Titelthema 1/17: Ist Sucht eine Chance?

Titelblatt TrokkenPresse 1701_31Kann Alkohol-Sucht eine Chance sein?

Wer wäre ich heute, wenn ich nicht alkoholkrank geworden wäre?

Wie wäre mein Leben weiter verlaufen ohne den Alkohol und die Jahre des Leidens unter ihm? Stellen Sie sich auch manchmal diese Fragen, liebe LeserInnen?

Ich kann für mich selbst feststellen, dass ich heute, nach vier Jahren Trockenheit, zutiefst zufrieden lebe. Das war vor dem Beginn meiner Sucht an fast kaum einem Tag der Fall. Mein Alltag war von Ängsten schwer, von Sorge, von Traurigkeit. Und von der Suche nach dem Gegenteil: nach Glücklichsein. Alkohol wurde zum Fluchthelfer in leichtere Momente. Aber der Helfer wandelte sich irgendwann zum Feind. Therapie. Abstinenz. Ich wollte trocken weiterleben. Aber wie? Vor Ängsten und Kummer konnte ich nun nicht mehr, wie einst, flüchten, in dem ich sie betäube. Ich musste lernen, mit ihnen anders umzugehen. Sie wahrzunehmen, sie anzunehmen im Moment ihres Entstehens und herauszufinden, was sie wirklich sind: Einzig Gedanken und Gefühle. Sie lassen sich aushalten und gehen auch wieder … Seit ich dies weiß und lebe, muss ich nicht mehr jagen nach dem nächsten Moment, der vielleicht glücklicher sein würde als der jetzige. Ich bin (meist) in innerem Frieden mit dem, was jetzt gerade ist. Die Diagnose Alkoholkrankheit bedeutete für mich also nicht das Ende des Lebens, sondern das Ende des vergangenen Lebens, einen Neubeginn. Es war die Chance, alte Denkweisen, Verhaltensweisen, Konditionierungen aufzuspüren und ändern zu können. Und zufriedener zu leben als je zuvor.

Was sind Ihre Erfahrungen, liebe LeserInnen?

Kati aus Berlin schreibt zum Beispiel: „Am 10.1.2010 bin ich in die Entzugsklinik … Ich hatte keine große Hoffnung …15 Jahre Alk und Drogen sollten vorbei sein? Aber dann entwickelte sich dieses Verlangen, doch irgendwann glücklich zu sein. Durch Zufall lernte ich Darius kennen, die Liebe meines Lebens, mein Fels in der Brandung! Jetzt, sieben Jahre später, haben wir unsere kleine Motte, unser schönster ,Unfall‘. Alk oder Drogen sind so weit entfernt, wie es nur sein kann … ich lebe, ich lebe glücklich, ich liebe! Ohne meine Vergangenheit gäbe es meine Gegenwart nicht!“

Dr. Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel (ehemals Leiter der Suchtklinik im Jüdischen Krankenhaus Berlin und selbst alkoholkrank) eröffnet den Erfahrungsaustausch zu unserem Thema. Bitte schreiben auch Sie uns ihre Meinungen dazu …

Anja Wilhelm

Das Leben läuft an mir vorbei

Teil 1
Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel

Irgendwann, vor langer Zeit, habe ich mit Trinken aufgehört.

In den vielen Jahren habe ich viel erlebt. Mein Leben hat sich verändert, aber vor allen Dingen bin ich abstinent alt geworden. Hier im Rheinland gehe ich wie in Berlin immer noch einmal in der Woche in meine Selbsthilfegruppe, im Gegensatz zu früher höre ich in erster Linie zu und melde mich seltener. Heute wissen wir nämlich – und es ist unbestritten –, dass der regelmäßige Besuch einer solchen Gruppe die Prognose meiner Suchterkrankung deutlich bessert.
Ich spreche immer noch häufig mit Menschen, die sich für die Abstinenz entschieden haben und solchen, die einen diesbezüglichen Rat von mir wollen. Nach den vielen Jahren geht es mir nicht mehr darum, wie früher ellenlange Gespräche zu führen, sondern so ehrlich wie möglich und so schnell wie möglich deutlich zu machen, was zu tun ist und dass ich den Zustand der „Totalabstinenz“ bevorzuge, denn ohne sie könnte ich diesen Artikel nicht schreiben. (Entsprechend unseren gesellschaftlichen Veränderungen gibt es mittlerweile mehrere Formen der „Abstinenz“, die aus meiner Sicht keine ist, und wahrscheinlich Wenigtrinker in der chronischen Phase des Alkoholismus darstellt.) Abstinenz bedeutet seit Jahrhunderten „Enthaltsamkeit“, die in erster Linie dem Alkoholismus galt. Nach Jahrzehnten des Behandelns bleibt immer noch etwa ein Drittel der Behandelten dauerhaft abstinent, höhere Zahlen lassen sich nur bei ausgesuchten homogenen Kollektiven mit besonderer Behandlung (z.B. über zwei Jahre) finden.

Den Moment, an dem die Abstinenz beginnt, kennen wir zunächst nicht, sondern sie wird aus Not und Elend geboren. Nicht wenige schreiben dem Leben einen Abschiedsbrief, können gerade eben noch eine therapeutische Hilfe finden, um am Leben zu bleiben, in die Ruhe eines Klinikbettes zu fliehen, um eine so genannte Entgiftung und Entwöhnung zu beginnen.
Für mich begann damals an jenem Tag, allem persönlichen Bemühen zum Trotz, ein wirklich hartes und karges Leben, das ich ohne Dr. Hartmut Spittler, einen sehr erfahrenen Therapeuten, ohne meinen Sponsor Peter und später auch Jürgen, und ohne meine Selbsthilfegruppe niemals geschafft hätte, denn mir war nach Jahrzehnten des Trinkens die Lebenssicherheit abhandengekommen, und so war ich kaum noch ein Ehemann und kein Vater. Ich arbeitete, so gut ich es konnte und behielt durch ein Wunder meinen Arbeitsplatz, sodass ich meine Familie ernähren konnte, aber in den ersten Jahren meiner Abstinenz war ich nach der Arbeit derartig erschöpft, dass ich überwiegend in meinem Bereitschaftszimmer schlafen musste, was natürlich zur zunehmenden Entfremdung von meiner damaligen Frau beitrug. Voller Angst und Sorge ging ich mehrere Jahre zwei bis dreimal in der Woche in meine Selbsthilfegruppe, zunächst gar nicht wegen des Programmes, sondern weil dort nicht getrunken wurde und ich sah, wie Frauen und Männer längerfristig abstinent leben konnten, denn sie sprachen von ihrem Alltag, und wie mir schien, lebten sie noch nicht einmal schlecht.

Schon vor meiner Entwöhnungsbehandlung hatte ich Ängste und Panikattacken, die so weit gingen, dass ich nicht mehr Auto fahren konnte, besonders nicht mehr auf der Autobahn. Zwei Jahre lang schlief ich nachts kaum oder auch schon mal gar nicht. Und es gab Momente, in denen ich an den freien Tagen mehrere Stunden mit einem Buch auf dem Parkplatz einer psychiatrischen Klinik zubrachte und abends zum Essen nach Hause fuhr.
Alkohol trank ich nicht, andere Drogen nahm ich auch nicht, aber es gab nicht wenige Tage und Stunden, an denen ich, um nicht zu trinken, einfach zu Hause blieb. Es dauerte eine Weile, bis ich die Menschen aus der Selbsthilfegruppe bitten konnte, mich mit ihnen oder meiner Familie zum Essen in einem Restaurant zu verabreden, ins Kino zu gehen oder mit den Kindern auf einem Boot zu fahren.
Wenn ich versuchte, meine persönliche Not in der Gruppe ehrlich auszusprechen, kam es schon einmal vor, dass mir vorgeworfen wurde, ich wolle ja nur angeben und mich wichtig tun. Ich bin dennoch in meine Gruppen gegangen, habe Ausschau gehalten nach Frauen und Männern, die länger abstinent waren, freundlich und warmherzig, regelmäßig arbeiteten, nicht mit einem Krankenschein angaben, und so etwas wie „zufriedene Nüchternheit“ zu leben schienen. Ich suchte mir einen Sponsor. Dieser Mann, Peter, war etwa zehn Jahre trocken, ging regelmäßig samstags in seine Gruppe, hatte nach der Therapie eine abstinente Alkoholikerin geheiratet und war unverdrossen freundlich zu mir. Er hatte geradlinige Vorschläge. Der erste Vorschlag war zu meiner großen Verblüffung, mir einen Leseausweis für die Stadtbücherei zu holen, und die Bücher in einer Woche auszulesen. Diese Maßnahme sollte – wie er sagte – „mein Gehirn ordnen“. Das war ein interessanter Vorgang, denn wenn ich mir 100 Suchtkranke vorstelle, denen ein solcher Vorschlag gemacht wird, komme ich zu dem Schluss, dass eine große Mehrheit diesen Vorschlag für Unsinn gehalten hätte. Ganz tief in meinem Inneren spürte ich aber irgendwie, dass manche Menschen in ihren Aussagen Recht hatten, damals fuhr ich z.B. zum Gelände der alten Bundesgartenschau und kaufte mir eine Dauerkarte, um, wie mir jemand in seiner Aussage in der Gruppe geraten hatte, mehr Sauerstoff an mein Gehirn zu lassen. So begann zwei oder drei Jahre meine Frischlufttherapie, die bis heute anhält, allerdings mit Hund und nicht mehr mit Frau und kleiner Tochter, die mittlerweile selbst zwei kleine Kinder hat.

Was begann also mit meiner neuen Abstinenz? Worum handelte es sich bei diesen für mich und andere seltsamen Begegnungen mit abstinenten Alkoholikern?
Zum ersten Mal begann ich etwas zu glauben, was mit meiner gerade begonnenen Abstinenz zu tun hatte, Vorschläge, die zwei schon länger abstinente Menschen mir gemacht hatten.
Beide Vorschläge klangen für mich seltsam bis absurd. Und dennoch unterstellte ich, dass sie mir helfen wollten und tat, was sie empfohlen hatten:

1. Ich begann Menschen also zu glauben, dass sie mir helfen wollten und entwickelte eine gewisse Bereitschaft, diese Hilfe auch zuzulassen. Dazu gehörte dann auch, dass ich so ehrlich wie möglich in meiner Gruppe sprach.

Nach dieser langen Einleitung hoffe ich, dass ich den Beginn der Abstinenz und die Schwierigkeiten, die dabei entstehen, für jeden einzelnen Menschen recht gut habe darstellen können. Die Abstinenz ist deshalb ein komplizierter Vorgang, weil sich, abhängig vom Lebensalter und Geschlecht, Menschen, die „eine Therapie machen“, dann in einer Selbsthilfegruppe treffen. Menschen, deren Suchterkrankung unterschiedlich schwer ist, was die Folgen anbelangt, die sich in erster Linie im Gehirn abspielen, die eine Persönlichkeit verändern, alle sozialen Bezüge stören und im besonderen Liebe und Freundschaft erodieren. Meine KollegInnen und ich haben damals von einer „generalisierten Beziehungsstörung“ gesprochen, womit gemeint war, dass Drogen (und Alkohol ist eine harte Droge!) die Beziehung zu mir selbst und anderen stören und zerstören, in jedem geistig-seelischen Bereich. Wir sind aber auf Beziehungen sehr angewiesen, weil wir zum Beispiel durch sie lernen und lehren, von Ruhe und Zufriedenheit in einer Familie gar nicht zu sprechen. Es wird schnell deutlich, welche zerstörende Folgen eine Suchterkrankung in diesem Umfeld hat haben muss.
Ich war etwa acht Jahre abstinent, als ich Viktor Frankl „begegnete“. Der Psychiater und Neurologe starb am 2. September 1997 und ist neben Freud und Jung der Begründer der dritten Schule der Psychotherapie („Logotherapie und Existenzanalyse“). Er ist KZ-Überlebender, der 1945 nach seiner Befreiung in neun Tagen das Buch: „Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ geschrieben hat. Unter dem Titel standen die Worte:„… trotzdem Ja zum Leben sagen.“ Das war ein sehr wichtiges Buch und ein Geschenk in meinem trockenen Leben.
Das Büchlein stand im Schaufenster einer Buchhandlung in der Nähe des Arbeitsplatzes und als ich während der Heimfahrt das Auto anhielt und zu lesen begann, konnte ich nicht mehr aufhören. Als Kind von Nationalsozialisten hatte ich mich ja oft und lange mit den Konzentrationslagern beschäftigt, und da ich zu diesem Zeitpunkt schon über 20 Jahre im Jüdischen Krankenhaus Berlin arbeitete, hatte ich mich mit diesem Thema schon lange auseinandergesetzt. Sehr verkürzt muss ich sagen, dass mir dieses Buch wie ein Geschenk des Himmels vorkam, denn als vormals selbstmordgefährdeter Mensch und abstinenter Arzt hatte ich damit begonnen, mich mit dem Sinn meines Lebens zu beschäftigen. D.h. ich war etwas vernünftiger geworden und dachte zunächst nur über die Frage nach, warum ich noch am Leben war, und welche Bedeutung das hatte, und wer dafür verantwortlich war, wo ich doch im Laufe meines Lebens als Arzt und Alkoholiker viele Menschen hatte vorzeitig sterben sehen und mir auch bekannt war, dass die Gamma-Alkoholkrankheit das Leben um 20 Jahre verkürzt.

Ich hatte mich für meine Abstinenz entscheiden müssen, weil Gott, das Leben, die Natur oder das Weltall (wie jeder es auch nennen möchte) mich deshalb hatte diese schreckliche Zeit überleben lassen, weil er noch Aufgaben für mich hatte und ich meine Lebenszeit auf eine einfachere Art und Weise dazu nutzen sollte, anderen Suchtkranken etwas zu sagen, wenn sie es hören wollten. Und ich spürte, dass ich dafür diese „Verantwortung übernehmen“ sollte. Und genau in diesem Moment meiner Entwicklung fiel mir das Buch Frankls in die Hand.

Der Mensch hat immer eine Sehnsucht nach Sinn

Frankl hatte sich ja schon seit Mitte der Dreißigerjahre des vorigen Jahrhunderts mit dem Begriff „Sinnfindung“ beschäftigt, und arbeitete damals schon in einer Selbstmordambulanz für gefährdete Studentinnen und Studenten, um sich in diesem Bereich weiterzuentwickeln. In der Zeit im Konzentrationslager arbeitete Frankl neben harten Bauarbeiten im Auftrage der Nazis als Oberarzt und Helfer in einer Baracke mit am Fleckfieber erkrankten Ärzten. Die Selbstmordrate dieser Menschen war sehr hoch, viele rannten in den Elektrozaun und die meisten sprachen etwas aus, über das kaum gesprochen wurde: „Es ist ja hier alles so sinnlos.“ Frankl hatte bei seiner Arbeit mit den StudentInnen folgendes verstanden: Die Frage nach dem Sinn des Lebens beinhaltet die Frage nach der Bestimmung des Menschen und ist eng verbunden mit dem Vertrauen in das Leben (Selbstvertrauen und Vertrauen in andere Menschen oder eine göttliche Macht). Der Mensch hat immer eine Sehnsucht nach Sinn. Im engsten Sinn ist damit die Deutung des Verhältnisses, in dem der Mensch zu seiner Welt steht, gemeint, wenn ich also etwas Sinnvolles tue oder erlebe und damit zufrieden bin. Franke fasste also den Entschluss, auch in dem tödlichen Umfeld für sich und sein Leben Verantwortung zu übernehmen – im Übrigen ganz schlicht, weil er alles dafür tun wollte, seine Lieben wiederzusehen und am Leben zu bleiben. Er formulierte das so:

2.„… Was hier nottut, ist eine Wendung in der ganzen Fragestellung nach dem Sinn des Lebens: wir müssen lernen …, dass es eigentlich nie und nimmer darauf ankommt, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf, was das Leben von uns erwartet.“

Dieser Satz war plötzlich trotz aller Ausbildungen und Psychotherapie das zentrale Geschenk meines Lebens. Wenige Jahre später lernte ich den Menschen kennen, den ich wirklich lieben konnte, und vor diesem Hintergrund übernahm ich dankbar die Verantwortung für die Aufgaben meines Lebens.
Wenn wir etwas länger abstinent sind, uns körperlich und geistig erholen, werden wir uns zunehmend mehr Gedanken und Gefühle über den Sinn des Lebens machen, und mit den Menschen, die uns nahe stehen, über diese Frage sprechen: „Welche Frage stellt heute das Leben an mich?“
Urplötzlich werden diese wahnsinnigen Wünsche weniger: Geld verdienen, Menschen anbaggern, schnelle Fortschritte im Beruf und all so etwas. Ich werde über meine Lebensphasen nachdenken, über Gesundheit und Krankheit, was bedeutet Sinnfindung? Was bedeutet Transzendenz (wie wäre es mit dem Erwerb eines guten Lexikons, eines Duden und eines Fremdwörter-Duden?)
Wenn ich die genannten Begriffe beispielsweise als Frage oder Aufforderung des Lebens annehme, kann ich auch für eine Krankheit, Alter, Verlust geliebter Menschen, die Verantwortung für mich und andere übernehmen.
Und ich muss mir die hässliche Frage stellen, ob Dauerrauchen und 4 l Kaffee am Tag ohne Alkohol Abstinenz bedeuten.
Ich komme jetzt aus praktischen Gründen zum Schluss: Der Verlag hat mir 12 000 Zeichen mit Leerstellen gegeben, und eben war ich schon bei 12 500. Dennoch schreibe ich Ihnen noch etwas, aber auch die Zusage, dass ich in den nächsten ein oder zwei Heften der Trockenpresse das Thema der Sinnfindung und der Arbeiten Viktor Frankls beenden werde. Und nun zum Schluss:

3. Wenn ich vormittags in der Gruppe die Mitglieder frage, „Glauben Sie, dass sie heute Abend noch abstinent sind? Und glauben Sie, dass sie morgen früh noch abstinent sind?“, habe ich die Erfahrung gemacht, dass jedes Mal alle antworten: „Ja, dann sind wir noch abstinent!“

Dann erzähle ich noch eine kurze Geschichte: Vor etwa 30 Jahren haben zwei amerikanische Suchtforscher die Frage zu beantworten versucht, was der Hauptrückfallgrund bei Alkoholikern ist. Und nach einiger Zeit kamen sie auf den Begriff Unfriede.
Jede/r von uns weiß, dass man im Unfrieden nicht abstinent leben kann. Seit längerem bitte ich meinen Herrgott nahezu jeden Morgen um Hilfe, um abends zufrieden ins Bett gehen zu können. Dann kann ich kurz meinen Tag strukturieren und mich freuen, wenn meine Familie abends nach Hause kommt. Das entspricht genau dem „im Heute leben“ mancher Selbsthilfegruppen.

Nun habe ich gar nicht über das Thema gesprochen, aber das kommt noch.

 

Titelthema 6/16: …trocken. Und wo bleibt die Liebe?

cover-trokkenpresse-1606_printEndlich trocken – und wo bleibt die Liebe?

 Zerbrechende Partnerschaften, dramatische Trennungen: Die meisten Alkoholabhängigen werden im Verlaufe ihrer Krankheit damit konfrontiert. Denn Alkohol „löst“ im wahrsten Sinne auch Beziehungen auf … Aber wie beziehungsfähig sind wir Süchtigen dann, wenn wir endlich entgiftet sind und eine Therapie hinter uns haben? Im Kopf wieder klar, das Leben euphorisch neu beginnend, das Herz voller Sehnsucht nach einem Menschen, mit dem wir dies auch teilen können … Sind wir wirklich „reif“ für eine neue Liebe? Welche Chancen birgt sie, welche Gefahren? Die TrokkenPresse hat dazu trockene Alkoholiker nach ihren Erfahrungen befragt, den Suchttherapeuten Thomas Sioda und den Chefarzt der Hartmut-Spittler-Klinik Berlin, Dr. Darius Tabatabai, interviewt.

Sex, drugs and liebestoll! Alki sucht Frau – ein Selbstversuch

„Geduld“, sagt die Selbsthilfegruppe, „Meide Anlässe und Gelegenheiten, bei denen Alkohol konsumiert wird und wird‘ erstmal richtig trocken! Keine neuen Beziehungen im ersten Jahr und schon gar keine abendlichen Balzversuche in einschlägigen Lokalitäten!“

„Vorsicht“, sagt die Erfahrung. Denn am Anfang vom Ende jeder einzelnen meiner Trinkpausen stand eine leidenschaftliche Frauengeschichte. Sex, drugs und regelrecht liebestoll. Das Ganze endete zuverlässig mit einem „Rückfall“, jeder Menge Scherben und schlussendlich immer auf der Entgiftungsstation des nächstgelegenen Krankenhauses.

„Leg‘ endlich los“, sagt nun mein Sponsor. Denn ich lebe als süchtiger Mensch nun mal in einer konsumierenden und weitgreifend „selbst süchtigen“ Gesellschaft und habe die Wahl, mich vor einer echten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu verstecken oder es wirklich in die Hand zu nehmen.

Gewappnet mit diesen Hintergrundinformationen, dem Segen meines Sponsors und mit etwa einem Jahr Trockenheit im Nacken, machte ich mich auf die Suche nach dem verlorenen Leben – und der verlorenen Liebe. Leider hat mein Suchtmittel stets das Gleiche gesagt wie mein Sponsor, und so startete ich, voller Zweifel, einen waghalsigen Selbstversuch mit ungewissem Ausgang. Im Verlauf des Jahres gewann ich tatsächlich an Selbstvertrauen und sollte noch eine Menge wertvoller Erfahrungen sammeln. Die erste dieser zum Teil abenteuerlichen Geschichten, den Sprung ins kalte Wasser sozusagen, habe ich hier aufgeschrieben.

Anfang des Jahres bekam ich das Gefühl, es müsse irgendwas passieren. Ich wollte wieder unter Menschen, runter vom Abstellgleis und endlich zurück ins Leben. Und so begann ich eine Weiterbildung, nährte mein Selbstvertrauen und verknallte mich gleich zu Beginn in ein zartes, blondes Geschöpf mit sympathischem Lächeln und Masterabschluss. Die Dame arbeitete vor Ort, trug ihre blonden Haare offen und bis weit über das wohlgeformte Gesäß hinaus. Und sie ließ bei unserem Aufnahmegespräch ständig ihre Unterlagen fallen, was ich sehr sympathisch fand, weil sie dabei krampfhaft versuchte, einen souveränen Eindruck zu machen. „Das liegt an mir!“, dachte ich und haderte trotzdem, denn ich hatte noch nie vollkommen nüchtern eine Frau angesprochen. Nach drei Tagen bat ich recht unbeholfen und ziemlich unsicher um einen Termin, zwecks näheren Kennenlernens. Das Unglaubliche geschah und sie bejahte, worauf ich vor Schreck erst mal zur kopflosen Flucht ansetzte, den Raum verließ und beinahe hyperventilieren musste. Ich schwebte auf Wolke sieben und schmiedete Heiratspläne. Leider hatte ich in all der Hektik total vergessen, das bevorstehende Date in irgendeiner Form konkret abzusprechen, was mich zwei weitere Tage des Zauderns und Zweifelns kosten sollte. Letztendlich kamen wir überein und verabredeten uns am Ostkreuz.

Und schon ging das Kopfkino los. Was mache ich, wenn Sie was trinken gehen will? Wie fängt man(n), ohne einen im Tee, ein Gespräch mit einer Frau an und hält es am Laufen? Ich kann doch diese Form von „Bewerbungsgespräch“ unmöglich mit dem Satz beginnen: Mein Name ist soundso und ich bin Alkoholiker. Das käme irgendwie einem vorauseilenden Trennungsgesuch gleich. Und was mache ich eigentlich, wenn sie mir Fragen zu meinem bisherigen Leben stellt? Auch das wäre fatal und ganz sicher das sofortige Ende, denn ich hatte ein paar eher weniger erfolgreiche und sehr turbulente Jahre hinter mir und im Vollrausch so manches eingerissen. Keine normale Frau hätte sich das länger als eine Minute angehört.

Bei dieser Gelegenheit wurde mir wieder einmal klar, wie sehr ich in meiner Rolle als Alkoholiker gefangen war. Meine ganze Identität, mein Vokabular und meine potentiellen Gesprächsthemen waren einfach nur süchtig. Und so legte ich mir Ausreden zurecht, führte fiktive Dialoge und fühlte mich plötzlich unwohl. Ich dachte an Abbruch. Um es kurz zu machen: Wir trafen uns, und es regnete in Strömen. Meiner aufrichtigen Befürchtung, sie könne schnurstracks in die nächste Cocktailbar rennen, trat sie mit ihrem Vorschlag, irgendwo ein Eis essen zu gehen, überraschend entgegen. „Warum will sie denn keinen Cocktail mit mir trinken?“, dachte ich mir und war sogar ein bisschen gekränkt. Ich wischte den Gedanken schnell wieder beiseite und auf einmal war ich es, der krampfhaft versuchte, einen souveränen Eindruck zu machen. Wir liefen also durch den nasskalten Regen und suchten nach einer Eisdiele. Nach etwa einer Stunde des erfolglosen Suchens (nach Eis und Themen für‘s Gespräch), landeten wir dann doch in einer Cocktailbar. Da saß ich nun. Mit ‘ner Apfelschorle in der Hand und ‘nem gewaltigen Stock im Arsch, suchte ich verkrampft nach einem Einstieg. Die Getränkebestellung verlief relativ unspektakulär, auch wenn ich meinte, dass sie darauf zu warten schien, was ich bestellte und etwas irritiert auf die Schorle in meiner Hand glotzte. Derweil kam sie nicht mal auf die Idee, mir irgendwelche Fragen zu stellen und spielte ständig mit Ihrem Handy herum. Jetzt bestellte auch sie endlich – einen alkoholfreien Cocktail. Ich fand, es lief ganz gut für mich. Irgendwie.

