die sich Alkoholkonzerne wie z.B. Anheuser-Bush InBev oder Heineken als Gewinnoptimierer anschaffen, aber auch Lebensmittelkonzerne wie Dr. Oetker verdienen an der Droge Alkohol. Ein weiterer Gegner der einsichtigen Politikschaffenden „ist aufm Platz“, der DFB. Kein Kreisklassenspiel ohne Sponsoring durch den lokalen Bierbrauer, keine Bundesligaspitzenmatch ohne Suff-Sponsor, keine Präsentation eines Fußballspiels im TV ohne alkoholischen Partner. Der Deutsche Fußballsport hängt selber an der Droge Alkohol. In allen Deutschen Bundesligastadien gilt standardmäßig Alkoholverbot, gemäß DFB. Von diesem kann aber durch eine Ausnahmegenehmigung in Absprache mit der Polizei abgewichen werden, diese wird regelmäßig für alle Stadien erteilt, es darf gesoffen werden. Soweit zur Unvereinbarkeit von Sport und Drogen. Auf dem Kampfstern sitzen aber auch noch die Zeitungs- und Zeitschriftenverlage, TV- und Radiosender, die Werbeagenturen, der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband und noch weitere Lobbyisten.

Diese geballte Macht kann schon eine Politiker/innenkarriere auf das Abstellgleis führen, wenn die Forderungen zur Eindämmung der deutschen Alkoholseuche zu konkret werden.

Das Umsetzungsproblem

Spätestens seit 1968 dürfte allseits Klarheit herrschen, Alkohol ist ein krankheitsverursachendes Nervengift, letztinstanzlich wurde vom Bundessozialgericht festgestellt: Alkoholismus ist Krankheit. Aufgrund dessen werden Jahr für Jahr Milliarden Euro zur Behandlung Alkoholkranker ausgegeben. Diese Milliarden werden von allen gesetzlich Versicherten in der Kranken- und Rentenkasse getragen, also einem Großteil der Bürger, behandelt werden aber lediglich etwa zehn Prozent der behandlungsbedürftigen Alkoholiker, mit einer recht bescheidenen Erfolgsquote. Beim Alkohol-Pro-Kopf-Verbrauch liegt Deutschland in der EU regelmäßig auf den vorderen Plätzen. Der Staat versucht, schädliche Einflüsse auf seine Bevölkerung, gerade bei der Jugend, zu verhindern. Keine Schusswaffe ohne Waffenschein, kein hochwirksames Medikament ohne ärztliches Rezept, keine Autofahrt ohne Führerschein … lediglich bei den Volksdrogen Alkohol und Tabak, mit tausenden Todesopfern, herrscht freiheitliches Denken vor. Beim Tabak wurde das Problem erkannt und zaghaft angegangen, da vorwiegend ausländische Tabakkonzerne betroffen sind und die deutschen Arbeitsplätze (Wähler) in der tabakverarbeitenden Industrie weitgehend ins Ausland abgewandert sind. Beim Alkohol scheint es, dass die Politik das Problem auch erkannt hat, die Bundesdrogenbeauftragten mühten sich redlich, die aktuelle Bundesdrogenbeauftragte Marlene Mortler (CSU) hat sich sogar für einen Verzicht auf Alkoholwerbung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgesprochen — warum nur im öffentlich-rechtlichen und nur im Fernsehen? Aber hier geht es um Gewinninteressen deutscher Konzerne und Betriebe von Brauereien, Winzern und Spirituosenherstellern und um deutsche Arbeitsplätze (Wähler), daher besteht wenig Mut, das Problem, ähnlich wie beim Tabak, anzugehen. Es wird allerorten von der Politik die Verhaltensprävention beim Alkoholverbrauch propagiert, die auf das verantwortliche Verhalten des Einzelnen abzielt – „Don´t drink and Drive“, „Alkohol? Kenn Dein Limit“, „Kein Tropfen Alkohol in der Schwangerschaft“ – , das Individuum. Bei Drogen, Waffen und anderen gefährlichen Dingen gilt hingegen die Verhältnisprävention: Werbung für (legale) Waffen oder (legale) verschreibungspflichtige Medikamente ist in der Öffentlichkeit verboten, diese dürfen auch nur in speziellen Geschäften, z.B. Apotheken verkauft werden, beim (legalen) Tabak gelten lediglich Werbeeinschränkungen und die Nikotinprodukte dürfen an jeder Ecke vertickt werden. Begründet werden die Einschränkungen der freien Wirtschaft und des freien Bürgers mit Gefährdung der Allgemeinheit, speziell der Jugend. Wie ist es nach dieser Logik haltbar, dass Jugendliche legal an Alkohol gelangen und umworben werden, Kinder in fast jedem Supermarkt problemlos an Alkohol gelangen, wie vielerlei Testkäufe zeigen? Das durchschnittliche Alter bei Alkoholerstkonsum liegt bei 13,8 Jahren! In allen großen Ländern Europas gilt ein Alkoholersterwerbsalter von 18 Jahren, ob Russland, Polen, Frankreich, Großbritannien, Italien, in Deutschland beginnt der legale Rausch mit 16. Alkoholisierte Autofahrer können (legal) umherfahren, obwohl sich in jedem Betrieb Alkohol und gefahrgeneigte Tätigkeiten ausschließen, tausende Alkoholunfälle mit etlichen Toten werden jährlich dokumentiert.

Häusliche Gewaltvorfälle gegenüber Partnern oder Kindern laufen meist unter Alkoholeinfluss ab. Ein hoher Anteil der Gewaltkriminalität wird unter Alkoholeinfluss begangen oder erlitten. Hier geht es nicht speziell um alkoholkranke Menschen, sondern um Menschen, die „normal“ im Alltag mit Alkohol umgehen.

Ein Erkenntnisproblem gibt es nicht. Fachleute, z.B. der Deutsche Verkehrsgerichtstag, fordern 0,0 Promille im Straßenverkehr, der Deutsche Ärztetag setzt sich für ein Verbot der Alkoholwerbung ein etc. Im Ausland sieht man die Alkoholseuche als gesellschaftliches Problem und geht Alkoholprävention konsequent und erfolgreicher an, z.B. mit Werbeverboten, Mindestpreisen für Alkoholika, Beschränkung der Verfügbarkeit und drastischen Steuern. Apropos Steuern: In Deutschland wird mittels Steuern der Alkoholverbrauch im Sinne der deutschen Alkoholwirtschaft gesteuert. Alkopops, also Fertigmixgetränke aus Spirituosen und Limonaden (ca. 5,5 Vol.%), die vorwiegend von internationalen Konzernen produziert werden, werden mit 55,00 Euro je Liter reinen Alkohols besteuert, (vorwiegend deutsches) Bier (ca. 5 Vol.%) mit 1,97 Euro, (vorwiegend deutscher) Wein mit 0,00 Euro, also gar nicht besteuert. Eine logische Begründung für das Steuerchaos wurde noch nicht vorgelegt, eine Initiative von Finanzpolitikern, zu einer konsistenten Alkoholsteuerpolitik zu gelangen ist mir nicht bekannt und auch für die nächsten vier Jahre nicht zu erwarten. Aber kühler Kopf und Sachverstand ist beim Thema Alkohol weder bei den Alkoholverbrauchern noch bei den Politikern zu erwarten. Denn bei kühler Rechnung müsste man bei einem Gesamtumsatz der Alkoholindustrie in Deutschland im Jahre 2015 von ca. 12 Mrd. Euro (DHS) und Alkoholsteuereinnahmen von ca. 3,2 Mrd. (DHS) Euro bei einem volkswirtschaftlichen Schaden von über 40 Mrd. Euro (DHS) erkennen, dass nicht nur die Trinker, sondern auch die deutsche Gesellschaft ein schlechtes Geschäft macht, denn die Allgemeinheit der Bevölkerung zahlt die Differenz durch höhere Lohnsteuern und höhere Beiträge bei den gesetzlichen Renten- und Krankenkassen.

