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Joachim Seiler "Das Jüngste Gerücht", Cover„Das Jüngste Gerücht“

von Joachim Seiler, mit Zeichnungen von Heiko Gliesche-Neumann
Die Sammlung der beliebtesten satirischen Kolumnen aus der TrokkenPresse  – vom Autor des legendären Buches „Blaupause“.
Taschenbuch, 100 Seiten, Preis: 10,00 Euro, ISBN 978-3-9813253-5-5   
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Titelthema 02/15: Suchthilfe im Internet

Cover_TP-2_15Ob per Handy von unterwegs oder Zuhause am PC:

Suchthilfe im Internet

Was gibt es, was bringt es?

Sind Sie auch jeden Tag im Internet? Dann gehören Sie zu den rund 80 Prozent Deutschen, für die der Besuch im Web zum Alltag gehört. Ob zum Chatten, Mailen, Shoppen, um Informationen zu finden und Rat. Auch Süchtige finden inzwischen viele Hilfsangebote. Gibt man zum Beispiel die drei Suchwörter „Alkoholismus, Hilfe, Beratung“ bei einer Suchmaschine ein, kann man heute unter 400 000 Einträgen dazu auswählen! Aber wonach denn nun auswählen? Das erfahren Sie hier…

(Auszug aus dem Chat einer Alkoholiker-Gruppe bei einem sozialen Netzwerk (Namen geändert):

Andra: „Guten Morgen, liebe Gruppe! Ich bin seit fast zwei Jahren trocken. In letzter Zeit kommt mir immer häufiger der Gedanke, dass mir die Abstinenz eigentlich nicht viel bringt. Ich bin aber nicht akut gefährdet zu einem Rückfall, habe keinen Suchtdruck, ekele mich sogar davor, wenn andere nach Bier riechen. War das bei irgendjemandem hier auch schon mal so?“

Rose: „Das geht mir auch so, Andra, und ich bin über 30 Jahre trocken, also wenn jemand nach Alkohol riecht. Aber zum ersten Gedanken: Man sollte halt sein ganzes Leben ändern und nicht nur den Alkohol weglassen. Zur Selbsthilfegruppe gehen!“

Andra: „Hey Rose, kann mir denn die Selbsthilfegruppe dabei helfen? Ich finde keinen Lebenswillen, keine Freude mehr. Alles nervt nur noch und kotzt mich an. Ist das bei euch so, geht das irgendwann mal weg???“

Karin: „Mich würden deine Abstinenzgründe interessieren und was deine Stoppschilder sind nicht wieder anzufangen zu trinken. LG“

Karin: „Ach so: Shg ist wirklich wichtig! Ich spreche aus eigener Erfahrung. Such dir nicht die erste beste aus, sondern es muss auch zwischenmenschlich stimmen. Dann hast du Freunde, Berater, wie ne kleine Familie. Die dir mit Rat und Tat zur Seite stehen!“

Paule: „Ja, Andra, es geht wieder weg, wenn du durchhältst und nicht wieder anfängst zu trinken. Selbsthilfegruppe wäre ein guter Tipp … aber es gibt auch andere Dinge, die dir über diese schlimme Phase helfen: Tue etwas für DICH!!!“

Sylvie: „Hmmm … ich bin da sehr radikal. Wenn ich lese/höre, das jemand fragt: was bringt mir die Abstinenz? Gibt es für mich nur eine Antwort: dein Leben!!“

Gerd: „Wenn Du keinen Sinn im Leben findest, keine Freude, finde ich Dich aber höchst akut gefährdet in Bezug auf einen Rückfall, Kerstin … pass bloß gut auf …“

Paule: „Ja – ich sehe auch die Gefahr zum Rückfall … Diese Stimmungen/Phasen musst du trocken überstehen! Also hole dir Hilfe und denke immer, es wird wieder besser. Wenn du wieder trinkst, dann fängt das Elend von vorne an. Bleibe stark!“

Andra:„Erstmal danke für eure ehrlichen Antworten. Ich bin noch nicht solange trocken (fast zwei Jahre erst) und vllt dachte ich auch fälschlicherweise, dass sich dann einfach was von alleine ändert an meinem Lebenswillen …“

Diese sieben trockenen AlkoholikerInnen sind einander noch nie direkt begegnet …
Aber sie „reden“ im Internet miteinander, sie teilen ihre ganz persönlichen Erfahrungen zu dem sie verbindenden Thema: Alkoholkrankheit. Völlig unabhängig davon, wo der Computer eines jeden gerade steht, in Berlin oder Thüringen, daheim oder im Büro – und es ist auch egal, wie spät es gerade ist.
Sie chatten miteinander.