Wir begannen ein oberflächliches und humorloses Gespräch über ihren Ex-Freund. Das war ein potentielles Minenfeld, denn meine letzten drei Beziehungen scheiterten allesamt an den Folgen meines Alkoholkonsums. Doch noch immer keine Fragen von ihr. Dafür legte sie jetzt richtig los. Vor mir saß eine Masterabsolventin, eine „Intellektuelle“, die Stein und Bein darauf schwor, dass es nichts auf der Welt gäbe, was unterhaltender wäre als „Big Brother“. In der Folge wurde es immer schlimmer und sie lobte das gesamte Grusel-Programm von RTL2 rauf und runter! Doch damit nicht genug: Ihre Vorstellungen von einem gelungenen Leben, das ganze konforme, nachgeplapperte und meinungslose Geschwafel, wurden mir schnell unerträglich. Vielleicht, weil sie ihr Leben im Griff hatte und ich nicht. Vielleicht auch, weil ich mich auf meinem Weg in die Trockenheit doch sehr verändert hatte. Man müsse schließlich sein Potential entfalten, trällerte sie, und etwas Richtiges aus sich machen. So gesehen konnte ich gar nichts Richtiges sein.

Ich fand einfach keinen Einstieg in ihre Themen und begann fataler Weise nun doch, von mir und meinem Leben zu erzählen. Ich deutete die Katastrophen der Vergangenheit und meinen Dachschaden an und sparte dabei den Alkoholismus aus, was das Ganze nur schlimmer erscheinen ließ. Aber sie hatte entweder nicht zugehört oder ein gewaltiges Brett vor dem Kopf. Und während sie, parallel zu unserem Date, die aktuellen „Wisch und Weg“-Angebote auf Tinder checkte, mit ihren „Fakebook“-Freunden chattete und ihren Ex verfluchte, fragte ich mich wiederholt, ob denn nun ein Cocktail dieses Desaster nicht doch in irgendeiner Weise abschwächen oder erträglicher machen konnte. Konnte dieser eine Drink mir wirklich schaden?

Das war jetzt wirklich gefährlich und mir wohlbekannt. So kam ich zu der erschütternden Erkenntnis, dass ich mich ohne das erste Glas scheinbar einfach nicht locker machen konnte. Und vielleicht auch deshalb konnte sie, zumindest in meiner individuellen Wahrnehmung, einfach nicht damit aufhören, dämlich zu sein. Plötzlich „durfte“ ich wieder nichts trinken. Früher jedenfalls, hätte ich mir so eine ganz einfach schön, bzw. schlau gesoffen, sagte ich mir. Mit einem im Cocktail in der Hand, hätte ich mich skrupellos als eingefleischter Big Brother-Fan geoutet, Dieter Bohlen und von mir aus auch Helene Fischer zitiert und wäre erfahrungsgemäß zum Zuge gekommen! Denn sie war wirklich schön …Und da war es schon wieder: Das Gefühl des Verlustes. Hier saßen wir nun: Ein bekloppter Alki und eine smartphonesüchtige, optische Mogelpackung. Und beide wollten nach Hause. Ich schwor mir, dass ich künftig noch genauer hinsehen und nachfühlen würde!

Im Verlauf des Jahres folgten noch einige weitere dieser krampfhaften Trockenübungen. Mal mehr, mal weniger erfolgreich, aber immer trocken. Und mit jedem Mal gewann ich mehr Selbstvertrauen. Sicher hatte ich bei all dem auch Glück, aber zumindest in einem Punkt lag mein Sponsor richtig: Ich hatte mich dem Leben gestellt und es hatte sich tatsächlich etwas bewegt. Ich konnte wertvolle Erfahrungen sammeln und fühle mich heute bei meinen Dates, auch ohne das soziale Schmiermittel Nummer eins in der Hand, nicht mehr ganz so unsicher. Und schlussendlich durfte ich auch feststellen, dass ich mit meinem Junggesellendasein gar nicht sooo unzufrieden bin.

(mahebest)

„Es ist erlaubt, Single zu sein“

Interview mit Suchttherapeut Thomas Sioda (Suchtberatungsstelle Berlin-Hohenschönhausen, Gemeinschaftsprojekt von Gesundheitsamt und Stiftung SPI)

Sie begleiten Suchtkranke u.a.in Nachsorgegruppen und Einzelgesprächen. Wie ist ihre Erfahrung: Wie wichtig ist das Thema, neue Beziehung finden‘ nach der Therapie?

Thomas Sioda: Der Wunsch nach Partnerschaft ist auf jeden Fall da, das wird in vielen Gesprächen deutlich. Jeder Mensch hat Sehnsucht nach einer Beziehung, wenn er alleine ist. Viele Alkoholkranke haben ja Trennungen hinter sich durch den Alkoholkonsum. Andere wiederum konzentrieren sich nach der Therapie eher darauf, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Wiederum andere bringen sich gleich einen neuen Partner aus der Therapie mit.

Ist es nicht zu früh, gleich während oder nach der Entwöhnung eine neue Beziehung zu suchen?

Es gibt kein Pauschalrezept. Jeder ist an einem anderen Punkt. Durch eine Therapie beginnt ein Prozess, der bei jedem anders verläuft. Für viele scheint es aber ein Makel zu sein, Single zu sein. Und manche denken: Lieber eine schlechte Beziehung als gar keine Beziehung. Bei anderen besteht die Gefahr, sich wieder gleiche frühere Beziehungsmuster zu suchen, Beziehungen, in denen sie abhängig sind oder wieder Gewalt erfahren werden.

Wir hinterfragen das hier bei uns genauer, statt Ratschläge zu geben, es ist immer eine individuelle Sache. Und wir empfehlen auch, nicht in die Klinik zur Therapie zu gehen, um dort einen Partner kennenzulernen …

Weshalb wird das in Kliniken nicht gerne gesehen, dass man sich da verliebt?

Herzchen in den Augen könnten zwar die Therapie beflügeln – aber auch ablenken vom Behandlungsziel. Mein Rat: Kontakte aufbauen, ja – aber die Beziehung, wenn möglich, erst nach der Therapie beginnen, langsam aufbauen, unter dem Motto „Alles zu seiner Zeit“.

Es heißt, dass Entwöhnte im ersten Jahr nur Verantwortung für eine Pflanze übernehmen sollen, im zweiten dann für ein Haustier, und erst im dritten Jahr danach für einen Menschen …

Das ist mir so nicht bekannt. Aber der Kern ist wohl: Zuerst einmal Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Lernen, nicht immer nur für andere da sein zu wollen, wie Suchtkranke das so oft tun. Und wenn, dann – man kann sich ja nicht aussuchen, wann man sich verliebt – es langsam angehen, man muss ja nicht gleich zusammen ziehen und heiraten. Eine Beziehung kann man ja auch langsam wachsen lassen, man kann sich langsam annähern.

Man sollte sich immer fragen und ehrlich dabei sein: Bin ich innerlich schon so weit? Denn man muss schon stark sein für eine Beziehung, sie kostet Zeit und Energie, nach der ersten Verliebtheit kommen meist Konflikte, Streitigkeiten. Damit muss man umgehen können – und es sollte sich jeder hinterfragen, ob er das dann schon kann, nach nur ein paar Monaten Therapie.

Ihr Rat für Beziehungssuchende?

Unsere Empfehlung ist immer, nicht zwanghaft zu sein, nicht zu sehr nach einer Beziehung zu suchen. Partnerschaft ist ja nicht alles im Leben. Es ist erlaubt, Single zu sein. Sie sollten sich immer ehrlich befragen: Hängt für mich wirklich das ganze Lebensglück von einer Beziehung ab? Oder welche Ziele habe ich nach der Therapie überhaupt? Beruflich zum Beispiel? Oder wollen Sie doch überhaupt erst einmal grundlegend das Leben wieder konsolidieren, wieder an Selbstbewusstsein gewinnen, Selbstwert wieder aufbauen?

Ich rate dazu: Alles zu seiner Zeit, eins nach dem anderen. Was Priorität hat, muss sich jeder selber beantworten.

Welche Chancen haben Paare, die sich als trockene kennenlernen?

Wir führen da keine Statistik. Es ist wie mit jeder andere Partnerschaft auch, ich denke nicht, dass man schlechtere Chancen hat, wenn man abhängig ist. Wichtig ist, wie man die Beziehung gestaltet, wie gut man seine Bedürfnisse ausspricht. Mein Rat an trockene Paare:

Klare Regeln finden, solche wie zum Beispiel: ,Familienfeiern – bei uns gibt es keinen Alkohol, das wäre eine Riesengefahr‘. Oder: ,Gäste bekommen ein Glas Sekt, mehr nicht, das macht uns beiden nichts aus‘.

Welche Vorteile hat eine Beziehung zwischen Trockenen? Welche Gefahren birgt sie?

Es kann nur von Vorteil sein, wenn man sich outet und outen kann, wenn die Krankheit kein Tabu ist. Wenn beide abhängig sind, scheint es einfacher zu sein, als wenn der Partner daheim trinkt. Es ist leichter, Regeln aufzustellen wie zum Beispiel „kein Alk zuhause“. Gefahr besteht, wenn man nicht kommuniziert und keine klaren Absprachen trifft. Und wenn ein Rückfall auftritt, dass man sich dann gegenseitig runterreißt bis hin zu sehr dramatischen Situationen.

Beispiele: Wir haben ein Paar aus der Nachsorge, das inzwischen sogar geheiratet hat. Und wir haben auch ein Paar, da ist einer rückfällig geworden und an den Folgen verstorben. Das sind Extreme und dazwischen gibt es alles, ist alles möglich.

Das erste Date – sollte man sich gleich outen?

Wozu beim ersten schon? Es ist natürlich von der Situation abhängig. Aber den jeweiligen Menschen macht doch mehr aus als nur der frühere Alkoholkonsum, das ist doch nicht die Haupteigenschaft eines süchtigen Menschen. Es geht doch um gegenseitige Sympathie. Man kann sich ja erstmal in einem Café treffen zum Beispiel, nicht in einer Bar. Es erstmal abchecken und sagen, dass man keinen Alkohol trinkt. Und dann sieht man weiter, ob Nachfragen kommen.

Gar nicht davon reden geht nicht auf Dauer, der Moment kommt ja früher oder später …

Also: so offen wie möglich sein, aber man muss sich nicht gleich outen.

Das Interview führte Anja Wilhelm

Pairing/Paarbildung in der Entwöhnungstherapie: Chancen und Risiken neuer Beziehungen

Entwöhnungstherapien finden in einer sehr schwierigen Behandlungsphase statt. Nach der in den meisten Fällen erfolgten Entzugsbehandlung ist der Körper frei von akuten Entzugssymptomen, die Seele reagiert auf das Fehlen des zuvor konsumierten Stoffes jedoch noch sehr unwillig. Bis hin zum Gefühl, sich in einer fortgesetzten Notsituation zu befinden. Ein Teil der Betroffenen empfindet aber auch eine Art von Aufbruchsstimmung, ist beseelt vom Wunsch auf Veränderung und Wiedergutmachungsaspekten. Kliniken versuchen den Menschen in dieser Zeit einen Halt zu geben und den Weg zurück in die menschliche Beziehung zu finden. Die „Lockrufe“ des Stoffes bilden dabei eine Art Soundtrack im Hintergrund, der mal lauter, mal leise zu hören ist. Welche Rolle spielt das Aufkeimen von Liebesbeziehungen unter Therapieteilnehmern in dieser Phase der Behandlung? Zunächst ist es schwierig, Zahlen zu gewinnen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema ist in der Theorie der Psychotherapie umfangreich, epidemiologisches Material ist jedoch rar. Begriffe wie der „Kurschatten“ signalisieren jedoch, dass es sich nicht um vereinzelte Phänomene handelt, sondern Pairing zum Alltag in der Entwöhnungstherapie gehört und die Kliniken zu einer transparenten Grundhaltung zwingt.

Anhand der in den letzten 10 Jahren erfolgten Veränderungen im Umgang mit Pairing in der Hartmut-Spittler-Fachklinik für Entwöhnung lässt sich eine solche Grundhaltung bespielhaft skizzieren:

 Das Pairing galt und gilt als Risikofaktor für eine erfolgreiche Therapie.

Auf das „warum“ gibt es eine ganz einfache Antwort, die jeder Mensch kennt, der schon einmal verliebt war und sich erinnert oder gar aktuell erlebt, wie sich dieser Zustand anfühlt: Das Verliebtsein kann etwas Rauschhaftes haben, der Alltag ist verzaubert, Banales bekommt eine völlig neue Bedeutung und von außen betrachtet wirken manche Menschen in diesem Zustand „nicht ganz zurechnungsfähig“ in einem ganz zugewandten Sinne … geschieht dies während einer Therapie, kann deren Verlauf dadurch natürlich beeinträchtigt werden, weil das Aufmerksamkeitsvermögen eingeschränkt ist, bzw. ganz fokussiert ist auf das „neue Objekt der Begierde“.

In psychoanalytisch orientierten ambulanten Settings wird das Sich-Verlieben während der Therapie mitunter als Widerstand (ein unbewusster Vorgang) gegen den therapeutischen Prozess gedeutet und kann zum Gegenstand zahlreicher Sitzungen werden. Auch in stationären Settings analytisch orientierter Entwöhnungstherapie wird das Pairing häufig als Widerstand gegen die Therapie eingeordnet. Die Antworten darauf in der Vergangenheit und heute können jedoch sehr unterschiedlich ausfallen.

Wurden vor zehn Jahren „neue Paare“ in der Hartmut-Spittler-Klinik identifiziert, wurde mit diesen über diese Situation gesprochen und meist eine getrennte Weiterbehandlung empfohlen, damit die Therapie eben ohne „die neue emotionale Schwankung“ fortgesetzt werden konnte. Gute Kontakte zur Fontane-Klinik ermöglichten einen recht unkomplizierten Wechsel zwischen den Kliniken.

Auch heute kann diese Vorgehensweise erforderlich sein, sie findet aber nur noch in seltenen Fällen statt. Auch hier stellt sich die Frage „Warum?“. Die Antwort darauf fußt auf der Erfahrung, dass die recht rigide anmutende drohende „Trennung“ der neuen Paare dazu führte, dass diese Paare viel daran setzten, dass ihr neues Glück nicht bemerkt wirkt, sie es in aller Heimlichkeit kultivierten. Der dabei von außen erlebte Druck stilisierte die Beziehung nicht selten künstlich hoch und das Paar hegte Assoziationen an „Romeo und Julia“ oder „West-Side-Story“. Trennungen erfuhren dann nur die Paare, „die so ungeschickt waren, sich erwischen zu lassen“. Die Situation hatte einen weiteren doppelten Boden, denn auch Therapeuten ahnten von Beziehungen, „aber so lange es keinen Beweis gibt“, sahen sie auch keinen Handlungszwang und umgingen auf diese Weise unbequeme Gespräche. Erstaunlicherweise hielt sich diese Praxis lange Jahre und wurde erst um 2010 systematisch hinterfragt, weil das „Abtauchen“ der neuen Paare doch immer offensichtlicher wurde und der doppelte Boden auch im Sinne des psychotherapeutischen Qualitätsmanagements bearbeitet werden sollte.

In dieser Auseinandersetzung wurde spürbar, dass der bisherige Umgang mit den Paarbildungen nicht nur in die Heimlichkeit führte, sondern auch eine moralische Implikation besaß, die für die therapeutische Zusammenarbeit eher einen destruktiven Charakter entwickelte. Das immer wieder anzutreffende Bestrafungsbedürfnis von Rehabilitanden (aufgrund von Schuldgefühlen bsw. gegenüber der Familie) traf manchmal auf unreflektierte sadistische Impulse der Behandler (aufgrund der typischen Enttäuschungen im Verlauf der Behandlung beispielsweise durch Regelverstöße oder Rückfälle). Diese von Agnes Ebi im Aufsatz „der ungeliebte Suchtpatient“ beschriebenen Prozesse sind vielen Suchttherapeuten vertraut, was aber nicht davor schützt, dass sie dennoch wirksam werden.

In einer kritischen Reflexionsphase in zahlreichen Teamsitzungen und Fortbildungseinheiten wurde in der Folge der Umgang mit dem Pairing veränderten Regeln unterworfen:

Das Pairing wurde unverändert als ein Phänomen eingeordnet, das Therapieprozesse gefährden kann, aber auch Ausdruck von nichtstoffgebundener Libido sein kann, was als Ressource zu verstehen wäre. Ein offener Umgang mit der veränderten Situation wird angestrebt, bei dem das „Offenlegen“ der Beziehungen und Vereinbarungen zum weiteren Therapieverlauf mit den beiden Bezugstherapeuten zum Standard gehören. Die Beziehung wird von den Bezugstherapeuten wertfrei und empathisch angesprochen, gleichzeitig aber auch einer Risikobewertung (ein technischer Begriff, der mit empathischer Grundhaltung unterlegt sein muss) unterzogen. Den Paaren werden dabei Vorschläge gemacht, wie sie einen sicheren Therapieverlauf beibehalten. Dies beinhaltet konkrete Schritte, wie den getrennten Besuch von Selbsthilfegruppen oder das Beachten von Verhaltensnormen innerhalb der therapeutischen Gemeinschaft (Rücksichtnahme auf Mitrehabilitanden orientiert an Normen aus dem Arbeitsleben). In der Praxis sind dies häufig sehr anstrengende aber auch fruchtbare Prozesse. Auf der „Therapiebühne“ bilden sich immer wieder die Grundschwierigkeiten der Rehabilitanden ab und dies gilt auch für die neue „Beziehungsbühne“. An einem Beispiel soll dies verdeutlichet werden:

Beispiel: Frau XX und Herr XY verlieben sich

Frau XX beginnt die Entwöhnungstherapie und wird der Gruppe 5, einer reinen Frauengruppe zugeordnet, weil sie bereits aus ihrer Ursprungsfamilie heraus wiederholt Gewalt durch den Vater erlitten hatte. Dieser hatte neben ihr auch die Mutter und die Geschwister regelmäßig alkoholisiert geschlagen. Die Mutter war nicht in Stande, sich und die Kinder zu schützen, so dass diese Situation über viele Jahre fortbestand und von Frau XX als quasi selbstverständlich erlebt wurde. Sie empfand immer wieder Hassgefühle gegenüber dem Vater, es irritierte sie aber auch, wie sehr sie ihn dennoch liebte. Auch der bagatellisierte sexuelle Übergriff eines Freundes des Vaters, als sie im Alter von 13 Jahren war, veränderte dies nicht wesentlich. Im Erwachsenenalter entwickelte Frau XX eine Präferenz für gleichsam gewalttätige und konsumierende Partner. Vom Vater ihrer Kinder trennte sie sich schließlich nach acht Jahren Ehe, nachdem sie zum dritten Mal von ihm so schwer verletzt wurde, dass sie mit einer Feuerwehr in ein Krankenhaus gebracht wurde. Im Verlauf der Entwöhnungstherapie verliebt sich Frau XX nun erneut in einen Mann mit Gewalterfahrungen: Herr XY wurde vor sechs Monaten aus einer zweijährigen Haft wegen Körperverletzung entlassen und ist danach erneut mit einem Gewaltdelikt unter Alkoholeinfluss aufgefallen. Vom Gericht wurde eine Therapieauflage verhängt und Herr XY signalisiert Veränderungswünsche, ist sich aber unsicher, ob er Abstinenz ein Leben lang aufrechterhalten möchte. Herr XY stammte aus einem Elternhaus, in dem der Vater ebenfalls regelmäßig Gewalt gegenüber den Kindern und der Ehefrau ausübte, meist unter dem Einfluss von Alkohol. In Gesprächen über den Vater nimmt Herr XY diesen in Schutz: „Hat sich den Arsch aufgerissen für uns, es fehlte uns an nichts, er war nur manchmal überfordert und wir waren auch wild, da musste er zuschlagen!“

Frau XX und Herr XY verbringen viel Zeit miteinander und sitzen in vielen Veranstaltungen nebeneinander, so dass die Bezugstherapeuten sie fragen, ob sie eine Beziehung eingegangen sind, was beide nach anfänglichem Zögern dann einräumen. Bei den darauf regelmäßig stattfindenden „4er Gesprächen“ mit den Bezugstherapeuten (ein klassisches Instrument beim Pairing in der Klinik) kann ansatzweise das Muster der Beziehungsaufnahme (Wiederholungsaspekt) bewusst gemacht werden unter der Vermeidung der (von beiden befürchteten) Entwertung der Beziehung. Nach fünf Wochen nehmen beide wieder Abstand voneinander, weil sie sehr unterschiedliche Erwartungen aneinander feststellten und der akute Rauschzustand des Verliebtseins bereits wieder „verflogen“ war. Frau XX wird in diesem Zusammenhang an einem Abend rückfällig, setzt aber nach kurzer Detoxikation die Therapie fort und berichtet in der Rückfallbearbeitung von Enttäuschung, aber auch Schuldgefühlen nach der Trennung. Deutlich schambesetzt berichtet sie, dass es zwischen den beiden zu heftigen verbalen Auseinandersetzungen mit Gewaltandrohungen von beiden gekommen war.

Dieses Beispiel skizziert die Gratwanderung zwischen Chancen und Risiken des offenen Umgangs mit dem Pairing während der Therapie anhand eines Falles, in dem missglückende Bewältigungsmuster und „süchtige“ Beziehungsgestaltung identifizierbar werden und korrigierende Erfahrungen gemacht werden können.

Auf der anderen Seite gibt es auch Beispiele für die Entwicklung tragfähiger Beziehungen, die aus dem Pairing während der Therapie erwachsen. Bei den Ehemaligentreffen zeigen sich immer wieder Paare, die sich während der Therapie kennenlernten und nun recht offen über ihre Situation Auskunft geben, wenn sie von aktuellen Rehabilitanden dazu befragt werden. In diesen Statements findet es immer wieder Betonung, dass die gemeinsame Erfahrung mit der Erkrankung in vielen Lebenssituationen sehr hilfreich ist. Ein Standpunkt, der auch aus der therapeutischen Perspektive nachvollziehbar ist.

Fazit zum veränderten Umgang mit Pairing während der Entwöhnungstherapie:

 Ein nicht kleiner Teil der Rehabilitanden weist eine Biographie auf, in der die Gestaltung der Beziehung durch die Elternteile von zahleichen Defiziten und Ausfällen geprägt ist. Dennoch verfügen alle Menschen über Ressourcen, mit denen sie das Leben zumindest in Teilen auch erfolgreich gestalten konnten. Die Entwöhnungstherapie bietet eine Bühne für Ressourcen und Defizite gleichermaßen. Bezogen auf das Pairing bietet der offene Umgang die Chance, Ressourcen weiterzuentwickeln und bestehende Risiken identifizierbar zu machen. Zur Risikobewertung gehören unter vielen anderen folgende Aspekte:

  1. das Erkennen der „Verwandtschaft der Rauschzustände“,
  2. die Identifizierung der Wiederholung von Beziehungsmustern, die einen schädigenden Charakter haben,
  3. die Beziehung dient nicht allein der Rückfallprophylaxe und genügt auch nicht als solche,
  4. bei der Übernahme von Verantwortung für einander sollte die Dosis strikt beachtet werden und eine Unabhängigkeit der „Nachsorgesysteme“ bestehen, damit die Beziehung unter äußerem Druck nicht wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. Im Endeffekt gelten dann Regeln, die wir Menschen ohnehin in der Gestaltung von Beziehungen konstruktiv an den Tag legen sollten – die einzuhalten uns bei näherer Betrachtung aber auch immer wieder schwer fällt.

Therapeuten haben im Rahmen dieser Prozesse einzuschätzen, ob die Paarbildung konstruktiv gestaltet wird oder ob destruktive Entwicklungen (zum Beispiel Gewaltaspekte) überwiegen. In letzteren Fällen muss dann auf therapeutischer Seite die Entschlossenheit bestehen, einzugreifen um Schäden für Rehabilitanden abzuwenden. Wie in der Vergangenheit kann es dann auch wieder zur Indikationsstellung für getrennte Therapieorte kommen, orientiert an dem Grundsatz: wir müssen die richtige Therapiemaßnahme für die richtigen Rehabilitanden finden!

Dr. Darius Chahmoradi Tabatabai, MBA

Chefarzt Hartmut-Spittler-Fachklinik , Berlin

 

 

Titelthema 5/16: Zu jung für die Abstinenz?

tp-5-coverKann man zu jung sein für die Abstinenz?

Stellen Sie sich vor, Sie sind erst 23 Jahre jung. Aber bereits abhängig vom täglichen Bier, oder den Cola-Wodka nach der Arbeit, mit den Kumpels am Abend. Sie würden damit zu den 250 000 der 18-30-jährigen jungen Leuten gehören, die laut vorsichtigen Schätzungen von Experten alkoholabhängig sind, Tendenz steigend, eine Statistik gibt es dazu bisher nicht. Wie schwer mag das sein, so früh im Leben entscheiden zu müssen: Ich werde bis ans Lebensende nicht mehr trinken … Nie wieder Party. Die Hochzeit feiern ohne Wein. Im Fußballstadion ganz ohne Bier … Das macht Angst, oder? Müsste diese Entscheidung nicht viel schwerer fallen als mit 45 oder 60 Jahren?