Nebenbei, es wird gerade ein neuer Markt aufgemacht, da durch die demographische Entwicklung – die Deutschen werden älter und muslimischer – der Alkoholabsatz sinkt, wird demnächst der große Cannabis-Markt legalisiert, Politiker fast aller Parteien sind dafür. Die Hedgefonds reiben sich schon die Finger. Der erste Schritt ist schon gemacht, Cannabis auf Rezept, bezahlt von den Krankenkassen, Frau Mortler jubelt auf ihrer Website „Cannabis: Rund 80 Prozent mehr Verordnungen zwischen März und Mai 2017“ …

Geschätzt etwa 2,5 Millionen Bundesbürger gelten allein als alkoholkrank, die Dunkelziffer ist wesentlich höher. Was würde passieren, wenn diese große Vielzahl an Menschen nicht mehr saufen würde, sondern nachfragen, was die Damen und Herren Politiker sonst so machen, außer mit den Alkohol- und anderen Lobbyisten festlich zu tafeln. Man kann den Eindruck gewinnen, dass in Deutschland der Alkoholverkauf an alle, zu jeder Zeit, an (fast) jedem Ort System hat. Politikerinnen und Politiker in der neuen Regierung sollten sich aber als erstes dafür einsetzen, dass die Droge Alkohol im Gesundheitsministerium und nicht wie z.Zt. auch im Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher angesiedelt wird. Alkohol ist kein Ernährungsmittel oder normales Wirtschaftsgut, es ist ein Nervengift.

Torsten Hübler

Titelthema 4/17: Trockene Freizeit: Was tun?

Trockene haben plötzlich mehr Zeit, aber wie die Leere füllen?

Was wollten Sie denn schon immer mal tun?

Neue Freiräume aktiv zu nutzen hilft, abstinent zu bleiben

Plötzlich ohne den Alkohol zu sein –  das heißt für die meisten Suchtkranken erst einmal, ü b e r leben zu lernen ohne ihn. Wie aber geht es weiter? Wie lernt man wieder, auch zu l e b e n ohne ihn? Und wenn es geht, auch noch zufrieden, gar fröhlich!

In meiner ersten Therapiewoche in der Fontaneklinik fand, wie jeden vierten Samstag, ein Treffen mit Ehemaligen statt. Da stand nun dieser oder jener von ihnen auf und beantwortete Fragen der Patienten. Eine davon lautete: Ist das dann nicht ein sehr, sehr langweiliges Leben, ganz ohne Alkohol? Ein älterer Herr, seit zehn Jahren trocken, schwang sich daraufhin sportlich von seinem Stuhl hoch und begann, diese Frage mit vielen Beispielen enthusiastisch zu verneinen: Er besuche mit seiner Frau einen Tanzkurs, das würde so viel Freude bereiten, das hätte er nie gedacht vorher. Er verbringe viel fröhliche Zeit mit seinen Enkeln und könne das endlich genießen. Er habe begonnen, wieder zu lesen, ins Kino zu gehen und zu radeln … Ungläubige Blicke meiner Mitpatienten rundum. Echt jetzt? Kann man an all sowas Spaß haben ganz ohne Pegel?

Die unzähligen Beispiele langjährig Trockener beweisen es. Natürlich können wir wieder lernen, freudig zu leben. Wenn wir die viele Zeit, die wir einst mit dem Alkohol verbrachten, ob trinkend daheim oder in der Kneipe, dumpf schlafend oder dahindämmernd – als neue Freiräume betrachten. Als Freie-Zeit-Geschenk. Und etwas damit anstellen. Einfach etwas T u n. Uns aktiv beteiligen am Dasein, im Umfeld, mit unseren Fähigkeiten und Talenten. Zwei Beispiele dafür finden Sie in unseren folgenden Textbeiträgen. Und vielleicht für sich auch die Antwort darauf, weshalb aktives Tun – egal ob Stricken, Englischlernen, Schwimmen oder Malen – uns Süchtigen helfen kann, zufrieden trocken zu bleiben …

Anja Wilhhelm


Finden Sie etwas, das Sie richtig gerne machen, denn:

„Sinnvolles Tun“ ist Bedürfnis jedes Menschen

Von Astrid Rave, Ergotherapeutin

Wer ein Hobby oder eine befriedigende Beschäftigung gefunden hat, ist auf dem Weg zu psychischer Stabilität und Zufriedenheit klar im Vorteil. Weshalb?
Kennen Sie das trostlose Gefühl, die Zeit „totzuschlagen“? Langeweile, nichts zu tun, die Uhrzeiger bewegen sich im Zeitlupentempo? Wenn der abendliche Rückblick auf den Tag „eigentlich nichts“ zeigt? Nichts gemacht, nichts passiert – Sie blicken auf „nichts Besonderes“ zurück und fühlen sich unzufrieden?
Oft passiert das Menschen, die mit einem neuen, trockenen Lebensabschnitt beginnen. Der Alltag ist ungewohnt und der Ablauf jedes einzelnen alkoholfreien Tages erscheint zunächst ereignisarm und gleichförmig. Soziale und berufliche Bindungen sind oft zerrüttet, alte Fähigkeiten vergessen und die zentrale Bedeutung einer befriedigenden Beschäftigung ist vielen Menschen nicht bekannt.

Ich bin Ergotherapeutin und erfahre dadurch jeden Tag mehr über die heilsamen Auswirkungen von Tätigkeiten. Ergotherapeuten treten vor allem durch gemeinsames Tun mit anderen Menschen in Kontakt. Sie ergründen gemeinsam mit Ihren Klient*innen deren Fähigkeiten und Interessen, sie informieren, leiten an oder geben praktische und theoretische Hilfen.

Tätigkeiten helfen, den eigenen Selbstwert zu erleben und zu erhöhen.

„Ich kann’s immer noch“, staunt eine Frau in der Beschäftigungs-Tagesstätte, die ewig nicht genäht hat und nun an der Nähmaschine sitzt. Mit anderen zusammen stellt sie Taschen her, die später ausgestellt und verkauft werden. Das macht stolz, denn das eigene Selbstbild hat in den Jahren des massiven Alkoholkonsums sehr gelitten.

Erfolgserlebnisse sind sehr wichtig, wenn die suchtgebeutelte Psyche sich wieder erholen soll. „Ich kann anderen helfen, wenn ich sie zu schwierigen Terminen begleite“ – diese Erfahrung ist ebenfalls ungewohnt. Herr K. fühlt sich selbst als suchterfahrene Person „schwach“ und kann trotzdem durch die unterstützende Begleitungstätigkeit anderen helfen, die sich den Gang allein zum Arzt oder zu Behörden etc. nicht zutrauen. So etwas stärkt das Vertrauen in die eigenen Kräfte.