Chats und Foren

Chatten ( engl. plaudern) ist elektronische Kommunikation mit anderen in Echtzeit, meist auf Websites mit dafür ausgelegten technischen Funktionen. Menschen treffen sich an einem „Ort“ – dem Chat-room. Oft, wie z. B. bei facebook, ist es ein eigener virtueller „Gruppenraum“, zu dem nur Mitglieder Zutritt haben.

Der Unterschied zu einem Forum: Dort kann man – nachdem man sich angemeldet hat – in verschiedene (n streichen) Themenbereichen seine Frage „einstellen“. Die wird dann meist vom Moderator/Administrator geprüft (um Beleidigungen u. ä. vorzubeugen), und dann erst für alle Forumsmitglieder freigegeben. Wer es liest, und ob jetzt oder später, kann dann antworten. Die Unterhaltung verläuft also asynchron.

In diesen Foren und Chats finden Sie Gleichgesinnte:

www.clic-deutschland.de

www.suchtundselbsthilfe.de

www.forum-alkoholiker.de

www.selbsthilfe-interaktiv.de/foren

www.sucht-selbsthilfe.com

www.trockeneralkoholiker.forumieren.com

facebook-Gruppen:

(bei www.facebook.com anmelden, unter Suchfunktion die Gruppe finden)

FTA – Forum Trockener Alkoholiker

Trockene Alkoholiker sind die wahren Helden

Trockene Alkoholiker

Alkoholiker

Alkoholsucht

Anonyme Spieler und Alkoholsüchtige

Suchtselbsthilfe in Deutschland

Suchtfrei…ich bin dabei

AA-Meetings:

www.online-aa.de

(Für die „aa-only-Meetings” müssen Sie sich einschreiben [(anmelden]).

Den Chat können Sie über einen Gastzugang mitbenutzen.)

Natürlich finden Sie im Internet auch reine Informationen zum Thema Alkoholabhängigkeit, Sucht, Entgiftung, Entwöhnung usw., und können so anonym überhaupt erst einmal einen ersten Zugang zum Thema bekommen. Sie können sich auch an Tests versuchen und herausfinden, ob Sie oder ihr Partner süchtig sind oder nicht. Für Letzteres aber bieten sich besonders Onlineberatungen an …

Online-Beratung

„Mein Mann trinkt jeden Abend zehn Bier, ist er gefährdet? Was kann ich tun?“

Solche und ähnliche Fragen können Sie anonym an Experten stellen. Das Grundprinzip: Sie machen keinen realen Termin wie bei einer Suchtberatungsstelle, sondern schreiben eine E-Mail mit Ihrer Frage zu jeglichem Problem, versenden Sie und erhalten in ein bis zweiTagen eine Antwort. Und zwar von Fachleuten auf diesem Gebiet, meist Therapeuten.

Hier zum Beispiel finden Sie Online-Beratung:

www.caritas.de (hilfeundberatung/onlineberatung/suchtberatung)

www.suchthotline.info

www.step-hannover.de (angebote/online-beratung)

www.diakonie.de (Ich suche Hilfe/ Alle Beratungsleistungen/nur online-Beratung, auf Karte klicken)

www.das-beratungsnetz.de

(Auch regional werden mitunter Online-Beratungen angeboten. Sie könnten Sie finden, wenn Sie die Suchbegriffe Sucht, Beratung online, Ihren Ort angeben)