Dipl.-Psych. Thomas Klein-Isberner, Therapeutischer Leiter der Abteilung Abhängigkeitserkrankungen der Fontane-Klinik Motzen, berichtet über seine Erfahrungen mit jungen Abhängigen:

Hinter dieser Frage verbirgt sich letztendlich eine DER Fragen, welche fast alle an Sucht erkrankten Menschen bewegt: Kann man wirklich für den Rest seines Lebens keine Suchtmittel mehr konsumieren? Geht das?

Das besondere für Jugendliche und junge Erwachsene ist halt nur, dass der Rest des Lebens (hoffentlich) ja noch sooo lang ist. Das Ziel so weit, der Berg so groß … aus diesem Grund haben die AA’s ja die 24-Stunden-Regel: Heute trinke ich nichts! Tag für Tag …

Dennoch hat eine sehr frühe substanzgebundene oder auch nichtsubstanzgebundene Abhängigkeit ihre Besonderheiten, greift sie doch in wichtige Entwicklungs- und Reifungsvorgänge ein, besonders in den Bau des sozialen Fundamentes eines Menschen, und ist selber oft Folge eines nur sehr brüchigen emotional-psychischen Fundaments. Jugendliche und junge Erwachsene bedürfen deshalb einer auf sie zugeschnittenen Behandlung, bei der wir ihre Besonderheiten berücksichtigen.

Was sind das für Besonderheiten?

Drogen (ich fasse hiermit mal alle abhängigkeitserzeugenden Substanzen zusammen) werden, wenn dauerhaft und regelmäßig, mit einer Wirkungserwartung, mit einer Funktion konsumiert. Oft um Defizite zu kompensieren, etwas zu können, zu fühlen oder nicht wahrzunehmen oder, oder, … Bei Jugendlichen und Jungen Erwachsene kann Drogenkonsum aber auch Ausdruck der normalen Entwicklung sein, des jugendspezifischen Experimentier- und Risikoverhaltens, der Suche nach Identität und Abgrenzung bisheriger „erst noch zu überprüfender“ Regeln und Normen von Eltern und Gesellschaft.

2006 haben wir in der Fontane Klinik Motzen begonnen, Jugendliche und junge Erwachsene nach einem zuvor erstellten Konzept zu behandeln. Über die Jahre konnten wir vielfältige Erfahrungen sammeln, welche wir nutzten, um auch das Konzept weiter zu entwickeln. Zuerst beließen wir die Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den normalen Bezugsgruppen und schufen zusätzliche Angebote. Sehr schnell kristallisierten sich familiensystemisch typische Probleme (z.B. als „Kind“ oder „schwarzes Schaf“) in den Bezugsgruppen, so dass wir uns entschieden, altershomogene Gruppen zu schaffen. Wir achteten auf Strukturgebung, Aktivierung durch Sport und Morgenaktiv, Verantwortungsübernahme im Gemeinschaftsdienst der Patienten, behandelten mit Einzel-, Gruppen- und Erlebnistherapie sowie Soziotherapie und Arbeits- wie auch Ergotherapie. Am Ende der auf 24 Wochen ausgerichteten Behandlung unterstützten wir den stabilen Übergang in das selbständige Leben mit einer 4-wöchigen externen Arbeitserprobung und orientierten auf den Verbleib in der Behandlungskette durch Aufnehmen z.B. einer Adaptionsmaßnahme.

Im vergangenen Jahr konnten wir das Konzept um weitere wichtige Bausteine erweitern. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen leben nun in einem Selbstversorgerkontext, in einer WG in einem eigenen Haus. Hier kümmern sie sich nicht nur um die Ordnung im und ums Haus, sondern bereiten nach selbst geplantem und erfolgtem Einkauf Frühstück und Abendbrot selbstständig zu. Durch die Bezugstherapeutin sowie durch ArbeitstherapeutInnen, ErnährungsberaterInnen etc. erhalten sie hierbei Unterstützung und Coaching. Hiermit sollen praktische Fähigkeiten zur Alltagsführung, wichtige Entwicklungsaufgaben wie selbständige Haushaltsführung erlernt und geübt werden. Darüber hinaus bietet das gemeinsame Wohnen und Leben eine ideale Voraussetzung für das Üben von Interaktionen, für Kooperation wie auch Abgrenzung, das adäquate Führen von Konflikten und Finden von Lösungen und dies idealerweise im therapeutisch wertvollen Hier und Jetzt. Besonders glücklich sind wir, seit Existenz der Klinik, also nun schon seit 22 Jahren, auf die Methoden der Erlebnistherapie zugreifen zu können. Gerade junge Menschen, Menschen mit Wunsch nach Erfolg, Aktion und Erlebnis wie z.B. CrystalMeth-Abhängige, aber ebenso Menschen, welche Internet- und PC-Abhängigkeiten haben, profitieren im besonderen Maße von einem handlungsorientierten und ressourcenfördernden Ansatz in Form der Erlebnistherapie. Erlebnistherapeutische Methoden wurden ursprünglich für die Jugendarbeit entwickelt und zielen insgesamt auf die Verbesserung der Fremd- und Selbstwahrnehmung, der sozialen Kompetenz und der Kooperationsfähigkeit ab. Die Erlebnistherapie geht zurück auf Kurt Hahn, einen bedeutenden Exponenten der Reformpädagogik, dem es in seinem pädagogischen Konzept um die „Therapie“ von Verfallserscheinungen der Gesellschaft ging. Seine „Erlebnistherapie“ bestand aus 4 Elementen: Das körperliche Training, die Expedition, das Projekt und dem Dienst am Nächsten. Integriert werden Therapieelemente aus dem Outdoorbereich, bestehend aus gemeinsamen mehrtägigen Kanutouren, Fahrradtouren und GeoCaching. Im Flachseilgarten (gelegentlich im Kletterwald) und am Kletterturm werden sowohl körperliche Herausforderungen und Grenzerfahrungen, als auch gruppendynamische und Problemlöseaufgaben initiiert. In den Wintermonaten stehen komplexe Gemeinschaftsaufgaben bei sogenannten Citybound-Touren in Berlin und Umgebung im Programm. Über diesen handlungsorientierten Zugang wird es den Patienten leichter gemacht, sich auf einer gemeinsamen Ebene zu treffen, sich zu spüren, Zugang zu schwierigen Themen zu finden und diese zu verbalisieren.

Wie hoch ist der Anteil an jungen Patienten in der Fontaneklinik? Jung … also etwa bis max. 30?

Klein-Isberner: Im letzten Jahr 2015 hatten wir von ca. 570 Patienten in der Entwöhnungsbehandlung ca. 29 Prozent (160 Pat.) im Alter bis 30 Jahren. Bis 35 Jahre steigt der Anteil dann nochmal auf gesamt 44 Prozent (246 Pat.). In unserem konzeptionellen Konzept der „jungen Erwachsenen“ waren es 71 Patienten, also ca. 13 Prozent.

 Wie viele sind alkoholabhängig, wie viele eher mehrfachabhängig?

In unserer Statistik sind wir angehalten, wenn möglich Hauptdiagnosen zu stellen, substanzorientiert, deshalb kommt die Diagnose multipler Substanzgebrauch seltener vor. 2015 hatten wir bei den 17-25-Jährigen 47 Prozent cannabisabh., 24 Prozent stimulanzien-(Methamphetamin)abh., 23 Prozent alkoholabh. Patienten. Bei den 26-30-Jährigen 53 Prozent alkoholabh., 23 Prozent cannabisabh. und 19 Prozent stimulanzien-(Methamphetamin)abh. Patienten. Wir nehmen jedoch jüngere Patienten mit einem deutlichen polytoxen Konsummuster wahr.

 Fällt es jungen Menschen schwerer, sich zur Abstinenz zu entscheiden?

Ja! In ihrer Motivation sind sie häufiger fremdmotiviert durch Eltern, Lehre, Justiz etc. Hinzu kommt der lange „… für immer …?“-Schock. Dann erscheint Verzicht auch vor dem Hintergrund der Bezugssysteme, der Kumpels, Cliquen etc. unvorstellbar – wie nun Party machen? Deshalb beschäftigen wir uns in der Therapie genau mit der Abstinenzentscheidung, der Veränderungsmotivation, mit Teilabstinenzentscheidungen („… reicht es nicht, kein Crystal mehr zu nehmen, kann ich nicht wenigstens mal ein Bier trinken …“).

Welche Probleme haben junge Leute mit einer Abstinenzentscheidung? Was bewegt sie? Und was bewegt sie dann doch dahin?

Ich soll ja verzichten, eine Zukunft ohne „Zaubermittel“ verunsichert oft stark: Die Droge hat z.B. Selbstbewusstsein geschaffen, Probleme verdrängt, soziale Offenheit erzeugt usw., wie soll das auf einmal ohne gehen, wenn ich das aber nie gelernt habe? Junge Erwachsene haben sehr oft keinen Abschluss, keine Ausbildung etc. und daher wenig motivierende Erfahrung, etwas aus eigener Kraft zu schaffen: „Wie soll ich Therapie UND danach ein Leben lang Abstinenz schaffen? Dann lasse ich es gleich bleiben.“

In der Therapie geht es darum, sich nochmal klar zu werden, dass es durchaus Dinge gibt, die nicht funktioniert haben wie Schule/Ausbildung, Konflikte in Familie, und Einsicht zu gewinnen, dass emotionale Belastungen durch anhaltenden Konsum weiter bestehen bleiben und sie sich „endlich mal wieder besser fühlen wollen“, dabei helfen Motivationen durch Familie, Partner, (potentieller) Arbeitgeber etc., aber auch der eigene Leidensdruck, Suizidalität.

Werden junge Leute eher rückfällig? Und auch häufiger?

Ja, schon. Das liegt oft in der Natur der Dinge, sprich im Alter. Oftmals fehlt in jungen Jahren die Erfahrung, viel durch Konsum verloren zu haben. Sie sind oft noch körperlich fit und Haus/ PartnerIn/ Kinder sind auch nicht weg – weil oft noch gar nicht vorhanden. Wir beobachten daraufhin auch teilweise einen noch mangelnden Respekt vor der Krankheit und damit eine geringere Bereitschaft, Lebensumstände grundlegend zu ändern, wie z.B. den alten, konsumierenden Freundeskreis. Junge Menschen bewegen sich auch noch mehr in Gruppen von Gleichaltrigen und da ist es dann oft schwer, gepaart mit einer brüchigen Selbstsicherheit, Angebote abzulehnen. Sich zu trauen, als Nichtkonsument anders zu sein. Und zu guter Letzt haben junge Menschen auch eine höhere Impulsivität, neigen zu kurzfristig getroffenen Entscheidungen. Sie sind risikobereiter und überschätzen sich öfter, haben dann Ideen von kontrolliertem Konsum. Bei uns in der Klinik liegen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen (17-25J.) bezüglich eines Rückfalls während der Behandlung 4,4 Prozent und die 26-30jährigen sogar 7 Prozent über der Rückfallquote der ab 31jährigen.

Brauchen junge Patienten eine “andere” Therapie?  Auch junge Therapeuten usw.? Was tut sich da in der Fontaneklinik?

Ja, das habe ich dem Fragenkatalog als „Vorwort“ schon vorangestellt. Zusammengefasst versuchen wir, mit den jungen Menschen konkreter zu arbeiten, erlebbarer. Der hohe Erlebnisanteil lässt besser wahrnehmen, aber auch besser speichern. Jeder von uns kennt das; etwas zu kennen heißt noch lange nicht, es zu können. In der Erlebnistherapie ERFAHRUNGEN machen, etwas zu schaffen, anstatt nur darüber zu reden, hilft da sehr. Wir erzeugen durch das Miteinander-Tun auch (oft problematisches) Verhalten, bei Grawe (ein renommierter Therapieforscher) heißt das „Problemaktualisierung“. Und dann können mit der Gruppe und mit den Therapeuten oftmals neue Lösungswege gefunden und möglichst oft stabilisiert werden. Konkret bleiben wir auch mit dem sehr alltagsnahen (Zusammen-) Leben in der Gruppe. Hier ist auch die Rolle der Arbeitstherapie wichtig: Arbeit kann auch motivieren: etwas schaffen, gelobt werden, etwas „Sichtbares“ geleistet zu haben.

Das Alter des Therapeuten kann Vor- und Nachteile haben: „Zu alte“ könnten Elternrolle aktivieren und daher zu Widerstand führen, „sich nichts sagen zu lassen“; im Gegensatz hierzu können ältere Therapeuten aber auch stützen, indem sie dem Patienten das geben, was er von eigenen Eltern oftmals nicht bekommen hat (Zuwendung, Ernst nehmen …) – ergo: Es kommt letztendlich darauf an, wie der Therapeut/die Therapeutin es macht, so, dass er/sie als zugewandt wahrgenommen und  respektiert wird, eine Arbeitsbeziehung geschaffen wird.

Haben junge Leute nach der Therapie andere Probleme „draußen” als ältere?

Ja, schon – das Leben findet mehr in Gruppen statt und oft kommt dann das Gefühl, „nichts verpassen zu dürfen“. Das macht Angst, Außenseiter zu werden. Auch kehren sie, weil oft auch noch in Verbindlichkeiten (Lehre, Eltern etc.) und Angst vor „alleinigen“ Neuanfängen oftmals ins alte Umfeld zurück. Und sie erleben ihren Konsum als Teil ihrer Identität, oft stärker als bei älteren, die auch wissen, wer sie ohne Konsum sind.

Kann man zu jung sein für eine Entscheidung zur Abstinenz? Weshalb, weshalb nicht?

Nein – auf keinen Fall. Es keine Altersgrenze für eine Vernunftsentscheidung pro Leben und Gesundheit. Allerdings steht, wie erwähnt, diese Entscheidung viel intensiver, problematischer und teilweise dramatischer im Fokus der Therapie.

(Interview von Anja Wilhelm)

Titelthema 4/16: Über Rückfälle

0416_TrokkenPresse_Berlin_PlakatDen Rückfall verhindern: Aber wie?

Katastrophe. Scheitern. Schande … Es ist noch nicht lange her, dass der Rückfall genau das bedeutete. Für den Betroffenen selbst – und für die Therapeuten. Mittlerweile aber weiß auch die Suchtforschung, dass ein Rückfall Teil von Heilungsprozessen ist. Also eher die Regel als die Ausnahme innerhalb einer Suchterkrankung. Ein Notfall, der eine neue Chance birgt.

Nicht neu dagegen ist die Erkenntnis, dass ein Sucht-Rückfall schwer zu stoppen ist. Daher wird heute der Prävention, der Vorbeugung, eine immer größere Bedeutung gegeben. Die neue, erweiterte Sicht auf das Thema Rückfall hat die Entwicklung neuer Präventionstrainings-Ansätze anscheinend begünstigt. Sie beinhalten zum Beispiel das Durchspielen von Trinksituationen, um neuronale Programmierungen zu unterbrechen (im S.T. A. R.) oder das Üben des achtsamen Wahrnehmens und Annehmens von Gedanken und Gefühlen, um früh aus automatisierten Abläufen aussteigen zu können (im MBPR). Genaueres dazu erfahren Sie ab S. 5 im Beitrag von Dipl.-Psych. R. Schöneck, Leitender Psychologe der salus klinik Lindow ab.

Zuvor aber einige Gedanken zu Rückfall-Ursachen – auch aus eigener Erfahrung – von unserem Autor Dr. Salloch-Vogel.

 

Es ist mal wieder passiert…

Gedanken über Rückfälle
Von Dr. R. R. Salloch-Vogel

Als ich zugeben musste, dass ich aufhören muss, um nicht an meiner Sucht zu sterben, begann eine irgendwie schauerliche Zeit. Wer nicht alkohol- oder drogenabhängig ist, kann sich einfach vorstellen, dass er/sie eines Tages beschließt: Ab morgen rauche ich nicht mehr, oder ich lasse jede Form von Koffein oder Zucker ab morgen bleiben. Aber so ist es für den Süchtigen ganz und gar nicht.

Ich selbst hatte mich nach über 20 Jahren in einen Zustand getrunken, mit dem ich nicht mehr leben konnte: Aufgrund der chronischen Gehirnvergiftung – und genau das hatte ich – und meines erodierten Geistes (Lexikon: Erosion ) hatte ich mich von mir getrennt. Die Lüge schickte mich in eine professionelle Unehrlichkeit, und verlassen hatten mich Gefühle wie Selbstliebe, Nächstenliebe, mich um einzelne Menschen intensiver zu kümmern, mich um mich zu kümmern, einen Arzt oder eine/n Geistliche/n aufzusuchen, jemanden (außer meinen kleinen Kindern) wirklich lieb zu haben. Und das Schlimmste: Ich konnte so viel trinken wie ich wollte, es stellte sich auch kein Fingerhut von Euphorie mehr ein.

So kam der Tag, an dem ich einen Abschiedsbrief schrieb, und als ich diesen Zettel noch einmal las, sagte eine Stimme in meinem Kopf: „Du, Rüdiger, du musst unbedingt einen Psychiater aufsuchen, du bist dabei, dich umzubringen.“

Ich habe oft darüber nachgedacht, ob diese Stimme Gott war, der mich zum Weiterleben verpflichten wollte, oder ob ich einfach nur als „Restzustand“ an meinem Weiterleben interessiert war.

Auf jeden Fall war ich entlastet, dass ich aus der Psychiatrie nicht heraus konnte und nach einigen Wochen dort in einer Sucht Klinik mitten in der Rhön ankam, um eine Entwöhnungsbehandlung zu machen.

Aufgrund der Erfahrungen, die ich seitdem gemacht habe, möchte ich einige Aspekte der Rückfallproblematik niederschreiben.

1.Unglaube, Größenwahn

Als ich in der Klinik ankam, spielten einige braun gebrannte Herren Volleyball, und ich stand da mit meinem Koffer, den ich kaum tragen konnte. Der „Oberspieler“ rannte zusätzlich noch aus sportlichen Gründen einen Berg hinauf, den man den „Promille-Weg“ nannte, und war einer der ersten, wenn ich mich recht erinnere, der rückfällig wurde. Zu diesen Menschen gehören auch solche, die in der Gruppe so eine Art Teilentscheidung verkünden:

„Ich will ehrlich bleiben, ich werde zwar ein oder zwei Jahre nicht trinken oder kiffen, aber danach probiere ich mal wieder etwas.“

Unglücklicherweise meinen manche Therapeuten, eine solche Entscheidung wäre ja gar nicht so schlecht, denn vielleicht würden die Patienten in diesen zwei Jahren etwas dazu lernen. Suchterkrankungen sind in der Regel tödliche Erkrankungen, chronischer Alkoholismus verkürzt das Leben um 20 Jahre. Theoretisch ist das, was ich über die Therapeuten gesagt habe, vielleicht sogar möglich, aber da etwa 40 Prozent der PatientInnen bei dem Besuch einer Selbsthilfegruppe in guten Kliniken ohnehin abstinent bleiben, rate ich davon ab, in ein Flugzeug einer Airline zu steigen bzw. es zu fliegen, von denen 60 Prozent abstürzen.

Mir selbst wurde schon nach einer Woche dort in der Klinik ein Rat gegeben, den ich nie vergessen konnte. Ich war nämlich ganz wild darauf, wieder abzureisen. Nach etwa einer Woche war ich soweit und machte einen Spaziergang, bevor ich mich von der Klinikleitung verabschieden wollte. Ich stellte mir also vor, wann und wie ich in den Zug steigen wollte, als vor mir wie auf einer Leinwand ein riesiges Glas „König Pilsener“, auftauchte. Ich spürte sofort, dass das ja nicht zu meinem Entschluss passte, keinen Alkohol mehr zu trinken und stellte mir die Frage, ob ich wohl imstande wäre, ohne Alkohol nach Berlin zu fahren – immerhin fünf Stunden. Ich setzte mich auf einen Baumstumpf und begann bitterlich zu weinen, weil mir hier in der Waldeinsamkeit gnadenlos klargemacht wurde, dass ich Alkoholiker bin und bleibe und eine lange Weile Zeit brauchen werde, um zu lernen, mit einem Flieger, Zug oder Auto zu reisen, ohne Alkohol zu konsumieren.

2.Unfriede

Vor über 30 Jahren machten sich zwei amerikanische Suchttherapeuten Gedanken darüber, was wohl der härteste, gefährlichste Auslöser eines Rückfalles sein könnte. Und sie kamen auf den Begriff „Unfriede“. Jemand der ohne Frieden (unzufrieden) lebt, wird sehr wahrscheinlich wieder rückfällig. Woraus man zusätzlich noch lernen kann, dass man in Ruhe und Frieden zusammen mit anderen Abstinenten die Möglichkeit wesentlich erhöht, in Zukunft abstinent zu leben. Seit vielen Jahren lebe ich nicht nur nach einem bestimmten Programm, das meinen Frieden verbessert, sondern auch nach dem Satz: „ Ich kann keinen so betrügen wie mich selbst.“

Das ist der Moment, an dem ich auf die „Suchtfibel“ von Ralph Schneider hinweisen möchte. Schneider hat ein Buch geschrieben, das in der 14. Auflage 2009 etwa 38 Jahre alt ist und eine der wenigen wirklichen Verbesserungen für die Suchtkrankentherapie (stationär und ambulant), besonders aber für die PatientInnen darstellt.

Als zweites wichtiges Buch steht mir ein Teil der Lebensgeschichte von Viktor Frankl zur Seite. „… trotzdem Ja zum Leben sagen .Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“.

Essenz dieses Buches ist es, dem Sinn unseres Lebens zu dienen, indem wir endlich aufhören, hinter den Suchtmitteln, den Ärzten, der Welt und Gott hinterher zu jammern, und endlich darauf hören, was das Leben uns sagen will.

3.Bereitschaft

Alle, die in der „TrokkenPresse“ lesen, wissen, dass es eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt, wie Rückfälle vermieden und persönliche Defizite ausgeglichen werden können. Beides benötigt Zeit, und meine Erfahrung als Psychotherapeut mit 27 Jahren Abstinenz hat mich gelehrt, dass eine solche persönliche Aufgabe unter drei bis vier Jahren nicht zu bewältigen ist. Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass meine Abstinenz lebenslang dauern sollte, ähnlich wie ich mich um meinen Altersdiabetes und mein Vorhofflimmern am Herzen kümmern muss, wenn ich noch eine Weile angenehm leben will.

Etwa 1940 hat einer der beiden Gründer der Anonymen Alkoholiker, Bill W., in einem Büchlein über die Zwölf Schritte darauf hingewiesen, dass es sich zu Beginn und auch dauerhaft um die „Bereitschaft“ handeln sollte, gegen meine Sucht und die gesamten damit verbundenen Lebensumstände regelmäßig etwas zu tun, um nicht rückfällig zu werden und zufrieden leben zu lernen.

Wenn wir in meiner Gruppe „Sinnfindung“ über diese „Bereitschaft“ sprechen, werde ich oft gefragt, warum ich mich denn nicht für die Abstinenz entschieden hätte.

Als meine Abstinenz begann, war ich gar nicht fähig, etwas zu entscheiden. Dazu hatte ich in vielen Jahren Alkoholismus gelernt, wie unfähig ich für Entscheidungen zur Abstinenz seit Jahrzehnten gewesen bin, sodass ich mir eine solche Entscheidung auch gar nicht zutraute.

Damals, als ich in die Psychiatrie kam, habe ich mich gegen meinen Alkoholismus entschieden, aber nicht, weil das eine großartige Eigenleistung gewesen wäre, sondern weil ich mich nicht umbringen wollte.

Für mich steht der Begriff Bereitschaft wie ein ständiger Regenbogen über allem in meinem Leben, um mich zu behüten und täglich gegen meinen Alkoholismus etwas zu unternehmen, aber auch für mich sorgen und mein Leben gegen die Sucht anzuregen und mit den „Suchtspielchen“ aufzuhören. Sie ist für mich heute ein stetig und sanft brennendes Feuer für mein Leben, wie die Liebe zu meiner Frau, meinen Kindern und Enkelkindern.

Schneider und nicht wenige andere Autoren haben die vielfältigen Berichte und Arbeiten, was ich alles gegen meine Sucht und ihre Auswüchse tun kann, ausführlich beschrieben. Nun muss ich das nur noch lesen und mich entsprechend verhalten. (Zuhören nicht vergessen!)

Ich habe ganz bewusst hier nicht noch einen längeren Abschnitt über den Sinn der Selbsthilfegruppen angefügt. Es ist so wichtig, dass wir andere Menschen haben, und zwar lebenslang, und dass unsere Abstinenz dort für mich ausreichend akzeptiert wird. Ohne andere Menschen kann ich nicht leben!

 So ende ich mit der Zusammenfassung (am Anfang): Die meisten Rückfälle entstehen durch Unglaube und Größenwahn, durch eigenen Unfrieden und dadurch, dass ich im Unfrieden mit mir und anderen lebe, aber auch durch eine mangelnde Bereitschaft, mich abstinent zu verhalten, und in eine Selbsthilfegruppe zu gehen.