In meinem Berufsalltag lerne ich immer wieder Menschen kennen, in denen erstaunliche Fähigkeiten „schlummern“: alte berufliche Kenntnisse, besondere Interessen und Talente, Hobbys oder besondere Wünsche, etwas „immer schon mal“ machen zu wollen. Viele entdecken beim praktischen Tun ihre Freude an den unterschiedlichen Tätigkeiten. So entwickelt ein älterer Herr mit umfangreichen Bahn- und BVG-Kenntnissen Freude beim Planen von Gruppenausflügen. Ein künstlerisch begabter Mann initiiert die Gründung einer kleinen Musikgruppe gemeinsam mit anderen interessierten Leuten. Eine Klientin baut begeistert ein Vogelhäuschen, andere kochen gern Marmelade und ein Tagesstätten-Besucher wollte „immer schon“ Mosaike legen – das macht er jetzt seit einiger Zeit mit sehr hübschen Ergebnissen.

Wichtig ist das Aktivsein an sich – der Inhalt der Tätigkeit sollte für die Akteure möglichst befriedigend sein, ist aber zweitrangig

Wer etwas tut, kann eigene Kompetenzen erleben. Manche Beschäftigungen finden „im stillen Kämmerlein“ statt, da sammelt jemand Teddybären oder schöne Steine, andere fotografieren gern oder sind täglich mit dem Fahrrad unterwegs. Ich kenne eine Frau, die bei nächtlicher Schlaflosigkeit stundenlang Mandalas ausmalt. Inzwischen hat sie viele mit sorgfältig ausgemalten kleinen Mustern gefüllte Ordner zuhause, es haben sich mehrere hundert Bilder angesammelt. Auch bei diesen Tätigkeiten erlebe ich, dass ich etwas leiste, etwas lernen oder etwas erschaffen kann.

Viele Beschäftigungen bringen mich mit anderen Menschen zusammen: Sammler*innen stellen aus, tauschen oder verkaufen die Objekte. Auch Fotos können ausgestellt werden, es gibt Fotowettbewerbe und Kurse zum Erlernen neuer Techniken. Radausflüge in Gruppen werden auch im alkoholfreien Selbsthilfebereich gemeinsam unternommen, da können sich Interessierte anschließen. Der Kontakt zu anderen Leuten ist ein wichtiges Bedürfnis, hier helfen gemeinsame Tätigkeiten oder Interessen beim Kontaktaufbau. Wenn Sie zu den Menschen gehören, denen es schwerfällt, andere kennen zu lernen, ist der Weg über gemeinsames praktisches Tun wesentlich erleichtert. Wer zusammen kocht oder gärtnert oder Vogelspinnen züchtet, kommt leicht ins Gespräch. Versuchen Sie es mal.

Jeder Mensch hat das Bedürfnis nach Anerkennung

Gerade die positive Rückmeldung anderer Menschen macht die eigene Tätigkeit besonders wertvoll. „Du hast wirklich sehr lecker gekocht“ oder „ich höre dir sehr gern beim Vorlesen zu“ – das sind Komplimente, die das Selbstwertgefühl wachsen lassen. Oft bemerken Andere Fähigkeiten, die den Akteuren noch gar nicht aufgefallen sind. „Du hättest Schauspieler werden sollen“ hören manche Laiendarsteller plötzlich. „In diesem Bereich hast du wirklich besondere Fähigkeiten.“

Viele Beschäftigungen finden in Gruppen statt, es gibt Theatergruppen, Spielegruppen, Schachvereine, Sportangebote, Kurse zu unterschiedlichsten Themen, Freizeitgruppen, und … und … und. Für viele Menschen ist es wichtig, einer Gemeinschaft anzugehören und sich im Kreis Gleichgesinnter regelmäßig zu beschäftigen. So können sich Talente und Interessen ergänzen, es gibt Kooperationen und Hilfen untereinander. Ein gemeinsames Interesse erleichtert es Neuankömmlingen, in die Gruppe hineinzufinden. Und besonders engagierte Menschen können ja auch selbst eine Gruppe gründen, wenn sie ein besonders seltenes Hobby haben oder für sich keine geeignete Gruppe finden konnten.

Es stimmt, manche Tätigkeiten kosten Geld. Vereine erheben Beiträge, Kurse sind oft kostenpflichtig und zum Ausüben vieler Beschäftigungen muss Material gekauft werden. Die Möglichkeiten einer individuell befriedigenden Beschäftigung sind allerdings derartig vielfältig, dass sich ganz bestimmt für jede und jeden auch ohne finanziellen Einsatz etwas findet. Es gibt die Möglichkeit, kostenlose Kleinanzeigen in kleineren Bezirkszeitungen oder auch hier in der TrokkenPresse aufzugeben. Dort könnten Sie gleichgesinnte „Mittäter*innen“ suchen, nach Räumlichkeiten (z.B. für eine Spielerunde, Entspannungsgruppe, …) fragen oder Menschen suchen, die Materialien (Farben, Wolle, Holz, Stoffe, Werkzeug,…) preiswert oder kostenlos abgeben. Vielleicht findet sich auf diesem Weg ein „Leihhund“ in der Nachbarschaft, der gern regelmäßig mit Ihnen Gassi geht. Oder ein soziales Projekt, welches Unterstützer*innen gebrauchen kann.

Das Gefühl, anderen mit einer Tätigkeit zu helfen, kann besonders zufriedenstellend sein. Der große Bereich der Ehrenämter bietet hier zahlreiche Möglichkeiten, für alle Interessierten eine geeignete Beschäftigung zu finden: Manchmal sind es nur ein oder zwei Termine in der Woche, die eine Struktur in Ihren Alltag bringen und das erfüllende Gefühl, „etwas helfen zu können“, mit den eigenen Fähigkeiten gebraucht zu werden. Über Ehrenämter in Ihrer Nähe informieren Ehrenamts-Börsen, Freiwilligenagenturen, das Internet, viele Netzwerke in den Bezirken und berlinweit der „Tag des Ehrenamtes“ mit großer Börse am Roten Rathaus.

Wir alle sind neugierig und können auch im höheren Alter noch Neues erlernen

Mit meinem Artikel möchte ich Ihnen Mut machen, entweder alte Fähigkeiten wieder „auszugraben“, sich auf Ihre Neigungen und Talente zu besinnen oder sich eine für Sie geeignete ganz neue Beschäftigung zu suchen. Was haben Sie früher gern gemacht? Was wollten Sie immer schon mal ausprobieren? Welches Hobby könnte Ihnen Freude machen?

Es geht darum, dass Sie etwas tun. Befriedigende Beschäftigungen helfen jedem Menschen dabei, sich psychisch stabil zu fühlen und sich selbst als aktiv zu erleben. Probieren Sie es aus, unbedingt auch regelmäßig über einen längeren Zeitraum – Sie werden sehen, dass sich eine erfüllende Tätigkeit positiv auf Sie auswirkt.


ADV-Elefanten-Cup 2017 – und noch mehr

„Wir sitzen alle im selben Boot“

Diese Redewendung passt wortwörtlich. Klitschnass fühlt sie sich auch noch an in diesem Falle. Nach Drachenboot eben … Seit 18 Jahren findet in Berlin der Elefanten-Cup statt, der Drachenbootwettkampf des Anti-Drogen-Vereins e.V. Ein großes Fest, an dem ca. 30 Teams teilnehmen. Sie nennen sich Lagonauten, Fontanisten, Spittler, Fit ohne Sprit usw.. Allen gemeinsam ist: Sie treten abstinent an (und beenden so natürlich auch den Tag!) und starten für Suchtkliniken, Suchthilfevereine, Gesundheitsämter. Die meisten Teilnehmer sind trockene und cleane Menschen. Jeder kann mitmachen, ob dick oder dünn, jung oder älter, Liegestützheld oder nicht.TrokkenPresse-Redakteurin Anja Wilhelm wollte diesmal genauer wissen, was da so los ist. Und, eingeladen ins Team von Klärwerk e.V. zum Training, auch herausfinden: Was macht gemeinsamer Sport mit einem Suchtkranken? Kann er irgendwie vielleicht sogar dabei helfen, trocken zu bleiben?