Ich kenne aber auch viele Menschen, die abstinent zufrieden leben. Wie oft habe ich anderen Menschen etwas geraten und die Antwort bekommen: „Das ist ja sehr freundlich, Herr Doktor, welche Mühe sie sich geben, aber das werde ich nicht machen.“ Manchmal bedrückt mich das und manchmal nicht.


Rückfall und Prävention: „Alles nur eine Frage des Willens … oder vielleicht doch nicht?“

Einleitung

Bis Anfang der 90er Jahre endeten viele Entwöhnungsbehandlungen nach einem Trinkrückfall während der Behandlung. Einerseits wurde dem Rückfälligen fehlender „Wille“ unterstellt. Auf der anderen Seite wurde an der langfristigen Wirksamkeit der Behandlung gezweifelt. Zudem sollte die Härte der Maßnahme als eine Art „Abschreckung“ für die anderen, in der Behandlung verbleibenden, Betroffenen dienen. Neben ideologischen Gesichtspunkten wurde die Intervention darauf zurückgeführt, dass die Behandlung eine Art „Impfung“ für die Krankheit „Sucht“ darstellen sollte. Womit die Chancen auf Erfolg entsprechend gering eingeschätzt wurden, wenn der Betroffene schon während der „Impfung“ rückfällig wurde.

Viele betroffene Alkoholkranke vertreten gerade zu Beginn der Abstinenz (egal ob in einer Entgiftung, Alkoholentwöhnungsbehandlung oder in der Selbsthilfegruppe) die Meinung, dass es vor allem eine Willensfrage ist, ob „man“ trocken bleibt oder nicht. Dabei fällt es schwer, sie zur Auseinandersetzung mit ihrem Trinkverhalten in der Vergangenheit, möglichen Risikosituationen oder bereits erfolgten Rückfällen zu motivieren. Dies ist zum Teil dem bestehenden Schamgefühl oder möglichen Kränkungserleben („Ich habe doch gesagt, ich trinke nichts mehr, wieso glaubt mir keiner!“) geschuldet. Vermutlich spielen noch eine Reihe von individuellen Gründen eine Rolle, die eine Auseinandersetzung mit potenziellen Rückfallgefahren schwer macht. Der „Wille“ wird es schon richten ist somit nicht nur der Glaube, sondern auch die Hoffnung vieler Suchtpatienten.

In der Suchttherapieforschung konnten in den vergangenen 25 Jahren neue Erkenntnisse gewonnen werden. Die geschilderte Herangehens- und Denkweisen können unter diesen Gesichtspunkten heute als überholt bewertet werden. Eine Entwöhnungsbehandlung wird derzeit als eine Möglichkeit des „Neulernens“ interpretiert. Der Betroffene soll dabei lernen, sein Leben ohne Alkoholkonsum zu bestreiten. Ähnlich wie beim Erlernen eines Musikinstruments heißt das einmalige Verspielen an einer schwierigen Stelle (was einem Rückfall entspricht) noch lange nicht, dass der Betroffene das Instrument niemals beherrschen wird. Lindenmeyer (2009) beginnt seinen Lehrbuchbeitrag folgendermaßen: „Bei einer Vielzahl von psychischen Störungen handelt es sich um chronische Erkrankungen, für die ein phasenhafter Verlauf charakteristisch ist. […] In allen diesen Fällen gehört der Rückfall ganz offensichtlich zum Störungsbild“. Lindenmeyer möchte damit hervorheben, dass in der Behandlung von chronisch-psychischen Erkrankungen, zu denen auch die Alkoholabhängigkeit zählt, eine adäquate Rückfallbehandlung dazugehört. Dabei stammt die Grundidee zur Rückfallprävention bereits aus der Mitte der 80er Jahre. Marlatt (1985) beschrieb am Beispiel der Raucherentwöhnung den langen Weg vom Raucher zum Nicht-Raucher über eine „Expeditionsmethapher“. In dieser Metapher nahm er vorweg, dass nicht jede Expedition auf Anhieb erfolgreich verläuft und im Wesentlichen der Erfolg einer Expedition von der Vorbereitung und der jeweiligen Ausrüstung abhängt. Auf der anderen Seite enttabuisierte er das Thema Rückfall und machte deutlich, dass auch derjenige, der einen Rückfall in alte Verhaltensweisen erlebt, zuvor etwas gelernt hat und dieses Wissen bei einem erneuten Versuch hilfreich sein kann. Der Musikschüler der sich bei dem Stück verspielt, vergisst in der Folge auch nicht die bereits erlernten Handgriffe beim Spielen des Instruments. Vermutlich wird er sich aber danach umso mehr mit den schwierigen Stellen beschäftigen und üben, diese zukünftig fehlerfrei zu spielen. Insofern versuchte bereits Marlatt, das Thema Rückfall und die Auseinandersetzung damit in die Behandlung von psychischen Erkrankungen zu integrieren.

Knapp 30 Jahre nach Marlatts Erstveröffentlichung (1985) liegen unterschiedliche Konzepte und Herangehensweisen zum Thema Rückfallprävention bzw. Rückfallbewältigung vor. Dieser Artikel möchte kurz das heutige Verständnis von Rückfällen darstellen und drei aktuelle Ansätze zur Rückfallprävention vorstellen und diskutieren.

Der Rückfall

In den letzten Jahrzehnten gelang es, durch systematische Forschung verschiedene Informationen zum Thema Rückfall zu sammeln (Lindenmeyer, 2009).

Über das kritische Zeitfenster weiß man heute, dass die ersten drei Monate nach einer erfolgten Entwöhnungsbehandlung am „gefährlichsten“ sind. Bis zu 60 Prozent aller Rückfälle ereignen sich in dieser Zeit. Die Inhalte einer Therapie müssen erst in den Alltag integriert werden. Zudem muss der Betroffene Situationen bewältigen, die in der Behandlung so nicht vorkamen. Anstelle von Ergotherapie tritt die Kinderbetreuung oder der Abwasch. Aus Diskussionen mit den Mitpatienten oder Auseinandersetzungen innerhalb der therapeutischen Gruppe werden Konflikte mit Kollegen und Vorgesetzten oder mit den Partnern, bei denen kein moderierender und unterstützender Therapeut zur Seite steht. Zudem gibt es auf Feiern und sozialen Anlässen die erste Konfrontation mit Alkohol sowie gleichermaßen soziale Verführungen durch Trinkangebote. In diesem Zeitraum zeigt sich wie zu keinem anderen Zeitpunkt, ob die „Übung und das Training“ während der Behandlung erfolgreich waren.

Nach den ersten drei Monaten bleibt ein erhöhtes Risiko bis zu einem Jahr bestehen. Danach gehen die Rückfallquoten signifikant zurück und nähern sich zunehmend der Null an, ohne diese jemals zu erreichen. Auch nach 20 Jahren stabiler Abstinenz besteht ein gewisses Rückfallrisiko. Zu den „Auslösern“ von Rückfällen lässt sich festhalten, dass ca. 60 Prozent im Zusammenhang mit sog. „inneren Risikosituationen“ (z.B. unangenehme oder angenehme Gefühlszustände, plötzliches Verlangen, der Versuch des kontrollierten Konsums) und 40 Prozent der Rückfälle mit „äußeren Risikosituationen“ (z.B. Konflikt- oder Verführungssituationen) stehen.

Es gibt unterschiedliche Rückfallverläufe. Bei einem Teil der Betroffenen gleicht der Rückfall einem sofortigen „Absturz“ in das frühere Trinkverhalten. Bei anderen kommt es zu einem „schleichenden Rückfall“, an dessen Ende erneut der Kontrollverlust steht.

Insgesamt zeigen die Untersuchungen, dass es schwerer ist, einen Rückfall zu stoppen, als einen Rückfall zu vermeiden. Im Rahmen der Behandlung sollte daher neben dem Umgang mit einem erfolgten Rückfall gerade die Rückfallprävention, also das vorbeugen eines Rückfalls, einen Schwerpunkt darstellen.

Das Prinzip der dosierten Informationsvermittlung:

Lieber schlau als blau

Lindenmeyer (2016a) stützt sich in der Rückfallprävention auf das sozial-kognitive Rückfallmodell von Marlatt (1985). Lindenmeyer trägt den Schwierigkeiten in der Annäherung an das Thema Rückfall, bzw. Akzeptanz der Abhängigkeit, in „Lieber schlau als blau“ Rechnung, indem er sich systematisch auf Erkenntnisse der Selbstkonzeptforschung bezieht: Danach versucht eine Person, ihr Selbstwertgefühl dadurch zu schützen, dass sie Informationen aus der Realität nur dann anerkennt, wenn diese in einer erträglichen Diskrepanz zu bisherigen Grundüberzeugungen stehen. Alle anderen Aspekte der Realität werden dagegen als zu bedrohlich abgewehrt. Entsprechend erleichtert „Lieber schlau als blau“ Suchtkranken die Integration von therapieförderlichen Information in ihr Selbstkonzept dadurch, dass genügend Spielraum besteht, um sich zunächst schrittweise mit jenen Aspekten von suchtbezogenen Informationen auseinanderzusetzen, die in keinem Widerspruch zu ihren bisherigen Überzeugungen stehen (Prinzip der dosierten Informationsvermittlung). Alle 15 Kapitel von „Lieber schlau als blau“ greifen zunächst häufige Bedenken von Betroffenen gegen eine Suchtbehandlung auf. Wo immer möglich, werden die das Selbstwertgefühl stützenden Selbstpostulate ausdrücklich bestätigt und erst danach neue suchtbezogene Informationen angeboten (Lindenmeyer, 2016b).

In der Praxis der Behandlung von Suchtkranken erfolgt dann der nächste Schritt. Es erfolgt eine detaillierte Abhängigkeitsanalyse sowie die Bearbeitung der individuellen Ambivalenzen. Zuletzt erfolgt die Konfrontation mit der Alltagsrealität. Dies umfasst das Ablehnungstraining in sozialen Situationen ebenso wie schließlich die Expositionsbehandlung, in der sich der Betroffene, zunächst angeleitet durch den Therapeuten, seiner persönlichen Risikosituation (einschließlich der Konfrontation mit seinem Lieblingsgetränk) aussetzt und lernt, das Verlangen zu bewältigen, so dass mehr Sicherheit in der abstinenten Bewältigung von Risikosituationen entsteht. Dieses Vorgehen ist der Erkenntnis geschuldet, dass es in Deutschland nahezu unmöglich ist, allen Versuchungssituationen oder Risikosituationen zu entgehen und dass, trotz aller Unterstützungssysteme, letztlich der Suchtkranke selbst lernen muss, alleine kritische Situationen zu bewältigen. In Analogie zum Autofahren. Trotz aller Hilfesysteme, die ein modernes Auto bietet, ist es letztlich doch vom geübten Fahrer abhängig, ob Risikosituationen unfallfrei bewältigt werden. Auch hier helfen Wissen und guter Wille alleine nicht, sondern vor allem die Übung in der Bewältigung von Risikosituationen.

Das Strukturierte Trainingsprogramm zur Alkohol-Rückfallprävention (S.T.A.R.)

S.T.A.R. (Körkel & Schindler, 2003) bietet dem therapeutisch Tätigen Handlungsanleitungen zur Durchführung von 15 Modulen zu je 90 Minuten. Wie Lindenmeyer (2016) beziehen sich auch Körkel & Schindler auf Marlatt (1985). Im Gegensatz zu Lindenmeyer´s „Lieber schlau als blau“ bietet das Programm aber kaum die Möglichkeit für Betroffene, sich alleine und ohne angeleitete Gruppe dem Thema zu nähern. Innerhalb der 15 Module werden neben der Erarbeitung von Informationen und Ambivalenzen, Übungen zum Erkennen und Bewältigen von Hochrisikosituationen, sozialer Verführung bzw. sozialer Integration, zum Umgang mit Gefühlen, Verlangen, dem Wunsch nach kontrolliertem Trinken und zur Entwicklung eines ausgewogenen Lebensstils angeboten.

Die Module sind als Gruppenprogramme für eine Gruppengröße von bis zu zwölf Mitgliedern angelegt. In der Gruppe werden den einzelnen Gruppenmitgliedern der Raum und die Möglichkeit geboten zum Erfahrungsaustausch, vor allem aber auch zur Erarbeitung eigener Standpunkte zu den vorgesehenen Themen. Ziel ist ein lebendiges, erfahrungsorientiertes Lernen. Für jedes einzelne Modul existieren klare Zielvorgaben, die in Form von Einzelerarbeitungen, Kleingruppen- oder Großgruppenarbeiten sowie Rollenspielen erreicht werden sollen.

Die Struktur der Gruppensitzungen ist immer gleich, d. h. zu Beginn findet nach der Begrüßung eine Einführung zum Thema statt. Anschließend erfolgt eine Bearbeitung der Themen in Form von Diskussionen, einem Quiz oder auch aktiver Gestaltung (z. B. Bilder malen), was schließlich in einem Plenum zusammengetragen und gemeinsam ausgewertet wird.

Aus unserer Sicht problematisch wird der Umgang mit der Option des sogenannten kontrollierten Trinkens und sogenannten Ausrutschern gewertet. Sicherlich zeigt die Erfahrung, dass viele Alkoholkranke es nicht im ersten Anlauf schaffen, dauerhaft abstinent zu bleiben, und dafür nicht verdammt werden dürfen. Zudem macht es einen deutlichen Unterschied, ob jemand nach Abschluss einer Behandlung wieder in das alte Trinkverhalten zurückfällt oder im Rahmen einer „Erprobung seiner Willensstärke“ einen Rückfall beim „kontrollierten Trinken“ hat. Gerade im letzten Fall sind wir der Meinung, dass dieser „Denkfehler“ und die dahinterliegende Selbstüberschätzung nicht unterstützt werden sollten.

Achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention (MBRP)

Ein neues u.a. von Marlatt mitentwickeltes Programm (Bowen, Chawla, Marlatt, 2012) beschäftigt sich vorrangig mit der Prävention von Rückfällen. Die Achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention (MBRP – Mindfulness-based relapse prevention) kombiniert dabei bisherige Ansätze zur Rückfallprävention mit Meditationspraktiken. Das Programm soll die Aufrechterhaltung der Behandlungserfolge absichern, in der ambulanten Suchtnachsorge eingesetzt werden und ist zur Durchführung in der Gruppe konzipiert. Marlatt sieht in der meditativen Achtsamkeit eine der nützlichsten Bewältigungsfertigkeiten bei Suchtmittelverlangen. Neben der Sicherstellung des Behandlungsziels „Abstinenz“ betrachtet Marlatt das Programm zudem als eine Möglichkeit, den Lebensstil des Betroffenen zu verändern, um das allgemeine Wohlergehen und die Genesung zu fördern.

Zunächst liegt der Schwerpunkt des MBRP darin, persönliche Auslöser und Risikosituationen für zukünftige Alkoholrückfälle zu identifizieren und angemessene Bewältigungsfertigkeiten zu entwickeln. Hier ähnelt das Programm anderen gängigen Rückfallpräventionsansätzen (RP) und kann am ehesten als „kognitiv-verhaltenstherapeutisch“ beschrieben werden. Ab diesem Punkt wird im MBRP das Konzept der „Achtsamkeit“ eingeführt, worin der wesentliche Unterschied zu anderen RP-Programmen liegt. Die Teilnehmer sollen sich im weiteren Verlauf des Programms mit dem Konzept der Achtsamkeit vertraut machen. Dazu nutzt das Programm Meditationsübungen (Vipassana- oder „Einsichts“-Meditationen), um zunächst die bewusste Wahrnehmung des eigenen Körpers zu ermöglichen. Neben dieser Grundlage der Achtsamkeit werden weitere achtsamkeitsbasierte Übungen (u.a. bewusste, wertungsfreie Wahrnehmung von Gefühlen und Gedanken) aufgenommen.

Neben der gemeinsamen Übung in der Gruppe setzt das Programm voraus, dass die Teilnehmer regelmäßig und täglich Achtsamkeits- bzw. Meditationsübungen durchführen. Dabei ist gerade das regelmäßige Training als eine der wesentlichen Erfolgsvariablen beschrieben. Durch den Einsatz von Achtsamkeitsübungen soll der Teilnehmer gegenüber Suchtdruck und Suchtverlangen eine neue und gelassenere Haltung entwickeln. Marlatt bewertet gerade Stress und Anspannung als die wesentlichen Auslöser von Suchtdruck und Alkoholrückfällen. Eine auf Achtsamkeit basierte Rückfallprävention soll dazu befähigen, den sog. „Autopiloten“ (Marlatt versteht darunter die automatisierten Bewertungsprozesse im Zusammenhang mit Suchtmitteldruck) „auszuschalten“ und gelassen, wie aus der Ferne, sich selbst und die auftretenden Sucht-Gedanken und Gefühle zu beobachten. Dabei geht es im Kern darum, sich durch Suchtdruck nicht mehr in den Rückfall „treiben“ zu lassen.

Die Autoren erheben den Anspruch, dass sich das Programm in der Nachsorge bewährt hat. Auf der anderen Seite bedarf es auf Seite der Teilnehmer eine geduldige und neugierige Haltung. Achtsamkeit gehe nicht „nebenher“, sondern bedarf eines Lebenswandels. Zudem „warnen“ die Autoren davor, dass die Teilnahme auch die Sichtweise auf andere Dinge im Leben beeinflussen kann. Das MBRP sollte von Therapeuten durchgeführt werden, welche bereits eigene Erfahrung mit Meditation und Achtsamkeit gesammelt haben.

Fazit:

Manchmal hört man sowohl aus dem Mund von Therapeuten wie Suchtkranken: Rückfälle gehören dazu! Was den Schluss nahelegt, dass man gar nicht dauerhaft abstinent leben kann, ohne nicht wenigstens hin und wieder rückfällig zu werden. Tatsächlich zeigen viele Suchtkranke, die auf eine jahrzehntelange Abstinenz zurückblicken, dass Rückfälle nicht zwingend auftreten müssen. Ein Jahr nach der Behandlung waren im Jahre 2011 54,4 Prozent der Patienten abstinent und hatten bis zu diesem Zeitpunkt keinen Rückfall erlebt (Qualitätsbericht salus Klinik Lindow, 2012). Bei der Betrachtung dieser Patienten fällt auf, dass die radikale Akzeptanz der Abhängigkeit einen positiven Einfluss hat. Wesentlicher scheint jedoch die Vorbereitung auf und Auseinandersetzung mit Risikosituationen bzw. Rückfallsituationen. Rückfälle können also vorkommen, sind aber immer auch ein Hinweis darauf, dass Risiken falsch eingeschätzt, oder unvorbereitet eingegangen wurden. Die Veränderung vom trinkenden Leben zum abstinenten Leben ist ein Prozess, der mit Widrigkeiten und Rückschlägen (Rückfällen) einhergehen kann. So ist auch das Lernen des abstinenten Lebens ein manchmal anstrengender und schwieriger Weg, der sich perspektivisch aber immer lohnt. Die vorgestellten Präventionsprogramme sollen helfen, Mittel und Wege für einen bewussteren und kompetenteren Umgang mit Rückfallrisiken zu finden.

 Dipl.-Psych. R. Schöneck, Leitender Psychologe

Dipl.-Psych. P Dufeu, salus klinik Lindow

Literatur:

Bowen, S. & Chawla, N. & Marlatt, G. A. (2012) Achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention bei Substanzabhängigkeit: Das MBRP-Programm. Beltz Verlag, Weinheim, Basel

Körkel, J. & Schindler, C. (2003) Rückfallprävention mit Alkoholabhängigen – Das strukturierte Trainingsprogramm S.T.A.R.. Springer Medizin Verlag, Heidelberg.

Lindenmeyer, J. (2005) Fortschritte der Psychotherapie Bd. 6: Alkoholabhängigkeit. (2. Aufl.) Hogrefe, Göttingen.

Lindenmeyer, J. (2009) Rückfallprävention, in Margraf, J. & Schneider, S. (2009) Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Springer

Lindenmeyer, J (2012) Qualitätsbericht 2011 salus Klinik Lindow.

Lindenmeyer, J. (2016a) Lieber schlau als blau. (9. Aufl.) Beltz Verlag, Weinheim, Basel

Lindenmeyer, J. (2016b) Motivierung durch dosierte Information. In: Salü, 10. Jahrgang, Juni 2016, salus klinik Lindow

Marlatt, G. A. (1985) Relaps prevention: Maintenance strategies in the treatment of addictive behaviors. Guilford, New York.

 

 

Titelthema 3/16: Gruppe adé??

TP0316 Druck-PlakatSelbsthilfegruppe – was kann sie wirklich?

Gehen Sie regelmäßig zu einer Gruppe, liebe LeserInnen? Ja? Oder nein?
Und wenn nicht, droht dann wirklich bald der Rückfall? Dieses Thema wird unter Betroffenen oft diskutiert. Gibt es doch seit jeher die klare Ansage von langjährig Trockenen und Therapeuten: die echte, lebendige Gruppe ist überlebensnotwendig, denn sie bietet Hilfe und Schutz. Ist das wirklich so?

Bundesweit gibt es etwa 7000 Selbsthilfegruppen für Alkoholsüchtige, mit geschätzten 120 000 Mitgliedern. Eine Umfrage der Thüringer Landesstelle für Suchtfragen aus dem Jahre 2011 stellte fest: 85 Prozent aller Thüringer Suchtkranken, die regelmäßig eine SHG besuchen, sind (bisher) nicht rückfällig geworden.

Internationale Studien ergab, zusammengefasst, eine Verbesserung von Abstinenzdauer, Arbeitsfähigkeit und sozialer Wiedereingliederung von Alkoholkranken, die regelmäßig und aktiv in Gruppen sind – im Unterschied zu Kontrollgruppen, die keine SHG besuchen. „…kann man angesichts der Vielzahl positiver Befunde von einer Wirksamkeit psychologisch-therapeutischer Selbsthilfegruppen bei psychischen Störungen im weiteren Sinn ausgehen. Offene Fragen bleiben hinsichtlich des Umfangs der Wirksamkeit …“ (selbsthilfegruppenjahrbuch 2012, S. 153).
Im Klartext: Es gibt keine allgemeinen Zahlen, die beweisen können, WIE wirksam Selbsthilfe ist, sondern einzig, DASS sie wirksam ist.

Aber ist das nicht im Grunde auch egal, solange jeder, der in einer Gruppe Zuhause ist, für sich selbst das Gefühl von hilfreicher Gemeinschaft Gleichgesinnter hat? Die Erfahrungen jener, die in eine Gruppe kommen und nicht nach drei Monaten wieder fernbleiben wie etwa die Hälfte der Neulinge, sprechen für sich: „Wenn ich mich mit meiner Gruppe treffe, gibt mir das immer wieder Kraft für den Alltag. Ich habe dort wirkliche Freunde gefunden, mit denen ich über alles offen sprechen kann. Wo mir zugehört wird. Und ich selber zuhöre. Die Gruppe ist fester Bestandteil meines trockenen Lebens geworden“, sagt Marina* aus Brandenburg.

Natürlich gibt es auch diejenigen, die andere Erfahrungen gesammelt haben: „Ich habe zwei Anläufe genommen, die Chemie passte aber nicht“, erklärt Franz* aus Berlin. Und Anna*: „Es wurde immer das Gleiche erzählt. Alkohol hier, Alkohol da … und immer kluge Ratschläge. Ich hätte die falsche Arbeit, die falschen Freunde, das falsche Umfeld.“

Und natürlich gibt es auch Betroffene, die keine Gruppe finden, weil es gar keine gibt, besonders in ländlichen Gebieten. Und es gibt diejenigen, die ohne Therapie und nur in der Gruppe trocken geworden und geblieben sind. Dann wären da aber auch noch die, die ohne reale Gruppe seit Jahrzehnten noch immer trocken sind. Reale Gruppe? Ja, denn auf der Ebene der Kommunikation hat sich seit Internet und Facebook so einiges verändert, eine andere Art von Gruppe ist entstanden, die virtuelle: „Ich habe eine SGH hier in facebook. Ich finde gut, dass sie jederzeit da ist. Es sind zu jeder Tageszeit Ansprechpartner da. Und ein Administrator online, der im Notfall auch telefonieren oder die Polizei verständigen kann, wenn es jemandem sehr schlecht geht. Sogar Hilfe bei Ämtern wird vermittelt, bei der Wohnungssuche geholfen …“, postet Karin.

Die Vorteile einer virtuellen Gruppe: Nur ein paar Klicks im Internet – schon gibt es sie. Man muss als Mitglied nirgendwohin. Kann „reden“ und fragen, wann immer man es braucht. Auch hier entstehen oft Freundschaften fürs reale Leben.

Wie wir sehen, gibt es viele verschiedene Erfahrungen und Wege beim Thema Gruppe. Die Empfehlung der Suchttherapie aber bleibt nach wie vor: Mindestens ein Jahr lang nach der stationären Therapie noch eine Gruppe zu besuchen.

Der Bedarf an Selbsthilfe scheint vorhanden zu sein wie eh und je. Es entspricht dem sozialen Wesen Mensch, sich bei anderen Menschen Hilfe zu suchen – oder anderen Hilfe zu schenken. Nur ändert sich mit den technischen Möglichkeiten wohl auch die Art und Weise, wie wir das tun …

Was kann Gruppe nun wirklich? Antworten dazu im folgenden Interview mit Jürgen Heckel, Kommunikationstrainer, Selbsthilfe-Experte, Autor und selbst langjährig trocken. Berichte über Erfahrungen mit Gruppen lesen Sie auf S. xx und in unserer Hausdestille.                                                                                                                                                 Anja Wilhelm

 

(*Namen von der Redaktion geändert)


Der Mensch ist des Menschen Arznei …

Über die Selbsthilfegruppe und wie und wodurch sie funktioniert*

Mit Jürgen Heckel, Alkoholiker, über 30 Jahre trocken, Suchtberater, Buchautor, Kommunikationstrainer und Diplom-Bibliothekar, der von sich hofft, auf dem Weg zur Nüchternheit zu sein, sprach Autor Hans-Jürgen Schwebke, Alkoholiker, über 12 Jahre trocken.