Bisschen paddeln. Aaach, das werde ich schon schaffen. Dachte ich zumindest v o r dem ersten Training …

Regattastrecke Grünau. Hier dürfen sich die Klärwerker seit drei Jahren vorbereiten auf den Cup. Jeweils sechs Mal ab Juni für eine Stunde. Ohne Hilfe wäre das nicht möglich, zu teuer. Aber: Die event-Agentur „Starke Teams“ stellt das Boot. Und ehrenamtlicher Trainer ist seitdem „Hase“ Karsten Haseloff von den Wann-Sea-Dragons, die mehrfach Vizewelt- und Europameistertitel gewannen.
Wir sind 14 Leute. Regina, Nina, Susanne, drei Andreasse, Frank, Holger … ich kann mir nicht alle neuen Namen und Gesichter merken. Aber das wird später noch. Und: Alle sind wir trocken und clean.

Wie steigt man in ein 12-Meter Boot, ohne dass es kentert? Wir beginnen vorne, besetzen Bank für Bank. Zuerst die Erfahrenen, hinten dann die Neulinge wie ich. Es kippelt, schwankt. Die Sitzbänke sind schmal und hart. Und wohin nur mit den Füßen? Paddeleinweisung von Zweimeter-Mann „Hase“: Wie hält man das Stechpaddel? Wie bewegt man es durchs Wasser? Wie bewegt man sich selbst mit?

Dann legen wir ab. Die Kommandos kommen von hinten geröhrt. Da steht Hüne Hase am Steuerruder, seine Stimme schallt bis zur ersten Bank vorne. Die dort sitzen, sind die Schlagleute. Wir, alle hinter ihnen, machen, was sie tun. Gemeinsamen Schlag zu halten sei das A und O.

Nach den ersten 1000 Metern denke ich das erste Mal, ich kann jetzt nicht mehr weiter … Puste raus, Arme zittern. Aber ich sehe 12 Rücken vor mir, die sich im Takt nach vorne biegen. 24 Arme, die Paddel einstechen, durchziehen. Das Wasser platscht, spritzt, gluckst dazu. Ich höre Stöhner zwischen dem gemeinsam gebrüllten Takt Eins! Zwei! Drei! … Pausieren, wenn andere schuften? Das wäre unfair. Also Zähne zusammenbeißen. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Nur an Paddel und Wasser und ziehn. Immer weiter. Plötzlich Kommando: Boot stoppen! Hase steigt bis zu mir über Bänke: „Guck mal, so gehts: Hintern ganz an den Bootsrand, Paddel nicht drehen, und nur bis in Hüfthöhe durchs Wasser ziehen. Nach vorne gucken, zum Schlagmann, nicht aufs Paddel!“ Aha. Danke!

Und weiter. Eins. Zwei. Drei … Im Takt der Schlagmänner vorne. Sehr ungewohnt für mich, eigentlich würde ich lieber meinen eigenen Rhythmus nehmen. Aber wo kämen wir dahin allesamt? Wasserkreisel auf der Dahme … Ich begreife langsam: Darauf kommt es an. Es kommen nur alle gemeinsam mit dem Boot voran, wenn man sich dem gemeinsamen Takt beugt. Zeitweise Freiheitsberaubung zugunsten aller sozusagen.

Über die ganze Regattastrecke hallt unser Takt-Schlachtruf. Andere Paddler zeigen Daumen hoch und grinsen. Heiser werde ich langsam. Schweiß mischt sich mit ausgiebig Dahme-Wasser.

In den kurzen Verschnaufpausen einen Blick für die Götter haschen: Rundum sonne-glitzerndes Wasser, Fischreiher über unseren Köpfen, weit hinten taucht das Ufer-Grün in den hohen blauen Himmel ein. Durchatmen … Bis zum wie immer markigen Hase-Spruch: „So Leute, jetzt noch die 500 Meter bis nach Hause! Los, damit uns nicht die Eierstöcke abfriern … Und wer morgen keinen Muskelkater hat, hat heute was falsch gemacht!“

Ersticktes, stöhnendes Kichern. Gemächliches Paddeln zum Steg. Ich schaue rundum, alle sind erschöpft. Die Shirts kleben klatschnass am Körper, die Haare wirr und feucht, und die Augen leuchten. Gegenseitig helfen wir uns aus dem Boot. Alle scheinen glücklich und zufrieden. Fröhliche Auswertung des Trainings, Sprüche, Lachen. Adrenalin und Endorphine wirken. Bei mir auch. Fast schwebe ich zur Straßenbahn, trotz weicher Knie und Arme. Erfrischt von grüner Luft, Wasser, Bewegung, Sonne und – Gemeinschaft. Wir haben zusammen etwas geschafft … dasselbe Boot 3000 m über die Dahme bewegt. Ohne zu kentern.

Nur zusammen seid ihr stark!

Die nächsten Trainings verlaufen ähnlich. Zusätzlich üben wir das schnelle Paddeln, das wir für die Sprintlänge 250 Meter beim Wettkampf brauchen. Und den Start. Immer kommandiert von Hase, er hält uns im Takt und bei mentalen Kräften: „Mal alle her hörn: Das internationale Startzeichen ist All your ready? Attention: GO! Und wir machen los, und das nicht erst beim O! Der Start ist das Wichtigste, sonst schaut ihr nur noch hinterher. Ach ja: Gegner gibt’s nicht! Es gibt nur Opfer!!!“ Motivation a la Hase.

Natürlich haben wir nicht immer nur Friede-Freude-Eierkuchen an Bord … Mal ein Aua für das versehentliche Paddel des Hintermannes im Rücken. Mal ein Sorry für einen Wasserschwall Richtung Vorderfrau. Und mal überlege ich, wie weit der Teamgeist geht: Meine Vorderfrau zieht ihr Paddel zu weit nach hinten zu mir. Es ist mir oft im Weg, deshalb kann ich den Takt nicht halten. Sag ich es ihr? Und wenn ja, wie? Grübel grübel. Ich bitte sie dann wirklich, das zu verändern, ganz lieb und vorsichtig. Im Interesse des ganzen Teams, denke ich mir. Sie ist tatsächlich nicht sauer und achtet dann darauf.

„Nur zusammen seid ihr stark!“ Das hören wir so oft, das geht ins Blut über. Karsten Haseloff, für den dieses Training sein persönliches Charity-Projekt ist, wie er sagt, meint: „Beim Drachenbootsport lernt man, dass man nur im Team was erreicht, wenn alle mitziehen.“

 Der Cup 2017

Wassersportheim Gatow an der Havel. Auf der großen Wiese bis hinunter an Wasser und Steg blitzt kaum mehr ein Stück Grün: Mannschaften haben ihre Pavillons aufgebaut. Darunter Ausruh-Decken, Handtücher, Getränkekisten (alkoholfrei!), Kühlboxen mit Obst, Stullen, Hackbällchen, Salaten. Familienangehörige sind da, Kinder lachen, Hunde bellen. Das Haus Lenné brutzelt und kocht Leckeres wie Champignonpfanne, Asianudeln, Würste, Fleisch – preiswert verkauft zum Selbstkostenpreis. Vom Wasser schallen Anfeuerungschöre von Mannschaftsfreunden. Und über allem hallt die Stimme des Diskjockeys, der nicht nur die Teams zum Start bittet, sondern auch die Mugge aufgelegt: Für jeden Geschmack etwas dabei. Getanzt wird, wo gerade Platz ist. Einfach so. In purer Freude. Ohne jeglichen Alk. Wohl aber mit Vorglühen: Von der ab Mittag endlich strahlenden Sonne und Wettkampf-Fieber. Teams stecken die Köpfe zusammen, werten aus, vergleichen Zeiten. Im Klärwerk-Team werde ich heute eine Position nach hinten platziert, weil ich beim Training am Vortag unkonzentriert war. Das knabbert mir etwas am Selbstwert, aber ich lasse das Ego ziehen: Es geht ums Team. Und Nina, Co-Organisatorin, ruft nochmal alle auf: „Haltet diese paar Minuten zusammen. Egal ob ihr euch gerade lieb habt oder nicht!“

Nach drei 250 Meter-Zweikämpfen dann unser Ergebnis: Mittelfeld. 16. Platz.