Herr Heckel, warum gehen Sie nach über 29 Jahren Abstinenz immer noch in eine Gruppe?

Ich traf bei meinem ersten Gruppenbesuch auf Menschen, die offen und ehrlich über sich sprachen, was ich in anderen Veranstaltungen so noch nie erlebt hatte.

In Ihrem inzwischen in 6. Auflage erschienenen Buch „Sich das Leben nehmen: Alkoholismus aus der Sicht eines Alkoholikers“ beschreiben Sie ausführlich Ihren Weg mit Hilfe der Anonymen Alkoholiker (AA).

Gott sei Dank gibt es viele unterschiedliche Selbsthilfegruppen mit unterschiedlichen Arbeitsweisen: die Anonymen Alkoholiker, den Kreuzbund, das Blaue Kreuz, die Guttempler, örtliche Freundeskreise und unzählige andere.

Betroffene sollten sich, meiner Meinung nach, zehn verschiedene Gruppen anschauen, bevor sie urteilen. Bei dem einen hilft diese Gruppe, beim anderen wiederum eine ganz andere. Die Wege in die Sucht sind individuell, die Wege heraus auch. Wenn zwei Alkoholiker den gleichen Genesungsweg versuchen, wird einer scheitern.

Es geht nicht um gute oder schlechte Abstinenzverbände oder Gruppen …?

Nein, es geht um die Frage: Welche Gruppe ist wann für wen tauglich? Ich wählte meine Gruppe, weil ich dort keinem Guru oder einem Programm zu bedingungslosem Gehorsam verpflichtet werde. Ich werde nicht gezwungen, meine Identität abzugeben, um eine vorgeschriebene anzunehmen. Für mich ist wichtig, dass die Macht über mein Leben in den eigenen Händen bleibt, das heißt: Ich kann meine Identität entwickeln. Ich habe über die Jahre gelernt: In einer Selbsthilfegruppe bekommt ein Süchtiger nicht das, was er möchte, sondern das, was er braucht – Wahrheit und Klarheit, Empathie und Konfrontation.

Mitglieder in Selbsthilfegruppen lassen sich ein Leben lang auf einen seelischen Entwicklungsprozess ein, für den sie selbst die Verantwortung übernehmen. In einer Selbsthilfegruppe hilft nicht einer dem anderen, sondern jeder hilft sich selbst und dadurch hilft er den anderen.

 Worin besteht das Ziel einer Selbsthilfegruppe?

Ziel einer Sucht-Selbsthilfegruppe ist die Suchtbefreiung. Der „Trick“, den ich anwenden muss, um mit meiner Sucht umgehen zu lernen, ist folgender: Ich muss mein Leben so umorganisieren, dass es mir ohne Droge deutlich besser gefällt als zuvor, dass ich es als einen Gewinn empfinde, trocken zu leben, nicht als Verlust. Ich verliere nichts, ich gewinne: an Menschlichkeit, Nähe, Sensibilität, Wärme, Freiheit. Das bedeutet Aufbau eines gelingenden Lebens mit neuer klarer Wert-, Sinn- und Zielorientierung. Wir Alkoholiker sind zum guten Leben verurteilt. Ich bin gezwungen, mich auf umfassende Veränderungsprozesse einzulassen.

Woran liegt es, dass Alkoholiker und Außenstehende den Gruppenbesuch oft mit Schwäche verbinden?

Für mich ist der Besuch einer Selbsthilfegruppe quasi ein Trainingslager, ein geschützter Raum zum gefahrlosen Ausprobieren. Die Entscheidung, zukünftig abstinent zu leben, vergleiche ich dabei mit einer Expedition von den Sümpfen der Sucht zum Berg der Freiheit, bei der ich mit Höhen und Tiefen, Schwierigkeiten und Fehlschlägen zurechtkommen muss. Die Gruppe ist dabei immer wieder Trainingscamp, in dem sich gezielt und speziell mit den möglichen Problemen und Schwierigkeiten der Gruppenmitglieder auseinandergesetzt und Problemlösungen erarbeitet und trainiert werden können. Ein Gruppengespräch in diesem Sinne enthält großartige Chancen: Voneinander lernen, füreinander da zu sein, beieinander Verständnis zu finden, untereinander offen zu reden, sich zu begegnen, sich zu berühren, sich mitzuteilen in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes: Erfahrung, Kraft und Hoffnung miteinander teilen. Immer, wenn ich mit den Freunden in einer Gruppe beisammen bin, überkommt mich das beglückende Gefühl, dass mir dort nichts passieren kann. In Bezug auf meine Gesundheit bilde ich mich dort lebenslang zu meinem eigenen Experten aus.

Das heißt aber auch für die Betroffenen, sich neue Konflikt- und Bewältigungsstrategien anzueignen.

Jawohl, Selbsthilfegruppen setzen zwei für Menschen unersetzliche Medikamente ein: Zuhören und Sprechen. Dabei ist Zuhören der Anfang vom Anfang im Veränderungsprozess. Denn: Nur wer zuhören kann, ist auch in der Lage, zu sprechen. Und wer dem Hören und Zuhören einen Wert gibt, ist auf dem Weg zur Achtsamkeit zu sich selbst und anderen gegenüber. Wer sich dem Gruppenklima kontinuierlich aussetzt, wird Zuhören als Lebenskunst entdecken.

Dazu gehört das freie Sprechdenken, die Verfertigung der Gedanken beim Reden. Im Gruppengespräch erleben wir, wie erlösend es ist, etwas in Worte fassen zu können, was schon lange in uns bohrt und sich des Nachts in unsere Träume schleicht. Nur wenn ich es auf den Begriff bringe, nur dann kann ich es begreifen, ergreifen, anpacken und Lösungen anstreben. Egal, aus welchen Gründen eine Selbsthilfegruppe zusammenfindet, es sind immer auch kommunikative Fähigkeiten, die dort meist unbewusst geschult werden. Kommunikative Fähigkeiten sind es, die es uns ermöglichen, aus eigener Kraft aus ausweglosen Situationen herauszukommen. Genesung bedeutet für Süchtige soziales Lernen.

Was bewirkt Ihrer Meinung nach die Veränderung des eigenen Ich?

Es ist nicht in erster Linie der Erfahrungsaustausch, so wichtig und bedeutsam er auch ist – schon gar nicht das erworbene Wissen über Alkoholismus. Ich kenne Leute, die wissen alles über Alkoholismus mit einer winzigen Ausnahme: sie wissen nicht, wie sie trocken leben können. Es ist auch nicht ein Programm, so hilfreich es auch ist, sondern es ist die andere und besondere Art – überwiegend auf der Beziehungsebene – zu kommunizieren, die das Wachstumsklima und damit die Veränderung herbeiführt. Es ist das gleichberechtigte Nebeneinander von Gedanken und Gefühlen, von Wissen und Träumen, das die besondere Qualität dieser Sprechsituation ausmacht. Es ist ein fortschreitendes Erfahren und lernendes Erleben. Meistens registriere ich gar nicht, dass ich etwas lerne. Die Genesung ergibt sich aus dem Gespräch von Mensch zu Mensch. Ergibt sich aus der Art und Weise, wie wir uns dort berühren.

Der senegalesische Stamm der Wolof hat dafür ein passendes Sprichwort: „Nit nit, ay garabam.“ – „Der Mensch ist des Menschen Arznei“.

Was habe ich von einem Gruppenbesuch?

  • Wenn ein anderer Mensch bereit ist, mir etwas von sich zu erzählen und seine inneren Gedanken und Gefühle mit mir teilt, so liegt darin ein Wert für mich. Ich profitiere auch dann, wenn sich herausstellt, dass ich ganz andere Ansichten habe.
  • Ich erfahre Zug um Zug, wie wertvoll und gewinnbringend es ist, einen anderen Menschen zu verstehen. Geteilte Freude ist doppelte Freude – geteiltes Leid ist halbes Leid. Teilen setzt Energien frei für Veränderungen.
  • Ich lerne mich nicht nur mit meinen, sondern auch mit den Augen der anderen wahrzunehmen.
  • Ich lerne in der Gruppe, Nähe zuzulassen, und ich lerne, Nähe zu ertragen.

Manche warnen vor der Entstehung der Selbsthilfegruppen-Sucht.

Das ist ein beliebter Vorwurf. Es gibt aber einfach nichts, auf das Menschen nicht süchtig werden können. Auf die Gruppe süchtig zu sein, ist immer noch besser als sein Gehalt zu versaufen, seine Frau zu verprügeln und die Kinder zu vernachlässigen.

Der griechische Schriftsteller Plutarch sagte: Es ist schlimm, erst dann zu merken, dass man keine Freunde hat, wenn man Freunde nötig hat.

Das Wissen, welche Eigenschaften ich für meine Veränderungsprozess benötige, hatte ich von meinen Therapeuten: Zähigkeit, Geduld, Flexibilität, Frustrationstoleranz, vor allem aber auch die Empfehlung: Such dir einen völlig neuen Freundeskreis. So schnell wie möglich, am besten noch heute. Wenn das Haus brennt, musst du dich ja auch beeilen, dass du rauskommst, selbst dann wenn du noch keine andere Bleibe hast. Urplötzlich hatte ich meinen gewohnten Freundeskreis aufzugeben, doch ein neuer war weit und breit nicht in Sicht. Ich fand ihn in der Gruppe.

Was macht für Sie das Besondere der Selbsthilfe in der Gruppe aus?

Mir werden durch diverse Beiträge in der Gruppe immer wieder Fragen gestellt, die ich mir selbst auch nach Jahrzehnten nicht zu stellen traue. Das öffnet Türen bei mir, die immer noch verriegelt sind.

Und: Die Gruppe ist für mich ein nützliches Frühwarnsystem für die Gefahren eines Rückfalls.

Es ist auffällig, wie viele nach über 20 Jahren wieder rückfällig werden, einer der vielen Gründe, weshalb ich auch nach 29-jähriger Trockenheit immer noch in Gruppen gehe. Gerade wenn ich das Gefühl habe, weit weg vom Alkohol zu sein, ist er besonders nah. Mein Kopf ist durchaus noch tauglich, als Frühwarnsystem für Rückfallgefahren taugt er nichts. Dafür benötige ich die Gruppe.

Der Praxistransfer des Erlernten ist in den Gruppenprozess selbst eingebaut.

Die ständige Begegnung mit nassen Alkoholikern ist wichtig. Nasse halten mir einen Spiegel vor.

Ich erkenne, ob ich mich vorwärts oder zurück entwickle.

Herr Heckel, vielen Dank für das Gespräch. Ich wünsche Ihnen, den betroffenen Leserinnen und Lesern und mir weiter gute 24 Stunden!

 

Titelthema 2/16: Kann Alkoholismus vererbt werden?

TitelTP02Aus der Genforschung:

Ist Alkoholsucht erblich?

Um es gleich vorwegzunehmen: Ganz so einfach ist es nicht! Alkoholismus ist keine echte Erbkrankheit wie zum Beispiel Albinismus, Farbenblindheit oder gewisse Stoffwechselerkrankungen. Aber: Bestimmte Erbfaktoren, Gen-Mutationen, können die Anfälligkeit für die Alkoholkrankheit stark erhöhen. Man ist dann „veranlagt“ dazu.
In welchem Maße und durch welche Gene das geschieht – dazu wird seit Jahrzehnten geforscht. Unter anderem innerhalb des Nationalen Genomforschungsnetzes (NGFN) im Projekt „Genetics of Alcohol Addiction“.
Über den neuesten Stand der Forschung und Schlussfolgerungen daraus sprach die TrokkenPresse mit Rainer Spanagel,
Professor für Pharmakologie & Toxikologie, Leiter des Instituts für Psychopharmakologie am Zentrum für Seelische Gesundheit (ZI), Universität Heidelberg.

 Professor Spanagel, ist die Alkoholkrankheit tatsächlich zum Teil genetisch bedingt?

Als Faustregel kann man sagen: Zu 50 Prozent ist Alkoholismus genetisch determiniert. 50 Prozent aller Risikofaktoren sind also genetische. Und wenn Sie diese genetischen Risikofaktoren haben und diese dann noch mit bestimmten Umweltrisikofaktoren interagieren, erhöht sich das Risiko, abhängig zu werden, dramatisch.

Allerdings kommt es selten vor, dass eine einzige Person all diese genetischen Risikofaktoren hat, die wir ja auch noch nicht mal alle kennen. Das könnten 150-500 Gene sein, die solch ein finales Risiko ausmachen können.

 Wie ist die Forschung auf diese 50 Prozent gekommen?

Zum Beispiel durch klassische genetische Untersuchen an eineiigen und zweieiigen Zwillingen. Zweieiige sind ja genetisch nicht in dem Maße miteinander verwandt wie eineiige, die gleich sind. Es wurden je 10 000 Zwillingspaare untersucht. Bei den Zweieiigen war Alkoholismus ums doppelte häufiger im Gegensatz zu den Eineiigen. Das sind die Erblichkeitsraten. Aber da gibt es natürlich noch weitere Untersuchungen mit Adoptivkindern in Familien, die das dann weiter belegen. Wird ein Kind, bei dem ein Elternteil Alkoholiker ist, in eine Familie adoptiert, wo die Erziehungsberechtigten keine Alkoholprobleme aufweisen, so ist das Risiko für das Adoptivkind ungefähr doppelt so hoch, später an Alkoholismus zu erkranken, als wenn keine Vorbelastung von den leiblichen Eltern vorliegt.

Dass Alkoholismus zu 50 Prozent genetisch determiniert ist, das kann als ein Fakt gesehen werden. Und ein Fakt ist auch, dass es genetische Risikovarianten gibt, die das Erblichkeitsrisiko für Alkoholismus ausmachen. Das sind nicht mehr nur wissenschaftliche Befunde, sondern ganz klare Fakten.

 Was macht ein solch mutiertes, verändertes Gen denn genau, was kann es anrichten?

Ich kann Ihnen zwei Beispiele geben aus unserer eigenen Arbeit, das ist einmal das RASGEF2-Gen, aus unserer Genomuntersuchung, die wir an 50 000 Personen gemacht haben. Da haben wir uns den Alkoholkonsum angeschaut: Bei wem tritt exzessiver Konsum auf? Wir haben also alle Gene angeschaut, über 30 000 Varianten, und bei den Personen mit exzessivem Alkoholkonsum kam eine Variante des RASGEF2-Gens gehäuft vor.

 Was hat dieses spezielle Gen mit Alkoholismus zu tun?

Das war uns zunächst auch nicht klar. Dann haben wir dieses Gen zellbiologisch genau angeschaut, und es ist – also das Produkt des Gens, ein Protein – ganz zentral in der Signaltransduktion (Signalübermittlung, Erläuterung am Ende des Textes, d.R.) von Glutamatrezeptoren involviert. Das glutamatalge System ist im menschlichen Gehirn das wichtigste erregende Neurotransmittersystem: 70 Prozent all unserer erregenden Neurone benutzen Glutamat. Und dieses Glutamat bindet an Glutamatrezeptoren, insbesondere an  NMDA-Rezeptoren. Wenn NMDA-Rezeptoren Glutamat binden, dann wird eine Signalübermittlung aktiviert, bei der RASGRF2 eine entscheidende Rolle spielt.

Und jetzt können sie natürlich wiederum fragen, was hat das mit Alkoholismus zu tun? Alkoholmoleküle binden auch direkt an den NMDA-Rezeptor und so ist es nicht verwunderlich, dass genetische Varianten von RASGRF2 die zellulären Effekte von Alkohol über die NMDA-Rezeptor-vermittelte Signaltransduktion direkt beeinflusst.

Wir wissen weiterhin: Wenn man Alkohol trinkt, wird Dopamin freigesetzt. Wir konnten zeigen: Diese Dopaminfreisetzung wird wiederum ganz stark von NMDA-Rezeptoren reguliert. Wir haben jetzt bei Mäusen in Laborversuchen dieses RASGRF2-Gen ausgeschaltet, und siehe da, wenn wir ihnen Alkohol gegeben haben, haben sie gar keine Dopmainfreisetzung mehr. Das heißt, sie bekommen keinen belohnenden Effekt von Alkohol, wenn RASGEF2 nicht aktiv ist. Diese ganze Transduktionskaskade von Alkohol über NMDA-Rezeptoren zum Dopamin hin funktioniert nicht mehr.

Das zeigt uns: Gene sitzen manchmal in wichtigen Neurotransmittersystemen und Kaskaden, über die Alkohol wirkt, oder über die suchtähnliche Effekte vermittelt werden.

Und so bestimmen diese Genvarianten mit ihren Genprodukten auch den Effekt von Alkohol oder der suchterzeugenden Wirkung.

 Und das zweite Beispiel?

Auch aus unserer Forschung: CRHR1ist ein ganz wichtiges Molekül, das auf Stress antwortet. Wenn Sie ganz besonders aversiv (gegen etwas Widerwillen haben, es vermeiden wollen, d.R.) gestresst sind, dann wird dieses CRH freigesetzt. Es bewirkt zum Beispiel, dass man ängstlicher wird. Dass man sich nicht gut fühlt. Diese Symptome werden von CRH unter starkem Stress produziert, indem CRH freigesetzt wird und dann an sogenannte CRHR1-Rezeptoren anbindet. Das ist eine normale Stressantwort, die bei jedem Menschen stattfindet, sobald er zu viel Stress hat. Jetzt haben wir gefunden, dass eine bestimmte genetische Variante, die es in dem CRHR1-Gen gibt, in Interaktion mit Alkohol tritt. Wenn sie diesen Risikofaktor haben, dann wirkt Alkohol besonders gut, um diese Stressantwort zu dämpfen. Viele Menschen trinken ja, wenn sie gestresst sind, um wieder runterzukommen, gerade bei betroffenen Alkoholikern ein ganz klassisches Problem.

Ein Beispiel: Sagen wir, seit Jahren funktioniert alles wieder gut, man hat wieder einen Partner, wieder eine Arbeit. Aber plötzlich sagt der Chef, tut uns leid, wir müssen sie entlassen. Das ist ein hochaversives Erlebnis, und da wird CRH freigesetzt. Nun hatte man einst „gelernt“, ja wenn ich in so einem Moment Alkohol trinke, dann kann ich diesen Stress etwas wegdrücken. Das lindert diese Symptome, das emotionale Erleben besonders. Aber was es natürlich tut: Es befördert den Rückfall, es befördert das Trinken. Denn es ist ja nicht so, dass man dann am nächsten Tag wieder einen Job hat, sondern man hat den Job verloren und so treibt dann diese Risikovariante des CRHR1-Gen durch den Stress in Kombination mit Alkohol einen immer mehr in die Rückfallspirale rein.

Das ist ein Beispiel über eine Gen-Interaktion mit der Umwelt.
Wir haben z.B. dann  auch wieder bei Mäusen dieses Gen ausgeschaltet und bei ihnen war es extrem. Sie haben unter normalen Bedingungen Alkohol bekommen und getrunken. Aber dann haben wir sie gestresst, sie richtig heftigen Stressoren ausgesetzt, mehrere Tage lang. Da ist ihr Alkoholkonsum ums Dreifache hochgeschossen. Und der Konsum blieb ein Leben lang hoch.

 Sind diese genetischen Risikofaktoren vererbbar?

Ja! Wenn ich Träger solch einer Variante bin, dann werde ich die an meinen Sohn oder meine Tochter auch weitergeben. Es kommt jetzt darauf an, ob es dominant ist, oder die Risikovarianten werden von beiden Eltern weitergegeben, aber ganz klar: Das wird vererbt. Man kommt als Kind schon mit diesen Risikovarianten auf die Welt.

 Woher weiß man, dass man veranlagt ist?

In Deutschland ist das nicht besonders gefragt, die Deutschen kommen nicht daher und lassen sich genetisch kartieren, aber in England oder den USA gibt es schon genug Leute, die das privat finanziert machen und wissen wollen, habe ich Risikovarianten oder nicht.  Aber ob ich dann wirklich so viel gefeiter bin? Was soll ich daraus ablesen? Deshalb bin ich bei polygenetischen Erkrankungen vorsichtig, zu sagen, man sollte sich einfach durchscreenen lassen. Dann am Ende des Tages würde ich vielleicht erfahren, dass ich für 150 Erkrankungen prädestiniert bin, das ist wahrscheinlich eine schreckliche Information.

 Wie kann ich es sonst erfahren, ob ich erblich belastet bin?

Da gibt es eine sehr einfache Regel: Eine Familie sollte darüber reden, ob in der Familie das Problem schon mal aufgetaucht ist oder nicht. Das Thema ist noch so stigmatisiert, dass es oft verschwiegen wird, wenn sich der Großvater oder der Onkel zu Tode gesoffen haben, keiner redet darüber. Aber man muss das wirklich offen benennen, wenn ein Verwandter ein Alkoholproblem hat oder abhängig war. Dann bedeutet das für Sie, dass Sie genetisch Risikovarianten tragen, die Sie gefährden. Und wer das Wissen hat, kann sagen: halt mal, Alkohol ist für mich, besonders, wenn es in das riskante Trinken reingeht, gefährlich. Ich habe eine genetische Determination dafür.

Eine offene Gesprächskultur ist Selbstschutz. Zu wissen, hey, das ist in meiner Familie aufgetreten, bedeutet für mich, ich bin gefeiter. Es bedeutet nun nicht, dass ich überhaupt keinen Alkohol trinken soll, aber sobald ich in riskanten Konsum komme und das passiert halt in bestimmten Lebenssituationen, da muss sofort das Warnsignal hochgehen.

Das Interview führte Anja Wilhelm

 

Ein Gen (liegt auf den Chromosomen in jedem Zellkern) ist ein Eiweiß-Bauplan, es trägt die Erbinformationen. Und ist dafür verantwortlich, dass Informationen zu Merkmalen der Ausprägung von Generation zu Generation weitergegeben werden.
Signalübermittlung: Damit Reize aus dem Körper oder der äußeren Umgebung richtig und schnell vom Organismus beantwortet werden können (Reaktion), müssen sie vom Organ des Eintreffens über mehrere Tausend Nervenzellen bis zum Zielorgan geleitet werden (z.B. Geruchsempfindung, Muskelkontraktion). Das geschieht von Nervenzelle (Neuron) zu Nervenzelle, über die Synapsen zwischen ihnen: mittels elektrischer Erregung, die Botenstoffe wie Hormone und Neurotransmitter freisetzt, die wiederum mit ihrer Information die Zellmembranen passieren können. Glutamat ist solch ein Transmitter. Wenn er zum Beispiel andockt an NMDA-Rezeptoren, löst er eine spezielle Signalübermittlung aus.

 

 

Titelthema 1/16: Promillefallen im Alltag (Alkohol in Lebensmitteln und Co)

TitelJanuarVon Schoko-Eis bis Zahnungshilfe:

Wo lauern Promille-Fallen im Alltag?

Kennen Sie das nicht auch? „Hier, wir haben Dir extra alkoholfreies Bier gekauft, das darfste doch“, wollten mir Bekannte neulich etwas vermeintlich Gutes tun. Ich lehnte ab. Schon der Biergeruch allein, geschweige denn die 0,5 Promille drin, könnten Folgen für mich haben. Rückfall. Leberschaden. Friedhof. Klingt das nach zu viel Vorsicht? Oder wieviel Vorsicht ist tatsächlich nötig? Und weshalb und wovor nun eigentlich genau?

Stellen Sie sich vor, Sie essen ein Stück Schokolade, schlucken es hinunter und merken erst dann: Da war ja Alkohol drin!
Was kann einem trockenen Alkoholiker denn nun passieren?

Das weiß man leider noch nicht haargenau. Allerdings haben wissenschaftliche Untersuchungen in einem neutralen Labor ergeben, dass Fruchtsäfte mit einem Alkoholgehalt unter 0,5 V% noch kein „Verlangen“ (Cravings) auslösen, ganz im Gegensatz zu Bildern alkoholischer Getränke.

„Sinneseindrücke wie Geschmack, Geruch, Geräusche oder Aussehen lösen als Schlüsselreize offensichtlich eher Verlangen aus als minimale Alkoholmengen. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse stützen unseren Rat, keine Getränke oder Speisen zu sich zu nehmen, die wie Alkohol aussehen oder schmecken. Aber warum sollte man es trotzdem so genau mit dem Alkoholgehalt nehmen? … Der Grund für den dringenden Rat zur absoluten ,Nullgrenze‘ liegt nicht in der Physiologie, sondern in der Psychologie der Sucht. Für die Sucht ist es geradezu typisch, dass aus einer sachlichen und wissenschaftlich korrekten Information wie der, die sie gerade gelesen haben, fast zwangsläufig folgende illusionäre Idee im Bewusstsein eines Süchtigen entsteht: ,Wenn mir ein bisschen nichts anhaben kann, dann brauche ich ja auch nicht mehr so konsequent und wachsam sein wie bisher! Und wenn ich dann aus Versehen ein wenig Alkohol zu mir nehmen sollte und mir das nichts ausmacht, ist doch alles in Butter. Vielleicht bin ich eben doch kein Alkoholiker!?‘“ (aus „Die Suchtfibel“ von Ralf Schneider, 14. Auflage, S. 389).

Genau deshalb raten Therapeuten und erfahrene trockene Alkoholiker dringend: Meiden Sie alle Lebensmittel und Getränke, die auch nur minimal Alkohol enthalten und genauso schmecken und riechen wie alkoholhaltige! Das ist die sicherste Methode.
(Das Forschungsinstitut für Kinderernährung Dortmund hat übrigens herausgefunden, dass die Wahrnehmung von Alkohol bei zwischen 0,2 – 0,5 Vol% beginnt.)

Aber auch in anderen Produkten unseres Alltags ist (oft ungeahnt) Alkohol enthalten. Im Folgenden ein kleiner Leitfaden durch die Promille-Fallen.

Lebensmittel

Ist das Kleingedruckte verlässlich?

Laut deutschem Lebensmittelgesetz muss Alkohol, wenn er als Zutat benutzt wird, auf der Zutatenliste der Verpackung gekennzeichnet werden (auch als Äthanol oder Ethylalkohol, die chemischen Begriffe). Übrigens auch, wenn er als Konservierungsmittel benutzt wird.

Aber Achtung: Wird Alkohol als Lösungsmittel für Aromen während der Produktion eingesetzt, muss das NICHT gekennzeichnet werden. Wenn also in der Zutatenliste Aromen angegeben werden, könnte die Speise Spuren von Alkohol enthalten (unter 0,5 V%)!

Ebenso unsicher sind lose verkaufte Produkte, zum Beispiel die „Teilchen“ beim Bäcker oder auch Speiseeis. Da besteht keine Kennzeichnungspflicht. Hier sind Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit selbst in der Pflicht: Nämlich nachzufragen.

Hinzu kommt: Spuren vom Alkohol sind natürlicherweise als so genannte Spuren in vielen Lebensmitteln enthalten (z.B. in Brot, Fruchtsäften, Obst) – denn Alkohol ist ein Stoffwechselprodukt bei Gärungsprozessen und die kommen in vielen Lebensmitteln in geringer Form vor. Essen oder Nichtverzehren, das liegt ganz in Ihrem eigenen Ermessen. Ebenso, was den viel diskutierten Essig betrifft: Ist die Oxydation der zugrunde liegenden alkoholhaltigen Flüssigkeiten abgeschlossen, enthält er weniger als 0,5 Vol % Alkohol. Aber Vorsicht, denn bei einigen südländischen Sorten wird später  wieder Wein o.ä. zugefügt. Das erkennen Sie auf dem Etikett.

Eine Liste mit Hinweisen zu Lebensmitteln, die man meiden sollte, finden Sie im Kasten auf S . Beachten Sie aber, dass sich Rezepturen oft über Nacht ändern können.

Getränke

Prost Malzbier?

Die Kennzeichnungspflicht für alkoholische Getränke besteht erst bei Werten, die  deutlich über den natürlicherweise vorkommenden Spuren liegen: Erst ab einem Alkoholvolumen von 1,2 Vol%  muss Alkohol im Getränk angegeben werden.

„Alkoholfrei“ darf sich ein Getränk nennen, wenn es weniger als 0,5 Vol% Alkohol enthält. Deshalb können und dürfen „alkoholfreie“ Biere geringe Alkoholmengen enthalten.

Malzbier darf bis zu 1,2 Vol. % Alkohol enthalten, ohne dass es gekennzeichnet sein muss. Es darf sich aber nicht „alkoholfrei“ nennen, wenn es mehr als 0,5 Vol% Alkohol enthält.

Fruchtsäfte dürfen laut Lebensmittelgesetz bis zu 0,38 Vol% enthalten. Sie entstehen durch die Gärung von reifen Früchten. Der Alkoholgehaltunterscheidet sich sehr. Während klarer Apfelsaft nur 0,02 Vol% haben kann, liegen die Prozente im naturtrüben höher (bis zu 0,3 Vol%), weil die nicht abgefilterten Fruchtbestandteile Nährboden für Hefepilze sind, die Alkohol produzieren.

Im Restaurant

Lieber Schnitzel statt Rehbraten?
Auch wenn es nicht auf der Speisekarte ausgewiesen ist wie zum Beispiel „Rehrücken in Rotweinsoße“, kann sogar eine Zwiebelsuppe mit Weißwein verfeinert sein, die Gulaschsuppe mit Rotwein, der Fruchtsalat mit Rum. Auch viele Eissorten (wie Schoko und Kirsch) oder Desserts wie Tiramisu können Liköre enthalten. Sichern Sie sich ab, indem Sie in der Küche nachfragen (lassen).

Beim Kochen

Adé, lecker Rotweinbratensoße?
Entscheiden Sie selbst: Laut US-Forschern verkocht/verdampft der Alkohol nicht so schnell, wie bisher geglaubt: Der Siedepunkt des reinen Alkohols liegt zwar bei nur 78 Grad, aber in Verbindung mit dem Wasser im Wein erhöht er sich. Und zwar so, dass nach einer halben Stunde Kochen immer noch 35 Vol% des zugefügten Alkohols in der Speise enthalten sind. Je später er dazugegeben wird, desto mehr bleibt drin – und außerdem auch mehr Geschmack, der wiederum das Suchtgedächtnis strapazieren kann.
Wer nicht auf die Vielzahl von Rezepten ohne Alkohol ausweichen möchte: In unserem Kasten auf Seite  finden Sie Ersatzmöglichkeiten für Weine beim Kochen.

Beim Arzt, in Apotheke und der Drogerie

Ohne Schmerzspritze beim Zahnarzt?
Nein, keine Sorge! Aber worauf  Sie dennoch unbedingt achten sollten, das erklärt Ihnen unsere Leserin und Autorin Cornelia Ludwig in ihrem Report auf Seite .
Im Beipackzettel/auf den Verpackungen von Medikamenten sind auch geringste Alkoholmengen angegeben. Dafür gibt es strenge Regeln und Kontrollen. Besonders häufig ist Alkohol in flüssigen Arzneien enthalten, z.B. in Hustensäften oder Beruhigungstropfen. Es gibt aber immer auch Alternativen in nicht flüssiger Form, die keinen Alkohol enthalten. Auch frei verkäufliche so genannte Stärkungsmittel (wie z.B. Nerventonikum, Ginseng-Präparate) enthalten teilweise sogar in hohen Mengen Alkohol.

Fazit: Um nicht in Promille-Fallen zu tappen, ist es unumgänglich, die Zutatenlisten auf Lebensmittelverpackungen genau zu lesen und/oder direkt nachzufragen, ob beim Verkäufer, Kellner, Arzt oder Apotheker.
Bitte lesen Sie dazu auch auf den folgenden Seiten Cornelia Ludwigs Erfahrungen in Drogerie, Apotheke und beim Zahnarzt.

Anja Wilhelm

 

Titelthema 6/15: Spiritualität und Alkoholismus

TBILD 6Wonach suchen Süchtige wirklich?

„Alkoholsucht ist nicht der Durst der Kehle, sondern der Durst der Seele.“
Das stellte Pfarrer und Hospizgründer Friedrich von Bodelschwingh schon vor über 100 Jahren fest.

Wonach dürstet denn Ihre Seele, liebe LeserInnen, was wünschen Sie sich?

Das neue Smartphone, Auto oder Kleid machen glücklich, natürlich – aber wie alles äußere Hab und Gut nur für den Moment, wie wir ja alle wissen. Ist es nicht eher so, dass wir nach etwas suchen, das uns jeden Morgen in kindlicher Vorfreude erwachen lässt, neugierig auf den neuen Tag im Leben? Wünschen wir uns nicht etwas, dass uns dauerhaft einen inneren Frieden bringt, Liebe, Vertrauen, Orientierung?

Ich glaube auch – aus eigener Erfahrung – dass wir Alkoholkranken verzweifelt und über Jahre hinweg in Bier, Wein und Schnaps danach suchen. Und kurzfristig wird es dem Trinker auch vergönnt: Im scheinbar glücklichen Dahindämmern des Gehirns sind unangenehme Gedanken und Gefühle so weit, weit weg … und bald darauf dann doch wieder da. Verstärkt sogar.

„Der Alkoholdurst entspricht auf einer niedrigen Stufe dem geistigen Durst unseres Wesens nach Ganzheit, die man in der Sprache des Mittelalters ,Vereinigung mit Gott‘ nannte“, schrieb 1961 der bekannte Psychiater Carl Gustav Jung.

Aber was mag er mit „Ganzheit“ meinen?

Den Sinn unseres Lebens, das Gefühl von Erfüllung? Das Erkennen eines göttlichen Ursprungs des Daseins, der uns alle verbindet, wovon wir ein Teil sein könnten? Werte, die der Orientierung im Alltag dienen?

Diese Suche danach und das letztliche Erkennen der Antworten für sich selbst, das ist, vereinfacht zusammengefasst, Spiritualität. Definitionen gibt es viele, die Wissenschaft ist sich noch uneins. Kein Wunder, geht es doch um die Suche nach Dingen, die man nicht anfassen oder berechnen kann, sondern nur fühlen und erleben.

Was bleibt, scheint zu sein:

Ob wir für uns eine Verbindung zu einem christlichen Gott erkennen, mit Buddha meditieren, keltische Feiertage begehen oder achtsam das Hier und Jetzt würdigen: Wir leben damit spirituell, haben entweder unseren inneren Frieden bereits gefunden oder sind noch auf der Suche.

Ob wir Gottvertrauen und Geborgenheit, Weisheit und Einsicht, Mitgefühl und Toleranz, Dankbarkeit und Gleichmut schon erleben oder noch erstreben: All das bedeutet auf jeden Fall, dass wir bewusster mit uns selbst, mit anderen und der Umwelt umgehen. Es kann Herz und Seele wärmen und die innere Leere füllen, wie Marion M. auf Seite… beschreibt.

Ja, Alkohol kann auf diese Weise sogar seine Bedeutung für uns verlieren …

Lesen Sie zu diesem Thema bitte auf den folgenden Seiten die Gedanken von Pfarrer Christian Wossidlo, Dr. Andreas Dieckmann und die persönlichen Erfahrungen der trockenen Alkoholiker Klaus, Andreas und Marion.

Anja Wilhelm

Spiritus und Spiritualität – die Suche nach dem Glück

Von Christian Wossidlo, Theologe und evangelischer Pfarrer im Ruhestand

Das Wort „suchen“ ist zweifellos die sprachliche Grundlage für „Sucht“. Wenn ich Sucht inhaltlich als die Suche nach Glück oder Erfüllung oder Überwindung der menschlichen Alltagsschwierigkeiten beschreibe, ist also das, was wir als Sucht bezeichnen, ein Weg, den Menschen gehen, um das Genannte zu finden und zu erreichen.

Es gibt vermutlich auch andere Wege, um zu diesem Ziel zu kommen, die nur ganz anders heißen und scheinbar nichts mit Sucht zu tun haben. Nur scheinbar?

„Spiritus“ ist das Grundwort für Spiritualität. Es ist lateinisch und bedeutet schlicht „Geist“ oder „Hauch“. Heute ist es die Bezeichnung von Alkohol.

Spiritualität ist die Suche nach dem Geistigen, nach dem, das unseren fleischlichen, irdischen, vergänglichen Körper adelt, das uns in Verbindung bringen kann mit dem Jenseitigen, dem Transzendenten, wie es die Philosophen nennen. Die Theologen reden vom Göttlichen, von Gott. Dabei meine ich hier mit dem Begriff „Theologen“ alle, die im religiösen Bereich arbeiten und denken , vom Pfarrer bis hin zur Schamanin.

Vom Wort her könnte Spiritualität auch ein Sammelbegriff für Alkoholismus sein.

Offenbart das einen tiefen inneren Zusammenhang zwischen Sucht und geistigem Suchen? Und, wenn ja, wäre das fatal?

In vino veritas

In der Bibel, also im Christentum, genießt der Wein eine hohe Wertschätzung. Schließlich ist oder symbolisiert er in der Feier des Abendmahls die Einheit mit Jesus und die Nähe Gottes.

Im religiösen Zentrum der griechischen Antike, dem Orakel von Delphi, versetzte sich die Pythia, die Sprecherin des Orakels, durch Dämpfe, die aus einer Felspalte drangen, in Trance.

Indianer- oder Südseefreaks wissen, dass der Rausch, erzeugt durch vergorene Säfte oder bestimmte Pilze oder Musik und Tanz, in den religiösen Praktiken eine wichtige Rolle spielt.

Die Sehnsucht nach der Einheit mit dem Göttlichen, mit den Ahnen, mit den übernatürlichen Kräften treiben die Menschen an, Grenzen zu überschreiten. Letztlich ist es die Suche nach Glück, Wahrheit und Lebenssinn. Spiritualität hat mit Rausch zu tun und damit mit Sucht. Oder ist es umgekehrt?

Die alltägliche Rede

Die Sprache ist die Kleidung der Gedanken, sagt man. So ist die Sucht in unserem Alltag weit verbreitet. Wir reden von Eifersucht, Rachsucht und Herrschsucht. Da gibt es die Putzsucht, die Genusssucht, die Habsucht und die Magersucht. Eigensucht, Schwindsucht, Trunksucht, Spielsucht und Sehnsucht seien auch noch genannt. Sie, die Sucht, ist in allen Lebensbereichen zu Hause.

Die Spiritualität tut sich da etwas schwerer. Sie ist häufig mit Stille und Nachdenken verbunden. Das mögen oder können viele nicht. Sie ist im religiösen Raum zu Hause und in diesem Haus wollen viele nicht mehr wohnen. Aber die Suche nach ihr ist offenbar da. Wie sonst gäbe es in der Esoterikszene so viele Angebote, wie sonst taucht sie inzwischen sogar in der Werbung für Wellnesshotels und Thaimassage auf?

Top und Flop

Werfen wir noch einen Blick auf die Sprache. Sie offenbart, dass vernünftige und sogar notwendige Verhaltensweisen in ihrer Übersteigerung zur Sucht werden und damit krank machen und letztlich tödlich sind. Aus dem lebensnotwendigen Trinken wird Trunksucht, aus dem das Leben schön machenden Spielen wird Spielsucht, aus dem manchmal wichtigem Fasten wird die Magersucht, aus dem lobenswerten Trieb, das Geld zusammen zu halten wird die Habsucht. Das kann ich beliebig fortsetzen. Nur bei der Schwindsucht, wie im Volksmund früher die Tuberkulose hieß, geht das nicht, aber die Eifersucht kann schon wieder jede Liebe zerstören.

Ist das in der Spiritualität auch so? Ganz gewiss. Eine Frömmigkeit, die dazu führt, sich täglich auszupeitschen, wie es die Flagellanten im Mittelalter taten, ist krank und ein Fundamentalismus, der selbst angebliche göttliche Strafgerichte vollzieht, wie die Hexenverbrennung in der christlichen Vergangenheit und die Gottesstaatverfechter ISIS in der Gegenwart, ist tödlich für alle. Es sei auch der Hinweis gestattet, dass Sekten der verschiedensten Art, allen voran Scientology, Menschen in religiöse Abhängigkeit locken und bringen, also in eine Sucht führen und halten.

Ein Glück, dass wir nicht (mehr) saufen

Da gibt es noch eine Ebene, auf der sich Sucht und Geistiges treffen. Für die Sucht ist es die Abstinenz, für die Religion, die Spiritualität also, der Glaube.

Beides ist eine Sache des Kopfes. Abstinenz fängt im Kopf an und der Glaube auch. Der Kopf muss sagen: ich will das. Nur dann hat beides eine Chance.

Natürlich muss der „Bauch“ oder das Herz oder das Gemüt, wo auch immer die Gefühle zu Hause sind, ein deutliches Ja sagen. Kopf gegen Bauch geht nicht, in der Abstinenz nicht, im Glauben an Gott auch nicht. Umgekehrt Bauch gegen Kopf reicht auch nicht. Dann artet alles schnell in Gefühlsduselei aus oder eben, schlimmsten Falls, zur Sucht. Wir müssen, um erfolgreich und auch noch glücklich dabei zu sein, schon Kopf und Bauch unter einen Hut bringen.

Auch sonst wäre es gut, wenn es so ist.

Mehrwert

Meine Gedankenspielerei, die ich allerdings nicht als oberflächliche Spielerei verstehe, sondern als Spiel des Geistes mit den Gedanken, die mir spontan gekommen sind, ergibt, dass Sucht genauso viel mit unserem Kopf, also unserem Denken zu tun hat wie Spiritualität. Beides sind zwar Phänomenen, die sehr viel mit den Gefühlen zu tun haben, aber ihr Ursprung liegt in den Gedanken. Sie sind wichtig. In ihnen ist wichtig, was sie enthalten, wonach sie ausgerichtet sind. Damit sind wir bei dem, was heute allgemein „die Werte“ genannt wird und es eröffnet sich ein neues weites Feld. Das werde ich jetzt nicht auch noch beackern, ich sage nur für mich: meine zentralen Werte sind aufgeschrieben, einmal vor rund dreitausend Jahren in den Zehn Geboten, dann nach weiteren Tausend Jahren mit der Bergpredigt von Jesus, ich sehe sie verkörpert in dem Tun von Menschen wie Mutter Theresa, Mahatma Gandhi oder Martin Luther King und den Menschen, die sich heute für die Flüchtlinge, die zu uns kommen, einsetzen und aufopfern.

Fazit

Sucht und Spiritualität sind auf derselben Ebene in uns angesiedelt, sie stehen sich gewissermaßen gegenüber, sie können auch ganz schnell in einander übergehen. Die Gedanken sind frei, sie kommen und gehen, wie sie es wollen, aber wir haben die Aufgabe und die Gabe, sie zu kontrollieren und zu leiten. Also tun wir das.

 

Spiritualität – der Geist, der bestimmt nicht aus der Flasche kommt

 Von Dr. med. Andreas Dieckmann, Neurologe und Psychotherapeut, ehemaliger Chefarzt der Hartmut-Spittler-Fachklinik Berlin

Der Genuss von Substanzen zur Bewusstseinsveränderung ist ein Phänomen, das in der Menschheitsgeschichte nicht vorwiegend mit Krankheit verbunden war. Die Römer und mehr noch die Germanen kannten rituelle Gelage, während derer Friedensverhandlungen geführt wurden, die gelegentlich jedoch auch blutig endeten. Im Rausch von Kräutern nahmen Medizinmänner indigener Stämme Kontakt zu den Ahnen auf. Kaum eine Kultur verzichtete auf das Erreichen ekstatischer Zustände mittels entrückender Drogen. Substanzungebundene Entrückung findet sich übrigens bereits in der Bibel bei der „Ausgießung“ des Heiligen Geistes, der mit Brausen über die Jünger kam, die in fremden Sprachen sprechen konnten und Visionen und Träume erlebten (Apg. 2).

Auch heute suchen die Menschen in verschiedenen Subkulturen nach Zuständen außerhalb der erlebten Realität – häufig auch ohne religiösen Bezug. Nicht immer spielen Substanzen die wesentliche Rolle. Pseudoreligiöse Kirchen und Ideologien bieten bewusstseinserweiternde Techniken an. Evangelikal fundamentalistische Kreise finden im Gottesdienst Dimensionen der Transzendenz über Gesang, Gebete, religiöse Suggestion und charismatische Prediger.

Siegmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, hat seine kritische Auseinandersetzung mit Religiosität „Die Zukunft einer Illusion“ dem Schriftsteller Romain Rolland vorgelegt. Dieser macht ihn darauf aufmerksam, dass er sich der „eigentlichen Quelle der Religiosität“ nicht gewidmet hatte. Dabei handele es sich um ein Gefühl des unbegrenzt Schrankenlosen, gleichsam Ozeanischen. Dies sei die eigentliche Quelle der Religiosität. „Ich kann dieses ozeanische Gefühl im mir nicht entdecken“, muss Freud sich in seiner Antwort eingestehen und fährt fort, es gehe wohl um „ein Gefühl der unauflösbaren Verbundenheit, der Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen der Außenwelt [… Darum darf ich aber ein tatsächliches Vorkommen bei anderen nicht bestreiten“.

Unzweifelhaft gibt es Bedürfnisse der Erweiterung der eigenen Existenz in bedeutungsvolle Sphären außerhalb des eigenen Lebens. Dazu gibt es Theorien in fast allen Weltanschauungen. Jeder Mensch hat entweder ausformulierte Grundhaltungen oder solche, nach denen er lebt, die ihm aber nicht bewusst sind.

In der religiösen Sicht handelt es sich um die Suche nach dem Göttlichen, der Antwort nach der Frage, was diese Welt zusammen hält. Ekstase und Rausch sind Erscheinungsformen innerer Gelüste jenseits üblicher Lebensgefühle. Sie sind Ausdruck des Versuchs, sich von einer unerklärbaren höheren Instanz getragen zu wissen, die über den scheinbar realen naturwissenschaftlichen Ordnungen steht und den im Leben nicht zu findenden Sinn doch zu erreichen. Viele Menschen spüren eine solche spirituelle Dimension als Bestandteil ihrer Persönlichkeit, die über ihre Alltagswirklichkeit hinausweist. Das Erleben und Zulassen einer solchen Spiritualität wird zu einem Aspekt ihres Selbstverständnisses.

Der amerikanische Psychologe R. A. Emmons sieht in der Spiritualität die Fähigkeiten zu Transzendenz, in höhere spirituelle Bewusstseinszustände einzutreten, alltägliche Gefühle, Ereignisse und Beziehungen mit einem Gefühl des Heiligen auszustatten, spirituelle Ressourcen für die Bewältigung von Lebensproblemen zu nutzen, ferner zu wertorientiertem Verhalten. Er hält diese Gaben für Intelligenzfaktoren, man könnte auch sagen, Faktoren der stabilen Persönlichkeit.

Spiritualität ist als gezielter gefühlsmäßiger Bezug auf das Bedürfnis zu verstehen, mit der Welt und der Transzendenz verbunden zu sein. Ein so empfindender Mensch lebt neben dem Gefühl und der relativen Gewissheit der Unverletzlichkeit der Person in der Vorstellung der Verbundenheit mit einem nicht vollständig vorstellbaren Ganzen, das getragen wird von einer Institution des umfassenden „Göttlichen“. Die Fähigkeit zur Spiritualität kann also in einem gereiften Menschen angelegt sein, aber auch in einer Lebenseinstellung als neuer belebender Faktor gewonnen und „erarbeitet“ werden.

Gefühlsgetragene Ausdrucksformen können gemeinsames Singen und Beten, Meditieren, sich den Gedanken hingeben, rituelle Formen wie Abendmahl oder andere Betätigungen sein, die dem Menschen helfen, sich vom Alltagserleben zu lösen und – im wohlverstandenen Sinn des Begriffs – in „höheren Sphären“ zu schweben.

Süchtige Menschen sprechen dagegen oft vom „Kick“ und wirken wie ständig auf der Suche nach dem hinter dem schnöden Alltag stehenden Besonderen. Aber Ekstase im toxischen Rausch knüpft eben nicht an die stabilen Strukturen einer inneren seelischen Sicherheit und gewissen Ordnung im Erleben aus einer stabilen Lebenserfahrung an, sondern entrückt ihn in eine andere, oft als Ersatz für die Wirklichkeit erlebte irreale Welt, die ihm nach der Entgiftung vom Rauschmittel wieder verloren geht. Verloren auch in dem Sinne, dass er sich im weiteren Verlauf nicht darauf beziehen, davon profitieren und die Erfahrung aus der Erinnerung zur Selbsttröstung verwenden kann.

Die Umgebung ist oft von der schlagartigen Wesensveränderung eines Berauschten ebenso erstaunt wie der Betroffene, wenn er nach der schalen Ernüchterung über sein ihm fremd erscheinendes Verhalten hört. Erst ein neuer „Kick“ bringt die abermalige Regression. Damit ist die gleichzeitige Existenz des In-sich-Gehens und die daraus sich entwickelnde Vervollständigung innerer Verantwortung aus der Spiritualitätserfahrung angesprochen. Der toxische Rausch ist jedoch beim Süchtigen keine auch aus seinem Inneren kommende emotionale Erfahrung, sondern unterliegt der Manipulation des gezielten Einsatzes eines Wirkstoffes. Der Süchtige überlässt die bewusstseinserweiternde Erfahrung aus der Spiritualität also nicht der Erwartung neuer Erfahrungen, sondern steuert die ständig gleiche künstliche Wirkung.

Genuss und seine Nachhaltigkeit ist dem süchtig Konsumierenden kaum erlebbar und wird häufig gemieden, um Kontrollverluste zu umgehen („Mir darf es nicht zu gut gehen.“). Wenn hier von Abhängigkeitskranken die Rede ist, so beziehen wir uns auf solche Kranke, bei denen die multifaktorielle Genese ihren Schwerpunkt in psychischen Funktionsstörungen zu haben scheint.

Möglicherweise löst der Umgang mit Spiritualität und seinen Zusammenhängen mit Ekstase eine Art Faszination des Verlassens der Realität aus und ist damit dem süchtigen Erleben nicht fern. Sie ist aber, wie auch wohltuender Genuss, in der Therapie in Raum und Zeit begrenzt und entfaltet ihre Wirkung im günstigen Fall in einer neuen Sicht des Alltags und einer angemesseneren Beziehungsgestaltung.