Traurig kann darüber niemand recht sein, am Ende dieses sportlichen, ausgelassenen Tages: Es war ein wundervolles Fest, das alle Beteiligten klaren Geistes und mit allen Sinnen genießend verlebt haben: Unter Gleichgesinnten.

Ach so, ja, die Frage eingangs …

Mein Fazit: Sich zu bewegen, aktiv zu sein, kann Freude bringen. Das Gefühl von Lebendigsein. Und wenn man dies noch in einer Gruppe tut mit einem gemeinsamen Ziel, verstärkt sich dieser Effekt anscheinend. Das Tun wird zum sogenannten Flow (Mihaly Csikszentmihalyi, „Flow-Das Geheimnis des Glücks“), in dem für Gedanken an Gestern, Morgen, an Job oder familiäre Sorgen gar keine Zeit und Gelegenheit ist. Das Selbst ist ausgeschaltet. Man geht ganz auf in dem, was man gerade tut. Das kann auch Abstand schaffen von Problemen. Und so neue Lösungen ermöglichen. Und wenn man eigene Fähigkeiten entdeckt und nutzt – und auch durch die Anerkennung in der Gruppe wächst das Selbstwertgefühl. Wir entdecken die Freude am alkoholfreien Dasein. So zumindest hab ich es erlebt …

Anja Wilhelm

 

Titelthema 3/17: Wellenreiten mit dem Suchtdruck

Vorgestellt: MBRP als neues Rückfalltraining

Wellenreiten mit dem Sucht-Druck

Wie kann ich einen Rückfall vermeiden?

Diese Frage ist für jeden Alkoholkranken eine Überlebensfrage.

Inzwischen gibt es Trainingsprogramme in Suchtkliniken und Ambulanzen, um zu lernen, gar nicht erst in Rückfallsituationen zu geraten – oder besser mit ihnen umgehen zu können. Seit vielen Jahren wird dafür das Rückfallpräventionstraining S.T.A.R. genutzt. Es bietet u.a. Übungen zum Erkennen und Bewältigen von persönlichen Risikosituationen an, zum Umgang mit Gefühlen und Verlangen.

Seit einiger Zeit aber verbreitet sich auch eine weitere Methode: Die Achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention, MBRP (Mindfulness-based relapse prevention). Genutzt wird sie, oder Elemente daraus, in immer mehr Kliniken, wie zum Beispiel den salus-Kliniken, der AHG Klinik Tönisstein, den Helios Kliniken, der Asklepios Klinik Hamburg u.a. Bisher gibt es zwar nur empirische Erkenntnisse über die Wirksamkeit, die aber lassen vorsichtig daraufhin deuten, dass die Rückfallquoten der Teilnehmer niedriger seien als bei Nichtteilnehmern, das Craving (Verlangen) reduziert sei und im Verlaufe eines Jahres weniger Tage mit Substanzkonsum stattfänden.
Entwickelt von Marlatt (Bowen, Chawla, Marlatt, 2012), verbindet MBRP bisherige Ansätze zur Rückfallprävention mit Meditationspraktiken. Laut Marlatt sei meditative Achtsamkeit eine der nützlichsten Bewältigungsfertigkeiten bei Suchtmittelverlangen. Die Teilnehmer lernen verschiedene Übungen kennen, z.B. die Rosinen-Übung, Geh-Meditation, Sitzmeditation, body-Scan, sober space, urge surfing (Erläuterungen ab S. 3). Das Ziel: Zunächst einmal den Körper bewusst wahrnehmen zu lernen. Weshalb? Die TrokkenPresse wollte genauer wissen, was MBRP bedeutet und bringen kann. Wir haben dazu mit Christiane Bock gesprochen. Sie arbeitet bei vista (Verbund für integrative soziale und therapeutische Arbeit) als Heilpädagogin in der Suchtberatung Pankow. Und als zertifizierte MBSR-Lehrerin gibt sie auch MBRP-Kurse und Achtsamkeitsworkshops in der KBS Mitte von StadtRand gGmbH in Moabit. Ihr Projekt heißt „Berlin Sucht Achtsamkeit“.

Draußen vorm Café „Frau Krüger“, am Mauerpark in Berlin Prenzlauer Berg. Amseln singen heiter aus ihren Straßenbäumen. Der Tee kommt, in hohen Gläsern. Und schon nähern wir uns dem Thema MBRP an. Denn Christiane Bock bittet zu einer kleinen Übung. Eigentlich würde ich jetzt einfach die Tasse nehmen und einen Schluck nehmen … aber halt: Einmal bitte mit der Hand das Glas umfassen. Kannst du Glas und Wärme fühlen? Jeden Finger einzeln spüren? An manchen Stellen ist es vielleicht ein bisschen heißer? Und welche Farbe hat der Tee? Meiner ist golden. Und dann mal dran riechen …

Achtsamkeitserfahrungen fangen ja bei den Sinnen an, sagt Christiane Bock. Sich Zeit zu nehmen, die Sinne zu benutzen, das Schmecken, Riechen, Hören, Fühlen, Sehen … sich das erstmal überhaupt bewusst zu machen. „Und das setzt sich den Kurs über – einmal zwei Stunden jede der acht Wochen – fort, diese Sinne stehen im Vordergrund, dazu gibt es bestimmte Übungen, Meditationen.“

Hmm. Was hat diese Tee-Übung nun mit Rückfallprävention zu tun?

Achtsamkeit (mindfulness) ist ja, den Fokus darauf zu richten, was eigentlich gerade los ist mit mir. Gedanken, Körperempfindungen, Gefühle wahrzunehmen, mitzukriegen. Wie fühle ich mich gerade in meinem Körper, welche Gedanken beschäftigen mich gerade. Und das ist der entscheidende Moment für die Rückfallprophylaxe: rechtzeitig mitzubekommen, wenn etwas kippt, wenn ich anfange, mich unwohl zu fühlen, in Situationen reinschlittere, die eine Gefährdung für mich sein könnten. Da reagiert der Körper schon, ohne dass uns das manchmal bewusst ist, Gefühle manifestieren sich häufig zuerst über den Körper. Da kann ich, bevor meine Gedanken –  wenn ich das Fühlen mehr trainiere – ein Unwohlsein früher bemerken. Durch bestimmte Übungen wie z.B. den Bodyscan, die das Körperempfinden schulen, kann ich früher bemerken, wenn etwas nicht stimmt.

Bodyscan?

Bodyscan ist eine formale Übung, kurz gesagt, geht man mit der Aufmerksamkeit, angefangen bei den Zehen, durch den ganzen Körper. Es geht darum, meine Aufmerksamket, meine Konzentration zu schulen, indem ich meine Aufmerksamkeit immer wieder auf den Körper richte, mich immer wieder neu fokussiere. Der andere Aspekt ist, vom Kopf/Verstand in den Körper zu kommen und all dem, was sich zeigt, mit einer offenen, freundlichen Haltung gegenüberzutreten, es anzunehmen, denn es ist ja schon da.

Was könnte man denn beim Bodyscan so fühlen, wahrnehmen?

Genau das, was du wahrnimmst …

Weshalb ist das so wichtig für Suchtkranke?

Menschen mit Suchterkrankungen haben meist ein sehr gespanntes Verhältnis zum Körper. Er wird stiefmütterlich behandelt oder vernachlässigt. Der Körper ist der Austragungsort, das Schlachtfeld. Ein Ort, wo Trauma, Verletzungen geschehen sind. Viele gehen deshalb lieber weg von ihrem Körper, weil das so ein schwieriger Ort für sie ist. Aber um vollständig zu sein, brauche ich ihn, er ist unsere Heimstatt, ich kann ihn nicht vollständig abspalten. Der Bodyscan ist eine Möglichkeit, den Körper wieder neu zu erfahren, eine Möglichkeit der Integration von schwierigen Empfindungen. Ganz wichtig: meine Haltung von Freundlichkeit mir gegenüber. Das müssen viele erst lernen. Und auch das: Alles darf sein, es gibt kein richtig und kein falsch beim Bodyscan, es gibt das, was da ist, und das anzunehmen wird geübt.

Im Vergleich zum klassischen Rückfallpräventionstraining (RPT), in dem mögliche gefährliche Situationen durchgespielt werden: Was ist anders bei MBRP?

Die meisten wissen, was ihnen nicht gut tut, was sie in Notsituationen tun müssen. Der Punkt ist nur, dass sie trotzdem manchmal schnell in solch eine Situation reinrutschen können, also den Moment mehr oder weniger verpassen, wo es vielleichtes sinnvoll gewesen wäre, anders zu handeln. Denn man kann immer noch handeln. Das ist ganz wichtig für mich in dem Programm zu vermitteln: Ich habe immer die Möglichkeit, es ist nie zu spät … auch im Rückfall kann ich mich entscheiden, den Rückfall zu beenden. Der Rückfall muss nicht die Katastrophe sein, ich kann immer wieder neu anfangen, jeden Tag kann ich wieder neu anfangen. Das ist etwas, was auch mit der Meditation so geübt wird: Ich schweife immer wieder ab, das ist ganz normal, verliere ich mich in Gedanken und gehe immer zurück wieder auf meinen bodyscan. Ich kann mich immer wieder neu fokussieren. Oder bei der Atemmeditation: Verliere ich den Fokus auf meinen Atem, gehe ich immer wieder hin, ich kann immer wieder zurückkehren. Das ist das, was bei diesem Programm sehr gestärkt wird. Ich kann neu beginnen.

Was ist noch anders?

Ein anderer wichtiger Punkt ist dieser Raum, dieser Entscheidungsraum zwischen Reiz und Reaktion, der sich erweitert. Wir gleiten ja oft in unsere alten Muster hinein, ohne bewusst zu entscheiden. Aber es gibt diesen Raum. Wir haben nur das Gefühl, dass Auslöser/Reiz und Reaktion zusammenkleben. Diesen Entscheidungsraum zu erweitern übt z.B. sober space, eine Kernübung im Programm. Da übe ich, Raum zu schaffen, indem ich mich erst mal entscheide: Ich halte jetzt inne. Ich mache jetzt mal ne Pause, einen Stop. Ich schaue, wie geht es mir gerade, checke Gedanken, Gefühle, Körperempfindungen. Dann wende ich meine Aufmerksamkeit auf meinen Atem, um ihn zu beobachten, ein paar Mal durchzuatmen. Damit bin ich schon mal im Hier und Jetzt, raus aus den Gedanken, die ich gerade habe. Dann wende mich dem ganzen Körper zu, und schau mal, ob ich alles, was sich da jetzt so zeigt, in dieser offenen Art halten kann … und ob ich in der Lage bin, aus diesem Halten heraus eine Entscheidung zu treffen, die für mich im Moment gerade richtig ist. Eine Minute, fünf Minuten, wann und wo immer man möchte, kann man das tun. Ich habe einen Raum zwischen dem anfänglichen Unbehagen, wo ich merke, irgendwas stimmt hier nicht, und der Reaktion. Das wird geübt und dann erweitert auf Risikosituationen.

Und noch etwas: Es geht bei MBRP nicht um Vermeidung von Suchtdruck oder Situationen. Das ist zwar für viele ein sehr wertvoller Ansatz, damit können sie umgehen. Das kann aber auch die Lebensqualität einschränken, wenn ich immer wieder etwas vermeiden muss, den Sachen aus dem Weg gehen muss. MBRP lehrt, wie ich damit umgehen kann, lehrt, mich hinzuwenden, mit Neugier …

Dem Suchtdruck hinwenden, wie geht das denn?

Eine Übung dazu ist das Wellenreiten (urge surfing). Alles wird mit einer Art Neugier betrachtet, auch mein Verlangen, das auftaucht: Ah, da ist Verlangen! Wie fühlt sich das an …? Welche körperlichen Erfahrungen mache ich, welche Gedanken sind da. Ich führe dann die Kursbesucher durch eine Imaginationsübung. Sie stellen sich vor, sie befinden sich auf einer Welle. Und der Atem ist mein Surfbrett. Das Suchtverlangen ist die Welle und diese Welle läuft irgendwann auch wieder aus. Die Angst von vielen ist ja, dass sich der Suchtdruck steigert und steigert und sie nicht wieder runterkommen. Aber die Realität sieht anders aus. Das Craving kann abebben, wenn ich es nicht nähre mit Gedanken und Ängsten – sondern stattdessen versuche, eine Beobachterposition einzunehmen, eine andere Perspektive. Ich bleibe auf der Welle mit Hilfe meines Atems, gehe NICHT unter und die Welle ebbt ab. Das wird geübt. Das zu verstehen, hilft vielleicht dieses Bild: Ich setze mich v o r die rotierende Waschmaschine, die voll mit meinen wirbelnden Gefühlen ist. Ich sitze nicht mit drinnen. Sondern davor und gucke hin … Praxis hilft, sich das immer wieder anzuschauen, was passiert mit mir, mit meinem Atem, dem Körperempfindungen und das aus einer Beobachterposition heraus – und trotzdem in der Beziehung mit meiner Erfahrung zu bleiben.

Nach und nach wird man feststellen: Ich muss eigentlich weniger machen. Ich muss eigentlich nichts tun. Wir sind ja alle so konditioniert, wir müssen immer was tun, mehr, besser werden und wenn ich mich mehr anstrenge, gelingt es mir, abstinent zu bleiben, ich muss mich nur noch mehr anstrengen. Nee, für mich ist es umgekehrt. Loslassen, Weniger-machen, mich dem zuwenden und mal nix machen. Und dann kann die Welle auslaufen. Eine Emotion dauert normalerweise, wenn ich nix damit tue, sie sein lasse, zwischen einer bis zwei Minuten, dann geht sie wieder …und dann ist Raum da für eine neue Erfahrung.

Das könnte ja auch helfen, wenn schwierige Situationen auftauchen, in denen ich früher trinken „musste“ – zum Beispiel, wenn ein gelber oder ein Behördenbrief kam?