Ein Modell gelenkter Spiritualität sind die Gewohnheiten der Anonymen Alkoholiker mit ihren klaren Vereinbarungen, den zwölf Schritten und zwölf Traditionen, dem „24-Stunden-Buch“ und den „Gedanken zum Tag“. Mit den „Schritten“ verordnet sich der Alkoholiker die Einordnung in einen von einer Macht gelenkten Kosmos. Ihr kann man sich anvertrauen und sie wird Gott genannt, so wie jeder ihn versteht. Die Gruppen aus dem religiösen Umfeld haben Rahmen der haltgebenden Glaubensgewissheiten. Die Guttempler rekrutieren ihre Rituale aus humanistischen Vorstellungen, mit denen geistige und geistliche Erfahrungen vereinbar sind. Diese Verbände eint ihre lange Tradition, die über die Spiritualität vermittelt wird. Spiritualität ist nicht der Ersatz für das Wohlbefinden in der Trunkenheit, sondern eine Erlebenswelt, zu der erst die Nüchternheit den Zugang gewährt. Deshalb ist die hilfreiche Funktion der Gemeinsamkeit in der Gruppe, das Dazugehören, ein hilfreiches Tor in die Erfahrungswelt von Spiritualität.

Natürlich gibt es auch Gefahren. Spiritualität kann heilsam wirken, es gibt aber auch Irrwege. Auf der Suche nach verankernden inneren Vorstellungen werden Abhängigkeitskranke anfällig für „Heilsbringer“ und sektenähnliche Gemeinschaften, die aus unterschiedlichen Motiven in oft die Integrität verletzenden Art und Weise ihre Wahrheiten verkünden. Solchen Systemen immanent ist die rasche Einbindung in die Ideen mit Heilsversprechen und Verkündung von Unheil bei Abkehr.

Es entstehen rasch Abhängigkeitsverhältnisse, die durchaus befriedigenden Charakter in dem Sinne entwickeln können, dass der „Gläubige“ sich in einer herausgehobenen Gruppe von besonders erwählten Menschen aufgehoben weiß. Damit werden nicht nur Abhängigkeitsbedürfnisse, sondern auch narzisstische Fantasien befriedigt. Auch in der Zugehörigkeit zu politischen Gruppierungen mit einem Eliteanspruch finden sich nicht selten solche seelische Hintergründe, in der dann auch die die Unfähigkeit, das Anderssein anderer zu ertragen, eine moralische Kategorie erhält.

Menschen, die mit ihrer Spiritualität aktiv leben und umgehen und sie nicht zu einem Ersatz für andere wichtige Lebensfunktionen machen, erweitern ihre Möglichkeiten, sich in ihren Werten und sinnlichen Erfahrungen zu orientieren, zu besinnen und Alternativlosigkeiten zu überwinden.

(Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine leicht veränderte und verkürzte Fassung eines Buchbeitrages für den im September 2015 erschienenen Band „Geistesgegenwärtig beraten“ – Existenzielle Kommunikation, Spiritualität und Selbstsorge in der Beratung, Seelsorge und Suchthilfe, Hg. Astrid Giebel, Ulrich Lilie, Michael Utsch, Dieter Wentzeck, Theo Wessel; Neukirchener Verlagsgesellschaft, Neukirchen-Vluyn)

Lesererfahrungen:

Marion M.„Heute vertraue ich meiner höheren Macht“

Schon als Kind und später als Jugendliche habe ich mich gern mal in eine Kirche gesetzt, bin dort zur Ruhe gekommen, wenn es mir schlecht ging zuhause. In diesen heiligen Räumen war es so friedlich, so still, ich fühlte mich total sicher und geborgen. Einen direkten Bezug zu Kirche und Bibel hatte ich damals noch nicht.
Heute weiß ich, ich habe schon damals versucht, eine Leere in mir, ein großes Loch, zu füllen.
Später dann, in überschwänglicher Geselligkeit, bei Partys und Disco-Besuchen, verbunden mit übermäßigem Alkoholkonsum, wurde dieses schwarze Loch auch nicht gefüllt.
Weiter auf der Suche, in einer buddhistischen Gruppe und während eines Klosteraufenthaltes, erfuhr ich: „In jedem von uns wohnt die Kraft des Universums“, konnte das jedoch noch nicht wirklich ganz erfassen.
Erst während meiner 6-wöchigen Tagestherapie im AKB und in den Selbsthilfegruppen, als von einer „höheren Macht außerhalb von uns“ gesprochen wurde, die stärker sei als ich, der ich vertrauen könne und die auch in mir selbst sei, habe ich begonnen, das zu verstehen und ganz langsam auch zu erleben. Und das tut mir gut, da ich durch die 40 Jahre Sauferei das Vertrauen in mich und in alles um mich herum total verloren hatte.
Heute bettle oder kämpfe ich auch nicht mehr, ich bitte heute meine höhere Macht einfach um Eingebung, Erkenntnis oder eine Entscheidung, ich lese die Bibel und bete. Ich zweifele nicht, ob ich gehört werde, ich frage ja im Versandhaus auch nicht x-mal nach.
Heute lebe ich bewusster – ich lebe im Heute, beginne jeden Tag mit einer Meditation, bitte um Lenkung, überdenke abends den Tag und schreibe meine Dankbarkeitsliste, auf der ich all die guten Dinge des Tages festhalte.
Meine innere Leere habe ich gefüllt: Mit den Menschen aus meinen Gruppen, die ebenso wie ich glücklich und zufrieden leben wollen, als Mensch unter Menschen, ohne eine Droge dafür zu brauchen. Und gefüllt mit der höheren Macht, der ich vertraue. Überall auf der Welt, egal wo ich bin, kann ich sie einfach um etwas bitten …und sie hat mir schon mehr Wünsche erfüllt, als ich mir erträumt habe.

Andreas Sch.:„Ich gebe jetzt meine Leben in DEINE Hände …“

Gesoffen habe ich seit meinem 14. Lebensjahr, mal mehr, mal weniger.
Mal glaubte ich mehr an Gott, mal weniger.
Ich wuchs durch die Tätigkeit meiner Eltern im Johannes-Stift in Spandau auf. Ich habe damals an Gott über die Institution Kirche geglaubt, stellte mir Gott als weisen alten Vater auf seinem Thron im Himmel vor. Mit meinem Auszug aus dem Stift nach meinem 18. Geburtstag änderte sich das, ich hatte den großen Traum von Freiheit und einem völlig anderen Lebensstil. Ich besuchte keine Kirchen und keine Gottesdienste mehr.
Als ich ca. 34 Jahre alt war, beschäftigte ich mich mit der keltischen Mythologie und dieser anderen Glaubensform. Ich war fasziniert von dieser „freien Kirche“, fand zum Glauben zurück. Ich glaubte nun an den altehrwürdigen Vater im Himmel als EIN GOTT mit seinen vielen Helfern. Ich entdeckte Gott neu für mich.
Während meiner Alkohol-Entwöhnungsbehandlung 2014, nach einigen Rückfällen, erlebte ich eine großartige Veränderung meines Glaubens: Ich begann, die Bibel neu zu lesen. Dieses Wissen nahm ich mit in die nachfolgende mehrmonatige Adaption in einer Einrichtung der Diakonie und begann, wieder Gottesdienste zu besuchen.
Als Anfang 2015 nach einer gescheiterten Beziehung mein Kampf gegen den Saufdruck erneut aufloderte und ich in Ängsten, Selbstzweifeln, Scham, Schuldgefühlen, Minderwertigkeit und Hilflosigkeit zu ersticken drohte, setzte ich eines Tages alles auf eine Karte und betete: „Ich gebe jetzt meine Leben in DEINE Hände …“ Ab diesem Tag begann ich intensiver und täglich zu beten, das Vater-Unser; Psalm 23 usw. und hoffte aus diesem Beten auf Kraft für mich selber. Im Gebet teilte ich all meine Sorgen und Ängste mit. Gab es spürbar positive Veränderungen in mir oder um mich herum, drückte ich meine Dankbarkeit dafür auch im Gebet aus.
All dies hält bis zum heutigen Tage an. Mein Glaube ist nun gefestigt ohne feste Konfession, ich glaube an eine Kraft außerhalb mir selber, die stärker ist als ich und die mir beisteht.
Dieser Gott, wie ich ihn verstehe, führte mich am 6.09.2015 in eine ganz besondere Kirche und ich durfte an diesem Tag gleich mehrfach wahrnehmen, dass ich nun den für mich richtigen Weg gehe: Diese Kirche mit all ihren Bildern, ihre Architektur und die Begegnungen mit den Menschen in ihr faszinierten mich, ich entdeckte sogar meinen Taufspruch vom heiligen Andreas auf einem Bildnis. Ich ging in den dortigen Gemeinderaum, um mir einen Kaffee zu holen und ging hinaus mit 2 Kaffee und einer tollen Frau an meiner Seite. Seit diesem Tag gehe ich mit dieser Frau Hand in Hand den Weg der Trockenheit und unser beider Glaube an eine höhere Macht trägt und begleitet uns.
Darüber hinaus unterstützt mich die Teilnahme an Selbsthilfe-Gruppen verschiedener Prägung mit gemeinsamen Ritualen ebenfalls in meinem Glauben. Überall erfahre ich Hilfe zur Selbsthilfe; ich beginne, mich selbst und mein Umfeld anders wahrzunehmen, bekomme die Ermutigung, Gott so zu sehen, wie ich ihn sehen möchte und meinen NEUEN WEG weiterzugehen, getragen von einer

Klaus Wehmeier: „Mir fällt es schwer, an ein höheres Wesen zu glauben …“

Im „Blauen Buch“ der Anonymen Alkoholiker las ich während meiner Therapie, dass Genesung vom Alkoholismus nur möglich sei, wenn ich bereit wäre, den Glauben an eine Höhere Macht zuzulassen. Dieser Satz machte mir damals große Angst, glaubte ich doch, dass ich somit niemals von meiner Krankheit genesen könne.
Ich las viel zum Thema und stellte mir immer wieder die Frage: Warum ist dir der Glaube nicht möglich? Ich wollte ja glauben, aber irgendetwas in mir sträubte sich. Im Konfirmanden-Unterricht war mir der Glaube an einen „guten Gott“ verloren gegangen. Zu scheinheilig erschien mir das Verhalten meiner Lehrer. Sie sprachen von Liebe und Achtung und praktizierten Hass. Und ein Vater, der seinen Sohn für uns Menschen am Kreuz sterben ließ, erschien mir nicht liebevoll. Einige Geschichten der Bibel aber fand und finde ich schön und bedenkenswert.
Diese Geschichten gelten mir als Parabeln und bieten mir die Möglichkeit, Dinge, die mir geschehen, erklären zu können. Die Geschichte vom verlorenen Sohn ist eine wunderbare Erzählung zum Thema Vergebung und ich finde in vielen dieser Geschichten einen gewissen Trost. Ich würde mich deshalb aber nicht als Christ oder als gläubigen Menschen bezeichnen. Ich nutze die Worte der Bibel für mich und interpretiere sie. Sie bieten mir Orientierung. Das Gelassenheitsgebet hilft mir, über Ereignisse nachzudenken und erleichtert mir die Entscheidungsfindung.
Lange Phasen meines Lebens habe ich mich an der buddhistischen Lehre orientiert. Ist doch das Hauptanliegen des Buddhismus die Erkenntnis des Selbst. In dem Gedanken an die Reinkarnation finde ich eine gewisse Ruhe.
Religionen helfen mir dabei, über menschliche Werte und Moral zu reflektieren. Ich halte Werte wie Liebe, gegenseitige Achtung und Anerkennung für erstrebenswert. Bin mir aber sicher, dass diese auch ohne Religion und ohne Glaube erreichbar sind. Menschliches Leiden rührt meine Seele an, auch ohne einen Glauben an Gott.
Ich bin der Auffassung, dass in der Gemeinschaft der Selbsthilfegruppen, in meiner treffe ich fast ausschließlich auf Atheisten, mehr christliche Nächstenliebe als in den Gemeinden praktiziert wird.

 

 

 

 

Titelthema 05/15: Süchtig – Was passiert im Gehirn?

TP-5Süchtig: Was passiert in unserem Gehirn?

„Trink doch einfach mal nichts mehr!“
Diesen wohlmeinenden oder kopfschüttelnden Ratschlag hören Alkoholabhängige oft. Dahinter steckt meist die noch weit verbreitete Meinung, dass missbräuchliches Saufen doch nur ein Ausdruck von Willensschwäche sei. Obwohl inzwischen wohl bekannt und wissenschaftlich erwiesen ist, dass Alkoholabhängigkeit eine Krankheit ist. Und dass ein nasser Abhängiger gar nicht mehr die freie Wahl hat, in einem bestimmten Moment zu trinken oder eben nicht zu trinken.

„Jeder Abhängige sollte sich klar machen, dass das Verlangen nach der Droge von Gehirnregionen angestoßen wird, die nicht der willentlichen Beeinflussung unterliegen“, erklärt Rolf Schneider in der „Suchtfibel“ (14. Auflage, S. 427).

Also: Was genau geht da – ohne unser Zutun – in unserem Gehirn vor sich?

Dr. Thomas Redecker, Chefarzt der Abteilung Psychosomatik der MEDIAN Klinik Flachsheide/Bad Salzuflen, stellte uns dazu die gekürzte Fassung seines Vortrages zum Thema zur Verfügung, Der süchtige Hirnstamm. Eine neurobiologische Betrachtung der Abhängigkeitserkrankung“ :

Ursache der Suchtentstehung:

Von den Fachleuten sind verschiedene Ursachenbündel für die Entstehung und Aufrechter-haltung der Abhängigkeitserkrankung herausgefunden worden. Zu diesem Ursachenbündel werden erbliche Veranlagungen (genetische Dispositionen) und der Umgang mit Suchtmitteln in der Familie gezählt. Außerdem spielt die Verfügbarkeit des Suchtmittels eine Rolle und die Bewertung des Suchtmittels in der Gesellschaft und im persönlichen Umfeld. Weiterhin wird Alkohol z.B. eingesetzt, um Ängste und Depressionen zu lindern, das Selbstwertgefühl zu steigern und unangenehme Zustände wie Anspannung, Stress oder Schmerzen kurzfristig zu beseitigen.
Die langfristige Konsequenz des Suchtmittelkonsums ist dann jedoch negativer Art mit den zuvor beschriebenen körperlichen, psychischen und sozialen Problemen.
Sucht ist somit ein bio-psycho-sozial-spirituelles Störungsbild.

Beteiligung des Gehirns (ZNS):

Neuere wissenschaftliche Untersuchungen haben sich mit der Beteiligung des Gehirns (zentrales Nervensystem) beschäftigt, um herauszufinden, in welcher Art und Weise das Gehirn an der Entwicklung und Aufrechterhaltung der Abhängigkeitserkrankung beteiligt ist. Man kann die Gehirnfunktionen in vier große Bereich aufteilen:

Großhirn, Kleinhirn, Mittelhirn, Stammhirn/Hirnstamm.

Im Folgenden werden die wichtigsten Funktionen dieser Hirnteile vereinfacht beschrieben:

Das Großhirn, der jüngste Teil des menschlichen Gehirns, hat vielfältige Aufgaben im Bereich der Muskelbewegung, der Gefühlswahrnehmung, der Planung und Entscheidung von Lebensereignissen und der Wahrnehmungsverarbeitungsprozessen. Im Stirnhirn (Frontalhirn) gibt es ein ganz wichtiges Zentrum. Hier soll das menschliche Bewusstsein lokalisiert werden, indem wichtige Entscheidungen und Bewertungen auf Bewusstseinsebene getroffen werden.

Das Kleinhirn steuert die Koordination, z.B. um eine Tasse Kaffee zielgerichtet zum Mund zu führen.

Im Mittelhirn (limbisches System) sind wesentliche Gedächtnisstrukturen und emotionale Verarbeitungsprozesse lokalisiert, die bei der Wahrnehmungsverarbeitung große Bedeutungen haben und auch die Bewusstseinsprozesse durch ihre Informationen beeinflussen. Im Mittelhirn ist das emotional-episodische Gedächtnis platziert, in dem z.B. alte Lebensereignisse gespeichert sind: der erste Schultag, der erste Kuss oder ähnliches. Es sind nicht nur Bilder, sondern auch Gerüche oder Lieder dort abgelegt.

Der Hirnstamm:

Der Hirnstamm ist der älteste Teil des Gehirns und befindet sich vom Übergang der Halswirbelsäule in den Hinterkopf und ist mittelfingergroß. Im Hirnstamm werden die grundlegenden körperlichen Funktionen wie Herzschlag, Atmung, Darmtätigkeit, Schlaf-Wach-Rhythmus, Hunger, Durst und vieles andere präzise und lebenslang gesteuert. Dieser Steuerungsprozess ist autonom und unterliegt im Wesentlichen nicht der willentlichen Kontrolle. Auch das im Stirnhirn lokalisierte Bewusstseinszentrum ist nicht in der Lage, die Hirnstammprozesse auszuschalten oder bedeutsam zu beeinflussen. Dieses ist eine entscheidende Erkenntnis, die für die nachfolgenden Ausführungen Grundlage ist.

Das wesentliche Steuerungszentrum des Hirnstamms ist das neurovegetative Nervensystem mit den Bereichen des Sympathikus und des Parasympathikus, die im Sinne von Aktivierung oder Bremsung die einzelnen Körperfunktionen zielgerichtet und erfolgskritisch steuern. Die Notwendigkeit für die Autonomie dieses Systems ergibt sich dadurch, dass diese Steuerung der lebenswichtigen Funktionen auch im Schlaf funktionieren muss.

Man kann die Hirnstammprozesse ausschalten, z.B. durch eine Narkose während einer Operation. Dann ist es erforderlich, diese lebenswichtigen Funktionen wie Atmung und Herz- Kreislauf durch einen Narkosearzt überwachen zu lassen und ggf. durch eine künstliche Beatmung zu ersetzen.

Als Zwischenergebnis ist festzustellen:

Der Hirnstamm hat die Funktion, die lebenswichtigen körperlichen Prozesse zu steuern, der Hirnstamm arbeitet selbständig (autonom) und unterliegt im Wesentlichen nicht der Kontrolle des Bewusstseins (Großhirn).

Die modernen Forschungsergebnisse der Neuropsychobiologie und der bildgebenden Verfahren legen die Vermutung nahe, dass es im Hirnstamm ein alteingesessenes Belohnungszentrum gibt, welches die Aufgabe hat, positive Gefühle bei den betroffenen Menschen zu erzeugen. Ich würde das beschreiben als ein ‚Hurragefühl‘, welches sagt: „Das Leben ist schön.“ Dieses Belohnungszentrum im Hirnstamm arbeitet mit dem Neurotransmitter Dopamin, und eine bestimmte, im biologischen Rahmen festgelegte Dopaminausschüttung, erzeugt dieses angenehme ‚Hurragefühl‘. Aus Komplexitätsgründen werden andere wichtige Neurotransmittersysteme (Opiat-Endorphine, Serotonin, Glutamat) hier nicht besprochen.

Natürliche Belohnung (Verstärker):

Dieses Belohnungszentrum existiert schon einige Millionen Jahre ,vom Schöpfer als sinnvolle Ergänzung des menschlichen Daseins geschaffen. Folgende menschlichen Verhaltensweisen können zu einer Ausschüttung von Dopamin im Hirnstamm führen: Ernährung, Sexualität, Beruflicher Erfolg (Mammuterlegen), Kreativität (Höhlenmalerei), Körperliche Bewegung (Tanzen, Singen), Soziale Kontakte.
Die Durchführung dieser Aktivitäten führt zu einer festgelegten Dopaminausschüttung in bestimmten Nervenzellen des Hirnstamms, die dann das anschließende ‚Hurragefühl‘ erzeugen. Die Dopaminausschüttung bewegt sich im Nanogrammbereich.
Zum besseren Verständnis sagen wir, dass der Verzehr eines Mammutkoteletts ‚1 kg‘ Dopamin ausschüttet, ein Waldlauf durch den Urwald ebenfalls‚1 kg‘ Dopamin und eine Liebesstunde des Höhlenmenschenpaares auch‚1 kg‘ Dopamin.
Eine erhebliche Steigerung der Dopaminausschüttung durch die Kombination von verschiedenen Dingen ist nicht zu erwarten, weil natürliche Mechanismen im Sinne eines biologischen Gleichgewichtes nur wenig Variation erfordern.

Schutzreaktion der Nervenzelle:

Viele Millionen Jahre hat dieses System gut funktioniert, und es ist dadurch durcheinander geraten, dass die chronische Einnahme von ‚Hurragefühl-erzeugenden-Substanzen‘ (Suchtmitteln) ebenfalls Wirkung auf die Dopaminausschüttung im Hirnstamm hat. Das ist der Konsum von Wein, das Rauchen von Cannabis, Konsum von Kokain, und ebenfalls Verhaltenssüchte scheinen Einfluss auf die Dopaminausschüttung zu haben, wie z.B. Glücksspiel sucht, pathologischer PC-Gebrauch, Kaufsucht und ähnliches.
Wichtig ist zu wissen, dass die Einnahme von psychotropen Substanzen (Suchtmitteln) zu einer vielfachen Ausschüttung von Dopamin im Hirnstamm führt. Diese Ausschüttung ist abhängig von den konsumierten Substanzen und kann bis zum 20-fachen der natürlichen Dopaminausschüttung sein.
Die 20-fache Ausschüttung eines Neurotransmitters ist für die Nervenzelle im Hirnstamm eine giftige (toxische) Bedrohung. Es kann sein, dass sie ihre Funktion nicht mehr richtig ausführen kann oder, dass sie durch die Überkonzentration sogar in ihrer Funktion zerstört wird. Aus diesem Grunde ist die Nervenzelle in der Lage, bei chronischer Vergiftung durch ein Suchtmittel (Alkohol, Cannabis etc.) Schutzmechanismen zu entwickeln, damit von den ,20 kg‘ Dopamin nur noch ,1 kg‘ Dopamin in der Zelle aufgenommen werden kann.

Bildlich gesehen kann man sich vorstellen, dass die Zelle ihre Eingangspforten und ihre Zellwand so stark verändert, dass von den um die Zelle herumschwimmenden ,20 kg‘ Dopamin nur ,1 kg‘ Dopamin aufgenommen wird. Dadurch kann das entsprechende ‚Hurragefühl‘ (positive Verstärkung) kurzfristig erzeugt oder später das unangenehme ,Ich-quäl-mich- Gefühl‘ beseitigt werden(negative Verstärkung). Dieser Schutzmechanismus ist je nach Suchtmittel ein langwieriger Prozess und kann Monate bis Jahre dauern.

Bei der Alkoholabhängigkeit wissen wir, dass diese Entwicklung 10-20 Jahre dauern kann und ein typisches Phänomen dieser neurobiologischen Veränderung ist die Toleranzentwicklung und die dadurch erforderliche Dosissteigerung, um die gewünschte Wirkung zu erzielen.

Plötzliche Abstinenz:

Entscheidet sich nun ein Konsument aufgrund von äußerem Druck durch Arbeitgeber, Ehepartner oder Gericht dazu, das Suchtmittel nicht mehr zu konsumieren, kommt es zunächst zu den typischen psychovegetativen Entzugserscheinungen, die eine qualifizierte Entgiftung in einer Klinik, in einer Tagesklinik oder bei einem niedergelassenen Arzt erforderlich machen. Je nach Komplikation (Delir, Entzugskrampfanfall) ist dann de geeignete Ort für die qualifizierte Entzugsbehandlung zu wählen.
Nach Abklingen der klassischen Entzugssymptome spricht man dann von der Entwöhnungsphase. Diese Entwöhnungsphase kann im Rahmen einer ambulanten, ganztägig ambulanten oder stationären Entwöhnungsbehandlung und mit Unterstützung der Selbsthilfegruppe durchgeführt werden.

Gerade die ersten Wochen nach der akuten Entzugsbehandlung sind von neurobiologisch besonderer Bedeutung und sollen deswegen ausführlich dargestellt werden. In diesen ersten Wochen der Entwöhnungsphase geht der betroffene Mensch durch die Wüste der ‘Freudlosigkeit‘ und ist besonders anfällig für gereizte Stimmungen, Suchtdruckattacken und wechselnde Motivationslagen in Bezug auf Krankheitsakzeptanz und Abstinenz. Diese Prozesse sind auch neurobiologisch durch Prozesse im Hirnstamm mitbedingt und sollen zum Verständnis dieser schwierigen Therapiephase dargestellt werden.