Ja. Aus der o.g. Beobachterposition heraus kann ich betrachten: Oh, da ist jetzt der Brief da. Was macht es mit mir, da steigt vielleicht Panik auf, kommen Gedanken wie Sorgen, Angst, ich spinne die Geschichte weiter, grübele. Ich bemerke: Ah, das ist ein Muster, ist eine alte Geschichte. Ich hab aber die Möglichkeit, anders zu reagieren und muss nicht automatisch saufen, um das zu bewältigen, weil ich ja schon die Erfahrung gemacht habe, dass es anders geht.

Womit wir uns auch beschäftigen, sind alte Muster, Glaubenssätze, denen wir auf die Schliche kommen, Selbstbilder von mir, die ich habe, z.B. „Ich kann das nicht, das schaffe ich nie, das war schon immer so“. Das taucht oft in der Reflektion zu den Übungen auf.

Wem bringt MBRP etwas? Wirkt es bei jedem?

Das Entscheidende ist die Eigenmotivation und die Bereitschaft, auch wirklich hingucken zu wollen, und auch das Interesse an Achtsamkeitsmeditation und dem Abenteuer, dem eigenen Geist zu begegnen. Besonders zu empfehelen als Nachsorgebehandlung. Nicht zu empfehlen ist MBRP bei aktuellem Konsum, Psychosen und unbehandelter PTBS.

Gerade jetzt, nach fast zwei Stunden bei Tee und ohne Zigarette, habe ich „Rauch-Druck“! Was tun?

Wo ist die Körperempfindung zum Gedanken: Ich möchte rauchen? Bei mir saß sie früher hier, unter dem Brustbein …

 Ja, Moment … so ähnlich, ein leichter Druck … ich nehme jetzt nur das wahr, lass es so … nicht nachdenken … es vergeht gerade wieder langsam … Jedenfalls für den Moment jetzt.

Das ist genau d a s: Wenn ich keine Energie hineingebe … ist das nur ein Gedanke, eine Körperempfindung, ich nehme es zur Kenntnis, das ist der Moment vorm Loslassen, und dann lass ich es gehen.

Das Interview führte Anja Wilhelm

 

Nächste Termine:

„Wie wir uns trotzdem wohlfühlen können“, Workshop für Frauen mit achtsamer und trauma-sensibler Körperarbeit

  1. September 2017, 10-15 Uhr, Selbsthilfe- Beratungs-und Kontaktstelle Mitte, Perleberger Straße 44, Berlin-Moabit: In Bewegung kommen – uns spüren – genießen und in Stille sein – annehmend und akzeptierend mit unserer ganzen Verletzlichkeit und unserem unerschöpflichen Potential

Auf Spendenbasis – Erlös geht an die Frauenrechts- und Hilfsorganisation Medica mondiale e.V.

Infoabend MBRP

  1. Oktober 2017, 18-19.30 Uhr, Selbsthilfe-Kontakt-und Beratungsstelle Mitte s.o.

Berlin

Neuer Kurs MBRP

  1. Oktober bis 18. Dezember, montags 17-19.15 Uhr

Anmeldung für alle Termine:

Tel.: 030/ 3946364

Mail: kontakt@stadtrand-berlin.de

www.berlinsuchtachtsamkeit.de

Titelthema 2/17: Wie wird man zufrieden abstinent?

Die Grundlagen einer dauerhaften, zufriedenen Abstinenz

Von Christian Wossidlo

Wie immer bei solchen Themen berichte ich von meinen eigenen Erfahrungen und Überlegungen. Natürlich beziehe ich mit ein, was ich von anderen höre oder bei ihnen erlebe. Aber meinen Aussagen liegen keine wissenschaftlichen Studien oder Untersuchungen zu Grunde. Ich schreibe „aus dem Bauch“ und durchaus auch mit Verstand.

 I Erste Grundlage oder Voraussetzung ist die Fähigkeit zur Zufriedenheit überhaupt.

 Wir kennen alle diese skeptische, nörgelige, im Voraus schon abwertende und miesmachende Art mancher Menschen:„Was soll denn daran schon gut sein? Wie das schon aussieht?“„Hier wird man doch immer beschissen!“„Da ist doch alles voller Mücken und Wespen!“„Dieser ausländische Fraß schmeckt doch sowieso nicht.“„Wie soll man denn hier schlafen können?“
Natürlich schmeckt es in dem Restaurant nicht! Natürlich schläft man schlecht! Natürlich sind da viele Mücken! Wenn man schon mit solcher „Stimmung“ an eine Sache heran geht, kann es nicht gut werden.
Zufriedenheit ist auch eine Charaktereigenschaft. Aber man kann dafür auch etwas tun, man muss nicht als Miesmacher durchs Leben „nölen“. Sonst kannst du das Wort „Zufriedenheit“ aus deinem Wortschatz streichen und damit auch die zufriedene Abstinenz.
Ich konnte mir, als ich begann, auf die Abstinenz hinzuarbeitete, nicht vorstellen, dass da je eine Zufriedenheit zu erreichen ist. Im Großen und Ganzen bin und war ich ein zufriedener Mensch, aber eben auch ein Alkoholiker, ein Abhängiger. Wie kann ich ohne den Stoff zufrieden sein!
Heute weiß ich, man muss der Zufriedenheit eine Chance geben, wenn man sie haben will.
Ich betone das am Anfang so, weil ich heute eine Abstinenz erlebe, die mich sehr zufrieden sein lässt. Ich glaube sogar, in Unzufriedenheit ist sie gar nicht durchzuhalten. Unzufriedenheit programmiert das Scheitern oder macht zumindest die Gefahr des Rückfalls in die alten Muster sehr wahrscheinlich.

II Die zweite Voraussetzung ist – und das klingt wie selbstverständlich –, dass man aufgehört hat, zu saufen.

Es ist es auch, sollte aber doch betont und genannt werden, denn es gibt ja immer wieder diese Narren, die meinen; na, ja, mal mit anstoßen, das wird man ja wohl dürfen.
Ja, man darf es. Man darf alles als freier Mensch in einem freien Land. Aber man sollte wissen, was man tut, und obige Haltung ist absolut tabu für den Beginn einer Abstinenz. Und nach dem Beginn dann ohnehin. Rien ne va plus!

III:) Das Dritte sind zwei Punkte, die an Wichtigkeit gar nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Die Überschrift ist: Kopfsache!

Ich vertrete die These: Abstinenz ist eine Kopfsache, und zwar doppelt.

-Ich muss mir immer wieder einhämmern: Ich will nicht mehr trinken! Ich will nicht wieder zurück. Ich will trocken sein. Ich will, ich will!!!
-Ich muss begriffen haben und es mir immer wieder sagen: Ich kann nicht gegen den Alkohol an. Er ist mir über. Ich kann es nicht. Im Fachjargon nennt man das Kapitulation!
Es ist nicht nur mir schwer gefallen, zugeben zu müssen, dass ich es nicht kann. Ich bin doch sonst so tüchtig. Dem Alkohol gegenüber bin ich ein Versager!
Ich weiß, die Versuchung lauert, es nicht wahrhaben zu wollen oder Ausreden zu suchen, Schuldzuweisungen zu finden … alles Sackgassen oder schlimmer noch, Wege in den Absturz.
Ich kann nicht mit Alkohol leben! Ich will es auch nicht mehr!
Das muss im Kopf verankert sein.

IV.) Der nächste Schritt ist: Diese „Kopfsache“ muss zum Lebensgefühl werden, sie muss auch „Bauchsache“ werden.

Ich fühle mich wohl ohne Alkohol.
Ich fühle mich wohl, wie es jetzt ist. Es soll so bleiben. Alkohol? Was ist das?
Dies alles zu Wege zu bringen ist Arbeit. Es passiert nicht von heut auf morgen. Das Saufen hat auch klein angefangen, warum sollte es beim Trockenlegen anders sein?
Für diese Arbeit, mein Denken neu auszurichten und in der neuen Richtung zu stabilisieren, und mein Fühlen auch umzukrempeln und so Abstinenz zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen, dass es auch durchsickert in mein „Unterbewusstsein“ und zum „Bauchgefühl“ wird, für diese Arbeit haben wir Werkzeug.

  1. Erinnerung an den Tiefpunkt, d.h., dieses Gefühl, am Ende zu sein, nicht mehr zu können, die Verzweiflung, die dabei mitschwingt, die Scham darüber, was man seinen Partnerin und Kindern angetan hat – das alles nicht zu vergessen. Statt dessen sich zu erinnern, aber nicht, um sich selbst zu demütigen nach dem Motto: das war doch eine Schande, sondern einmal sich zu erinnern mit dem Zusatz: Das will ich nie wieder haben, und sich zu erinnern, dass der Entschluss, der aus diesem Tiefpunkt erwuchs, nicht mehr zu trinken, eine Heldentat war. Vielfach sogar die beste und folgenreichste im positiven Sinne, die man je getan hat. Steh zu deinem Tiefpunkt und vergiss ihn nie!
  2. Offenheit ist ein wichtiges Werkzeug. Ich schütze mich selber, wenn ich mit der Krankheit offen umgehe. Es schützt mich davor, in versuchungsträchtige Situationen zu geraten. Offenheit hat nichts zu tun mit „bloßstellen“, sondern zeigt die Ehrenhaftigkeit der Abstinenz.
  3. Wachsamkeit für das, was alles so angeboten wird: Mixgetränke, Saucen, Torten, Pralinen etc. Nicht, dass eine Kognakbohne einen von uns umwerfen würde! Es geht hier auch um Ehrlichkeit gegen sich selbst und andere. Es geht ums Prinzip: keinen Alkohol mehr. Wachsamkeit auch in der Richtung, auf welche Gesellschaft ich mich einlasse. Vatertagsausflüge muss ich mir nicht antun, und Bruderschafts- und Schwesternschaftstrinken auch nicht. Den Kuss ja, den Schnaps oder Sekt nein.
  4. Den Genussmenschen in mir zufriedenstellen. Alkohol ist ein Genussmittel, auch ein Beruhiger, ein Schönfärber, ein Aufheiterer, ein Stimmungsmacher. Wo finde ich jetzt meinen Genuss, das Schöne, was macht mich ruhig, was macht mir Freude und heitert mich auf, bringt mich in eine gewünschte Stimmung? Theater? Kino? Schokolade? Tanzen? Bücher? Spielen? Spazierengehen? Sport, aktiv oder auch passiv? Fotografieren? Chorsingen? Es gibt so viele Möglichkeiten, zu genießen. Genusspunkte sammeln als neue Lebensaufgabe. Geht auch zu zweit.
  5. Hilfstruppen suchen und nutzen. Zuallererst natürlich ist da die Familie gefragt. Wenn die nicht mitzieht, ist man arm dran. Sie müssen nicht alle abstinent werden, aber immer wissen und daran denken, dass du es bist und bleiben willst. Ob die Wohnung damit alkoholfrei wird, ist per Absprache zu klären. Einfacher ist es sicher, wenn es so ist. Dann die Freundschaft. Freundinnen und Freunde müssen dir den Rücken stärken, dich achten und dich schützen. „Den Nachtisch nimm lieber nicht, da ist Alkohol drin.“ Wenn bei den üblichen Einladungen dir immer noch gedankenlos der Begrüßungssekt angeboten wird, dann ist da etwas schiefgelaufen in der Kommunikation oder mit dem Begriff Freundschaft. Such Gesellschaft, aber suche sie dir gut aus und wenn du neue kennenlernst, oute dich bald. In der Einsamkeit wird man schnell komisch oder kippt um.
  6. Schaffe Klarheit an deinem Arbeitsplatz, auch wenn es vielleicht schwer fällt. Da musst du durch. Es ist wichtig fürs Überleben.
  7. Bedenke, dass es Rückfälle gibt. Mache dir einen Plan, wen du anrufst oder ansprichst, wenn die Schlange lockend zischelt. Auch dazu, ansprechbar zu sein, sind die Hilfstruppen da.
  8. Sieh und betone die positiven Seiten der Abstinenz:
    – es ist gesünder, keinen Alkohol zu trinken;
    – du brauchst nie mehr an deiner Fahrtüchtigkeit zu zweifeln;
    – du kannst stolz auf dich sein, denn du schaffst, was 90 Prozent der Alkoholkranken nicht schaffen;
    – du hast alle Chancen, einen eigenen Lebensstil zu entwickeln, in dem du dich auch ohne Alkohol wohlfühlen kannst.
    9. Lass dich nicht auf Abenteuer ein, etwa: „Einen Schnaps werde ich wohl wegstecken können!“ Das mag sein, aber es kann auch anders sein. Wenn du Abenteuer brauchst, mach Fallschirmspringen oder setzt dich im Olympia-Stadion in den Hertha-Fan-Block und feuere die gegnerische Mannschaft an.
    10. Du brauchst Selbstbewusstsein. In nicht ganz wenigen Fällen haben die Menschen genau das verloren im Suff und in der Sucht. Achte dich selbst, trau dir was zu, entdecke Neues, beteilige dich an Aktivitäten in deiner Nachbarschaft, lebe und freue dich, dass du lebst.
    11. Schließlich: Es gibt Selbsthilfegruppen. Ich will nicht behaupten, ohne Gruppenbesuche ginge es nicht in der Abstinenz. Das geht wohl auch, mit Gruppe ist es leichter und schöner. Wenn es die richtige ist. Die gilt es allerdings zu finden. Dann tu alles, um in ihr heimisch zu werden. Und du wirst all das, was ich bisher geschrieben habe und noch viel mehr dort vergnüglich lernen. Wie überhaupt so eine Gruppe sehr vergnüglich sein kann und sehr lehrreich. Sieh zu dem noch den Vorteil, dass immer kompetente Fachleute da sind, sowohl Fachleute für Abstürze und wie man da wieder raus kommt sowie für alle anderen Vorkommnisse und Fragen in der Abstinenzwerdung.

Und wenn du dann noch Guttempler wirst oder dich in einer der anderen Abstinenzvereine einbringst, bist du noch einen Schritt weiter als alle andern, du gehörst zu einer gesellschaftlich anerkannten Organisation. Und damit baust du auch weiter an deinem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl.

So, mehr fällt mir heute nicht ein. Ich bin sicher, dass ich das eine oder andere vergessen habe. Aber für heute ist dies alles auch genug. Wenn du das jetzt Aufgezählte verinnerlicht hast und beherzigst, wenn Kopf und Bauchgefühl trocken sind, dann bleibst du es auch. Auf der ganz sicheren Seite sind wir nie, dazu ist die Krankheit zu heimtückisch und unsere Gesellschaft zu „alkoholisiert“.

Aber zur zufriedenen, dauerhaften Abstinenz reicht es allemal.

 Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag des Autors in seiner Selbsthilfegruppe, der „Halensee“ im Guttemplerorden.

 

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