Zeit der Freudlosigkeit (Anhedonie):

Nach der Entgiftung befindet sich das Belohnungszentrum im Hirnstamm am Anfang der Entwöhnungsphase, die nach meiner Erfahrung 6-12 Wochen anhalten kann. Die Nervenzelle im Hirnstamm hat sich jahrelang gegen die Überdosis von Dopamin geschützt und entsprechende Veränderungen an der Zellwand und an den Eintrittskanälen durch mühselige Modifikation hergestellt. Das Großhirn des Konsumenten hat aufgrund von externem Druck entschieden, das Suchtmittel nicht mehr zu konsumieren, hat die aktive Entzugsphase überstanden und befindet sich nun in einem Stadium der Gereiztheit und der Freudlosigkeit.
Dieses geschieht dadurch, dass die Nervenzelle im Hirnstamm noch ihre jahrelang aufgebauten Schutzmechanismen hat, die die Dopaminaufnahme in die Zelle reduzieren. Der Alkohol-, Cannabis- oder Kokainkonsum, der eine ,20 kg‘-Dopaminausschüttung bewirkt hat, findet nicht mehr statt und die natürlichen Mechanismen wie Essen, Sport, Sexualität erzeugen nur ,1 kg‘ Dopamin. So befindet sich der betroffene Mensch in einem ‚Dopaminmangelzustand‘, weil durch die natürlichen Prozesse die ,20 kg‘ Dopamin nicht erzeugt werden können. Der Abbau der Schutzmechanismen in der Nervenzelle benötigt nach meiner Erfahrung einige Wochen bis Monate, so dass hirnstammbedingt richtige Freude oder ‚Hurragefühle‘ der alten Art oder vergleichbar mit dem Suchtmittelkonsum nicht erzeugt werden können. Betroffene suchtkranke Menschen versuchen dies durch das Phänomen der Suchtverlagerung, nämlich durch verstärktes Essen, Rauchen, Kaffeekonsum etc., zu kompensieren.

Auf diesem Wege soll versucht werden, die natürliche Dopaminausschüttung zu steigern, was aber nur bedingt möglich ist, sodass allenfalls nur ganz kurzfristig eine Linderung spür- bar ist. Dass für die Erzeugung von positiven Gefühlen noch andere Neurotransmitter wie Serotonin, Endorphine etc. erforderlich sind, steht außer Frage, soll aber in diesem Artikel nicht weiter ausgeführt werden. In dieser ‚Dopaminmangelphase‘ haben wir es häufig mit gereizten, in der Motivation wechselnden und in ihrer Wirksamkeitserwartung eingeschränkten Menschen zu tun, den immer wieder Mut gemacht werden sollte, durch diese Mangelsituation ohne Rückfall durchzugehen, weil die ,Oase der Freude‘ in 6-12 Wochen erreicht werden kann.
Dazu dienen in den Suchfachkliniken z.B. Fachvorträge für die Patienten zu diesen neurobiologischen Veränderungen. Die therapeutischen Mitarbeitenden und der medizinische Bereich (Ärzte, Pflegedienst) sind auf diese Veränderungen und die damit verbundenen emotionalen Krisen eingestellt und können mit psychotherapeutischen, psychiatrischen und pharmakologischen Maßnahmen Linderung verschaffen. Entscheidend ist, dass die Nervenzelle im Hirnstamm bei ihren Heilungsvorgängen nicht gestört wird durch erneute Rückfälligkeit (Substanzkonsum), weil diese die Heilungsvorgänge zumindest unterbrechen oder stoppen würde.

Der betroffene Mensch bemerkt die Heilungsvorgänge daran, dass er plötzlich wieder Vögel zwitschern hört, sich an der Sonne erfreuen kann und dass die natürlichen Verstärker und die damit verbundene Dopaminausschüttung die entsprechenden alt- vertrauten ‚Hurragefühle‘ erzeugen, ohne dass dafür ein Doping (Suchtmittelkonsum/ Verhaltenssüchte) erforderlich ist. Diese Erfahrung, die nach 6-12 Wochen eintritt, verstärkt die Therapie- und Behandlungsmotivation und unterstützt die psychotherapeutischen, ärztlichen, kreativtherapeutischen und arbeitstherapeutischen Maßnahmen. Sie sind Ergebnis eines Selbstheilungsprozesses im Hirnstamm, der durch die Abstinenz vom Suchtmittel in Gang gesetzt wird.

Salopp gesprochen ist die Aufgabe des therapeutischen Teams, den Patienten solange bei Laune zu halten, bis die Selbstheilungskräfte im Hirnstamm die alten Mechanismen des Belohnungszentrums wieder reaktiviert haben.

Sinnvolle Therapieregeln:

Im Folgenden möchte ich erklären, warum gerade in der ersten Phase der Entwöhnung bestimmte therapeutische Interventionen und Regeln der Hausordnung sinnvoll sind.
In dieser besonders kritischen Phase der Entwöhnung befindet sich der Hirnstamm, wie zuvor beschrieben, in einer Mangelsituation durch die Schutzmechanismen der Nervenzelle. Wenn nun ein suchtkranker Patient, der in einer Entwöhnungsklinik aufgenommen wird, nach zwei Wochen Einzelausgang hat, erlebt er beim Einkaufen in einem Warenhaus ein neurobiologisches Feuerwerk, beispielsweise, wenn er an den Getränkeregalen vorbeigeht oder auf dem Weg zum Warenhaus von einem Dealer angesprochen wird mit der Frage, ob er nicht was „klarmachen“ möchte (Kokainkauf).
Das Belohnungszentrum funktioniert als Erwartungsbelohnungszentrum in der Form, dass die Wahrnehmung und Erwartung, es komme bald zu einer Suchtmitteleinnahme, schon beim Gedanken daran zu einem positiven Grundgefühl als eine Art Vorweg-Belohnung führt. Ich möchte dies am Beispiel eines hungrigen Mannes deutlich machen:

Ein hungriger Mann geht mit seiner Ehefrau zum Einkaufen und äußert den Wunsch, dass er auf seine Lieblingspizza bei seinem „Lieblingsitaliener“ Lust hat. In der gewählten Pizzeria sind fünf Tische vorhanden. Tisch ‚Eins‘ ist besetzt und der hungrige Mann und seine Partnerin setzen sich an Tisch ‚Zwei‘. An Tisch Eins wird die Lieblingspizza „Tutti Gusti“ bestellt und gebracht. Schon durch das Beobachten entsteht bei dem hungrigen Mann ein angenehmes Gefühl. Die Vorstellung, in absehbarer Zeit (in einigen Minuten) diese Pizza ebenfalls essen zu können ist mit der entsprechenden Dopaminausschüttung verbunden. Mittlerweile sind alle Tische besetzt und auch diese Gäste haben Pizza „Tutti Gusti“ bestellt. Beim nächsten Öffnen der Küchentür wird die duftende Pizza an unserem hungrigen Mann vorbei an Tisch Drei gebracht. Zunächst entsteht bei ihm eine kleine Enttäuschung. Dasselbe wiederholt sich mit Tisch Vier und Fünf und Sie können sich vorstellen, dass mit der Zeit bei unserem Mann eine zunehmende Gereiztheit bis zu aggressiven Impulsen entsteht, was neurobiologisch auch mit der Nichterfüllung der angekündigten und erwarteten Dopaminausschüttung zu erklären ist. Wenn wir diese Situation auf einen suchtkranken Menschen in der ersten Phase der Entwöhnung übertragen, ist der Besuch eines Warenhauses, das Beobachten des Konsums auf einem Schützenfest, der Besuch einer Tankstelle oder das Anschauen von Werbefilmen vergleichbar mit der zuvor geschilderten Pizzeria-Situation.

Der Hirnstamm befindet sich in einer Mangelsituation und es kommt bereits bei der Ankündigung oder Vorstellung eines möglichen Suchtmittelkonsums zu einer gewissen Neurotransmitterausschüttung, die kurzfristig zu einem angenehmen, jedoch bei Nichterfüllung zu einem sehr unangenehmen Gefühl führt.
Dieses kann sich in einem direkten Suchtdruck äußern (Verlangen nach dem Suchtmittel) oder in einem indirekten Suchtdruck (Auftreten von unangenehmen Zuständen), die dann häufig nur durch den Suchtmittelkonsum beseitigt werden können, weil die natürlichen Verstärker zu einer nicht ausreichenden Dopaminausschüttung führen können. Neurobiologisch befindet sich der Patient in einer Zwickmühle: ausgelöst durch Hinweisreize wird eine jahrelang vertraute Belohnung nicht erfüllt. Es kommt zu einem unangenehmen Zustand, der selbst nicht durch natürliche Verhaltensweisen wieder ausreichend reduziert werden kann. Dieses erzeugt einen starken Drang auf alte und vertraute Suchtverhaltensweisen zurückzugreifen. Zur Bewältigung dieser Krisensituationen sind suchtmedizinische, suchttherapeutische und psychotherapeutische Maßnahmen unterstützend hilfreich.

Erst im Laufe der Zeit lernt der Patient alternative Bewältigungsstrategien und mit den zunehmenden Heilungsprozessen im Hirnstamm nehmen diese neurobiologisch bedingten, aufrechterhaltenden Bedingungen deutlich ab. Dieses Phänomen sollte bei den Ausgangs- regeln und Therapieregeln berücksichtigt werden! Der suchtkranke Mensch sollte darauf hingewiesen werden, dass der Besuch eines Schützenfestes oder die Teilnahme an einer Party, auf der eine ‚Tüte‘ rumgeht, mit einer erheblichen Belastung für den Hirnstamm und die anderen Bereiche des Gehirns verbunden ist.

Suchtgedächtnis:

Schlussendlich sollen noch Aspekte des Suchtgedächtnisses, das sich durch den jahrelangen Konsum ebenfalls im Hirnstamm/Mittelhirn entwickelt hat, Berücksichtigung finden.

Im Suchtgedächtnis sind die schönsten Trinkerlebnisse, die aufregendsten Abenteuer unter Alkohol sowohl inhaltlich als auch emotional gespeichert. Darüber hinaus gibt es direkte und indirekte Hinweisreize, durch die das Gehirn gelernt hat, dass zeitnah ein Suchtmittelkonsum zu erwarten ist. Bei Alkoholkranken kann dies das Ansehen einer Bierflasche, Alkoholwerbung im Fernsehen, der Besuch eines Grillfestes oder ähnliches sein. Bei heroinabhängigen Menschen könnte es das Finden eines Spritzenbesteckes, Aluminiumfolie, Löffel, Kerze und Feuerzeug bedeuten. Glücksspielsüchtige Menschen reagieren womöglich auf blinkende Lichter an einem Wandgerät, Spielhallenatmosphäre oder eine bestimmte Geräuschkulisse. Diese im Suchtgedächtnis gespeicherten Hinweisreize erzeugen im Sinne eines Erwartungsbelohnungssystems eine entsprechende Ausschüttung von Neurotransmittern (Dopamin), die das erwartete ‚Hurragefühl‘ erzeugt.
Wenn dieses erwartete ‚Hurragefühl‘ nicht eintritt, kommt es kurzfristig zu einer negativen Stimmungslage mit Gereiztheit und Unzufriedenheit, die dann wie zuvor beschrieben, suchtmittelkonsumauslösend wirken kann. Auch hier benötigt das Gehirn mehrere Monate, um Veränderungen in der Wahrnehmung und Bewertung von Hinweisreizen vorzunehmen.

Fazit:

Abschließend möchte ich allen Betroffenen Mut machen sich auf den Heilungsprozess der Suchterkrankung einzulassen und dem Hirnstamm die Zeit zu geben, seine Heilungsprozesse ungestört durchführen zu können.

Abstinent lebende Menschen erleben eine Heilung auf körperlichem, psychischem und sozialem Gebiet und machen viele positive Erfahrung auf ihrem spirituellen Weg. Die Suchterkrankung ist ein bio-psycho-sozial-spirituelles Störungsbild. Sie ist eine chronisch rezidivierende Erkrankung, wobei das Rückfallgeschehen einen Ausdruck der Erkrankung darstellt. Entscheidend ist, dass es gute Heilungschancen in einem regionalen Suchthilfesystem unter Einbeziehung der Suchtselbsthilfe gibt. Der vorliegende Vortrag soll dazu dienen, betroffenen Menschen und deren Angehörigen bestimmte neurobiologische Phänomene zu erklären, um in der ersten Phase der Entwöhnung die Abstinenz durchzuhalten und vorhandene Hilfsangebote des Suchthilfesystems in Anspruch zu nehmen.

 

Dr. med. Dipl.-Psych. Thomas Redecker

Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin

 

Titelthema 4/15: Wenn Eltern trinken …

Fotomontage: B-Balschus Fotos: Dieter Schütz _pixelio.de, PBAM-Fotogruppe

Fotomontage:
B-Balschus
Fotos:
Dieter Schütz _pixelio.de,
PBAM-Fotogruppe

Wenn Kinder zu Eltern ihrer Eltern werden

Familiäre Suchtprobleme haben gravierende Auswirkungen auf Kinder

von Henning Mielke

Bei den Südseeinsulanern gibt es einen Brauch: Will man eine leerstehende Hütte vor Plünderei schützen, so verschließt man die Eingangstür mit einer Knotenschnur. Setzt sich jemand über diese Schutzmaßnahme hinweg, so hat er Unheil zu fürchten. Das Zerreißen der Schnur zieht einen Fluch nach sich. Tapu-Schnüre werden diese polynesischen Diebstahlsicherungen genannt. Als „Tabu“ fanden sie Eingang in unseren Wortschatz. Wenn ein ungeschriebener gesellschaftlicher Konsens es verbietet, ein bestimmtes Thema anzusprechen und es damit der Diskussion entzieht, spricht man von Tabuisierung.

Wenn die Sprache auf Kinder kommt, deren Eltern suchtkrank sind, erlebt man, wie machtvoll Tabus sind. Denn in unserer Gesellschaft ist es nicht opportun, Eltern auf die Art und Weise anzusprechen, wie sie mit ihren Kindern umgehen. Noch weniger opportun ist es, Menschen ihre Sucht anzusprechen. Jeder Leser und jede Leserin möge es einmal gedanklich für sich durchspielen, wie es sich anfühlt, einem Nachbarn respektvoll und höflich zu sagen: „Ich nehme wahr, dass sie sehr häufig alkoholisiert sind und ich mache mir Sorgen um das Wohl ihrer Kinder.“ Da hängt eine dicke Knotenschnur vor der Tür des Nachbarn.

Kinder aus suchtbelasteten Familien sind deshalb so schwer für Hilfeangebote zu erreichen, weil familiäre Suchtprobleme und die Auswirkungen auf Kinder wie ein doppeltes Tabu wirken. Die Familien verleugnen das Suchtproblem und schotten sich gegenüber Hilfeangeboten ab. Und die Umwelt wagt es meist nicht, in diese Festung der Verleugnung einzudringen. Die Kinder sind in der Geiselhaft der Sucht. Ca. 2,65 Millionen Kinder suchtkranker Eltern gibt es in Deutschland. Fast jedes sechste Kind kommt aus einer suchtbelasteten Familie, die weitaus meisten davon aus Familien mit Alkoholproblematik. Die Kinder leiden immens unter der Familiensituation, denn wo Sucht im Spiel ist, fehlen emotionale Zuwendung, Vertrauen und Zuverlässigkeit. Sie übernehmen viel Verantwortung für ihre Eltern und deren emotionale Bedürfnisse. So geraten sie in eine dauerhafte Überforderung durch die sogenannte Parentifizierung, bei der sie im Extremfall buchstäblich wie die Eltern ihrer Eltern agieren. Für Spiel und Spaß bleibt kaum noch Raum und Zeit. Die Folgen einer solcherart geraubten Kindheit sind gravierend. Etwa ein Drittel der Kinder wird im Erwachsenenleben selber stofflich abhängig. Ein weiteres Drittel entwickelt psychische oder soziale Störungen. Das letzte Drittel geht einigermaßen unbeschadet aus der belastenden Kindheitssituation hervor.

Dieses letzte Drittel ist bedeutsam, um zu verstehen, wie man Kinder aus Suchtfamilien unterstützen kann. Studien haben Schutzfaktoren identifiziert, die es den Kindern ermöglichen, sich trotz widriger Kindheitsumstände relativ gesund zu entwickeln. Der wichtigste Schutzfaktor ist das Vorhandensein einer tragenden Beziehung zu einer erwachsenen Vertrauensperson außerhalb der Kernfamilie. Für die Entwicklung von Kindern ist es wichtig, dass Erwachsene sie in ihren Emotionen, in ihrer Persönlichkeit und in ihren Fähigkeiten widerspiegeln. Wenn Eltern suchtkrank sind, dann ist der Spiegel, in dem sich das Kind betrachtet, blind. Zwar lieben suchtkranke Eltern ihre Kinder, sie sind jedoch suchtbedingt meist nicht in der Lage, ihnen zuverlässig und beständig die Zuwendung zu geben, die sie brauchen. Eine Oma, ein Onkel, Eltern von Spielfreunden, eine Erzieherin oder ein Lehrer können dem von Sucht im Elternhaus betroffenen Kind ein verlässliches Gegenüber sein. Es ist wichtig, dass sie emotional präsent sind, dem Kind zuhören und ihm das Gefühl vermitteln, liebenswert zu sein. Diese Erfahrung ist in ihrer Wirkung für Kinder aus Suchtfamilien von immenser Bedeutung.

Ein zweiter wichtiger Schutzfaktor ist die Einsicht, dass die Eltern an einer Krankheit leiden. In den meisten Fällen suchen die Kinder die Ursache für die Sucht und das Unglück der Eltern bei sich. Tiefsitzende Schuld- und Schamgefühle sind die Folge. Wenn Kinder das Vorhandensein von Suchtproblemen im Elternhaus ansprechen, ist es daher wichtig, dass Erwachsene ihnen Basisinformationen über Sucht vermitteln:

 

Sucht ist eine Krankheit.
-Die Eltern sind wegen ihrer Sucht keine schlechten Menschen.
-Das Kind hat keine Schuld am Suchtproblem von Vater oder Mutter.
-Es kann den Eltern nicht helfen und es ist auch nicht seine Aufgabe, deren Sucht zu kontrollieren oder zu heilen.
-Das Kind hat trotz der Suchtkrankheit im Elternhaus das Recht, Kind zu sein, zu spielen, die Welt zu entdecken, -Freundschaften zu entwickeln und die eigenen Fähigkeiten zu erproben.

 

Diese Einsichten entlasten Kinder, helfen Ihnen, Schuld- und Schamgefühle zu überwinden und stärken ihr Selbstwertgefühl. Wenn ihnen erklärt wird, was Sucht ist, hilft dies, Angst abzubauen, weil sie das Verhalten der Eltern dann einordnen können.

 

Kinder aus suchtbelasteten Familien sind sehr loyal gegenüber ihren Eltern und wollen sie schützen. Für die Arbeit mit diesen Kindern im Kontext von Kindergarten, Schule, sozialer Arbeit, Gesundheitswesen und Jugendarbeit ist es daher wichtig, nicht in Aktionismus zu verfallen, sobald ein Verdacht auf ein familiäres Suchtproblem besteht. Das Wichtigste ist, zunächst eine vertrauensvolle Beziehung zu dem Kind oder Jugendlichen herzustellen und zu pflegen. Das Kind sollte ermutigt werden, über seine Emotionen und Wahrnehmungen zu sprechen. Wird dem Kind aufmerksam zugehört und wird es in seinen Gefühlen ernst genommen, hilft ihm dies zu entdecken, dass seine Gefühle ganz normal sind und dass es in Ordnung ist, traurig, verwirrt oder wütend zu sein. Wenn genügend Vertrauen aufgebaut ist, kann es sein, dass das Kind das Suchtproblem von sich aus anspricht. Dann ist es hilfreich, dem Kind die aufgeführten entlastenden Informationen über Sucht zu vermitteln.

Grundsätzlich profitieren Kinder suchtkranker Eltern von allen Aktivitäten, die es ihnen ermöglichen, Kind zu sein, ihre Fähigkeiten und Talente zu entdecken sowie soziale Fertigkeiten zu entwickeln. Dafür brauchen sie einen Raum, in dem sie ausgelassen spielen können. Alles, was das Selbstbewusstsein stärkt, unterstützt die Kinder, ihr eigenes Leben zu gestalten. Gleichzeitig gilt es für sie zu verstehen, dass sie ihre Eltern lieben und sich gleichzeitig von deren Suchtproblem lösen dürfen.

 

Mit der richtigen Art von Unterstützung können die meisten Kinder mit den suchtbedingten Schwierigkeiten einigermaßen zurechtkommen. Sobald ein Kind Verhaltensauffälligkeiten zeigt, muss jedoch über eine therapeutische Unterstützung nachgedacht werden. Gibt es Anzeichen von Gewalt, Vernachlässigung oder Missbrauch, besteht die Pflicht, zum Schutz des Kindes tätig zu werden und in letzter Konsequenz auch das Jugendamt einzuschalten.

Eine besondere Untergruppe der Kinder aus suchtbelasteten Familien sind jene Kinder mit vorgeburtlicher Schädigung durch Alkohol.

 

Alkohol ist ein Zellteilungsgift. Wenn werdende Mütter Alkohol konsumieren, tritt dieser aus dem Blutkreislauf der Mutter in den des Embryos bzw. Fötus über. Insbesondere die Entwicklung des Gehirns wird durch den Alkohol negativ beeinflusst. Die Leber des ungeborenen Kindes ist in den ersten Monaten noch nicht in der Lage, eigenständig zu entgiften. So ist das Kind immer noch alkoholisiert, während die Mutter längst wieder nüchtern ist. Auf diese Weise kann das Zellteilungsgift Alkohol über lange Zeit schädigend auf den sich entwickelnden Organismus des Kindes einwirken.

 

Durch Alkohol während der Schwangerschaft kann ein ganzes Spektrum von Störungen verursacht werden, das unter dem Begriff FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorders) zusammengefasst wird. Fetale Alkoholspektrum-Störungen (FASD) zeigen sich in Form von Hirnfunktionsstörungen und Fehlbildungen beim ungeborenen Kind.

Wie das Farbspektrum eines Regenbogens reicht das FASD-Spektrum von der voll ausgeprägten Form des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) über das schwächer ausgeprägte Partielle Fetale Alkoholsyndrom (PFAS) und die alkoholbedingten Geburtsschäden (Alcohol Related Birth Defects, ARBD) bis hin zur äußerlich nicht sichtbaren Form der alkoholbedingten neurologischen Entwicklungs­stö­rung­en (Alcohol Related Neurodevelopmental Disorders, ARND). Die Übergänge zwischen den verschiedenen Formen sind fließend.

 

Zu den äußerlich sichtbaren Merkmalen bei FAS, und – schwächer ausgeprägt – bei PFAS und ARBD zählen Minderwuchs, Untergewichtigkeit und körperliche Missbildungen, insbesondere im Gesicht. Gravierender aber sind die unsichtbaren Schä­di­gungen des zentralen Nervensystems. Sie äußern sich u. a. in kognitiven und intellektuellen Beeinträchtigungen. Es bestehen Sprachdefizite und soziale Defizite, Verhaltensauffälligkeiten sowie Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitäts-Stö­rungen. Die Kinder können sich Informationen schlecht merken, neigen zu sozial unangemessenem Verhalten, haben Probleme, ihre Impulse zu kontrollieren, Handlungen zu planen und sind oft nicht in der Lage, mit abstrakten Konzepten wie z. B. Zeit oder Geld umzugehen.

 

Bei der äußerlich nicht sichtbaren Form ARND kann die Schädigung von Gehirn und zentralem Nervensystem genauso gravierend sein, die Diagnose ist jedoch wegen der fehlenden äußerlichen Merkmale erheblich schwieriger.

 

Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Mutter ein Kind mit FASD auf die Welt bringt, steigt mit der Menge und der Dauer des Alkoholkonsums. Es gibt keinen Schwellenwert für ungefährlichen Alkoholkonsum während der Schwangerschaft. Auch nichtsüchtige Schwangere, die im Rahmen des gesellschaftlichen Trinkens als normal angesehene Alkoholmengen konsumieren, können die Gesundheit ihres Kindes gefährden. Sogar ein nur einmaliger Vollrausch einer schwangeren Frau kann für das Kind gefährlich sein. Grundsätzlich sollte deshalb während der Schwangerschaft auf jeglichen Alkohol verzichtet werden. Umgekehrt gilt: Jeder Schwangerschaftstag ohne Alkohol erhöht die Chancen, ein Kind mit geringerer Schädigung zur Welt zu bringen.

 

Es liegen keine gesicherten Zahlen vor, wie viele Kinder jedes Jahr in Deutschland mit FASD geboren werden. Anhand europäischer Vergleichsstudien schätzen Expertem das Auftreten des Fetalen Alkoholsyndroms (FAS) in Deutschland auf 0,2 bis 8,2 Fälle pro 1000 Geburten. Die Inzidenz für alle Unterformen des FASD-Spektrums wird auf eine pro 100 Geburten geschätzt. Die Bundesdrogenbeauftragte geht für Deutschland aufgrund der hohen Dunkelziffer von jährlich 10.000 Neugeborenen mit FASD aus.

Fetale Alkoholspektrum-Störungen sind nicht heilbar. Die Entwicklung der Kinder kann jedoch durch Förderung und Unterstützung positiv beeinflusst werden. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist, dass FASD zweifelsfrei diagnostiziert worden ist. Liegt die Diagnose vor, können die Kinder gezielt unterstützt werden, u. a. durch Logopädie, Ergotherapie und neuropsychologisch fundierte Psychotherapie. FASD-Kinder brauchen im Alltag eine gut strukturierte Umgebung, in der sie in ihrer Entwicklung unterstützt werden. Die wichtigste Hilfe und Unterstützung aber ist die Beziehung zu den Pflege- bzw. Adoptiveltern oder Heimerzieher/innen, die es den Kindern ermöglicht, eine sichere Bindung zu entwickeln und Liebe und Annahme zu finden.

 

Der Autor ist freier Journalist und Vorsitzender von NACOA Deutschland – Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e. V.

 

 

Informationen über Kinder aus suchtbelasteten Familien:

www.nacoa.de

www.traudich.nacoa.de
Informationen über Kinder mit FASD:

www.fasd-fachzentrum.de

www.fasd-deutschland.de

 

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