Außer den vorgestellten Möglichkeiten im Internet entwickeln sich derzeit weitere. Eine davon: Die Online-Therapie. Sie könnten dann von Zuhause aus per Video-Chat mit einem Therapeuten täglich ihr Therapie-Pensum bearbeiten. Das wird gerade mit einigen Projekten an Universitäten getestet. Da aber in Deutschland das Fernbehandlungs-Verbot besteht, sind die rechtlichen Voraussetzungen dafür erst noch zu schaffen. Deshalb hier nur eine Website, die es bereits ermöglicht, weil die deutschsprachigen Betreiber in Frankreich agieren: www.myonlinetherapie.com. Aber Vorsicht, lesen Sie sich alle Hinweise auf der Seite genau durch. Diagnosen werden nicht gestellt – und es ist auch selbst zu bezahlen.

Was können diese Angebote, was nicht?

Ich muss nirgendwohin fahren.

Ich muss keine Termine einhalten.

Ich muss mich nicht vor Bekannten outen.

Ich muss schreiben, das klärt Gedanken.

Ich kann jederzeit alles wieder nachlesen.

Ich kann jederzeit rund um die Uhr Informationen, Erfahrungen und Hilfe erhalten.

Das scheinen die wesentlichen Vorteile der Hilfe aus dem Internet zu sein.

Ein Handbuch der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V.* zum Thema empfiehlt die Nutzung virtueller Selbsthilfegruppen vor allem für „… Betroffene, die an ihrem Wohnort keine geeignete reale Selbsthilfegruppe haben, die aus anderen Gründen keine reale Gruppe aufsuchen können oder wollen, … die ausdrücklich die Kommunikation über das Internet wünschen, weil sie ihre Probleme ansprechen können, ohne ihre Identität bekannt geben zu müssen.“ Dennoch, heißt es weiter, könne die Gruppe im Internet „ … trotz des intensiven Austausches die wirkliche Begegnung und das solidarische Gruppenleben nicht ersetzen … Gerade für Menschen mit Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Umgang kann die mediale Information und Vermittlung kein wirklicher Ersatz und keine Alternative für den direkten zwischenmenschlichen Kontakt und die damit verbundenen Auseinandersetzungen sein.“ Außerdem könne die Gefahr der Suchtverlagerung – des Austausches eines Suchtmittels gegen ein anderes (Internet) – bestehen.

* DHS, Manual „Sucht-Selbsthilfe: Beratung und Begleitung von suchtkranken Menschen und ihren Angehörigen im Internet“, Christina Meyer)

Anja Wilhelm

So schützen Sie Ihre Daten im Net

Vorab:
Was einmal im Netz steht, ist weltweit zugänglich – und nur sehr schwierig wieder „zurückzuholen“! Deshalb als Grundregel:

Stellen Sie nur Informationen, Fotos und Filme ins Internet, die auch die ganze Welt lesen und sehen darf, ohne dass es Ihnen schaden kann.
Schaden können Ihnen vor allem auch kriminelle Nutzer, vom so genannten ¸Identitäts-Klauer‘ (zum Beispiel, um auf Ihren Namen in Online-Shops zu bestellen) bis zum Passwort-Dieb (zum Beispiel für das Online-Banking).
Dagegen können Sie sich mit den folgenden Regeln „selbst verteidigen“:

– Überlegen Sie genau, welche Daten Sie herausgeben. Wenn in Foren oder Shops Informationen zu Ihnen erfragt werden, ist es zum Beispiel nicht immer nötig, auch die Telefonnummer „auszuplaudern“ o.ä.
– Sie dürfen auch ruhig ein bisschen flunkern in Foren, Chats oder sozialen Netzwerken, benutzen Sie ein Pseudonym.
– Passwörter sollten mindestens achtStellen in Groß/Kleinschreibung plus Zeichen haben. Wechseln Sie diese alle zwei bis drei Monate. Geben Sie sie niemals weiter an andere.
– Versäumen Sie das Ausloggen nicht!
– Benutzen Sie E-Mail-Dienstanbieter, die nicht nur die Daten verschlüsselt speichern, sondern auch den Transport der Daten (z.B. web.de, gmx …)!
– Öffnen Sie niemals SPAM-Mails oder deren Anhänge, sie könnten Viren enthalten.
– Achten Sie beim Online-Banking auf eine sichere Verbindung, zu sehen in der Adresszeile als „https“
– Installieren Sie eine Firewall, sie schützt vor unberechtigten Zugriffen aus dem Internet.
– Aktualisieren Sie Ihr Antivirenprogramm stetig, das schützt vor sogenannter Spyware (Viren, die Ihren PC „ausspähen“ könnten).
– Stellen Sie in sozialen Netzwerken Ihren Privatsphäre-Filter genau ein: Wer darf dies oder das von mir sehen und lesen?
– Facebook: Sobald Sie sich als Mitglied registriert haben, unterliegen Sie denfacebook-Datenschutzrichtlinien. Lesen Sie diese also vorher. Denn facebook darf laut safe-harbour-Bestimmungen (sie regeln den Datenaustausch zwischen den USA und der EU) alle Informationen sammeln, die Sie bereitstellen, von der Telefonnummer bis zu Urlaubsfotos. Um sie dann zum Beispiel Mess- und Anzeigendiensten zu verkaufen. Regeln Sie In den Privatsphäre-Einstellungen, wer welche Daten sehen und lesen kann. Wenn Sie einer Gruppe beitreten, beachten Sie: Nur geheime Gruppen sind wirklich geheim – niemand außer den Gruppenmitgliedern kennt Gruppe, Namen, Beteiligte und die Postings.

Weitere Hinweise finden Sie unter www.bfdibund.de, einem Datenschutzforum, und unter www.selbstdatenschutz.info, wo technische Schritte genau erklärt werden.

 

Titelthema 01/15: Frau und Sucht

titeltp115FRAU und SUCHT

Sind Frauen anders süchtig als die Männer?

Etwa 370 000 Frauen und Mädchen sind alkoholabhängig,meldete die Drogenbeauftragte der Bundesregierung vor vier Jahren. Seitdem gibt es noch keine neuen offiziellen Zahlen, aber Schätzungen liegen höher, nämlich bei 500-600 000. Tendenz steigend. Immer mehr Frauen trinken immer mehr. Aber weshalb?

Ich stehe vor dem Weinregal im Supermarkt. Ganz bewusst. Das tat ich bis jetzt höchstensdann, wenn mal eine Feier bevorstand. Heute ist das aber anders … Also: Welche Flasche nehme ich? Die Etiketten sagen mir gar nichts. Weiß? Rot? Ja, rot. Rot wärmt. Ich nehme die Flasche mit nach Hause. Nicht wie ein Paket Nudeln. Eher so hoffnungsvoll wie eine neue, unbekannte beste Freundin. Mit der Zuversicht, sie würde mich heute Abend ablenken können. Mir abzuschalten helfen. Den Verstand auszuknipsen, die ewigen zermürbenden Gedankenkreisel mal anhalten. Die Einsamkeit verscheuchen. Die Sorgen, die Angst. Denn ich bin allein. Mein Mann ist zu einem Job in den fernen, gefährlichen Kongo gereist. Aber ich habe nicht nur Angst um ihn, sondern auch seit Monaten Furcht um unsere Ehe. Er ist so anders in letzter Zeit. Er verheimlicht mir Dinge,die er tut. Auf meine Fragen bekomme ich nie Antworten … All das will ich heute einfach mal nicht fühlen müssen. Sondern vergessen dürfen. Und ich ahne, der Rotwein könnte helfen. Für diesen Abend tat er es – bis zum nächsten Morgen zwar nur. Aber immerhin!

Dieser ganz bewusste Kauf vor 12 Jahren, an den ich mich erinnere, als wäre es gestern gewesen, war mein Einstieg ins Alkoholikerleben. Denn es folgten ihm noch unzählige … So sehe ich das heute.

Ich war damals 40 Jahre alt, arbeitete als Redakteurin und versorgte meinen Sohn, unseren Hund, Haus und Garten; mein Mann arbeitete die Woche über in einer anderen Stadt. Damit passte ich haargenau hinein in das Bild, das die große EU-Studie „Alkoholkonsum und Alkoholprobleme bei Frauen in europäischen Ländern“ heute von 40 % der alkoholabhängigen Frauen zeichnet: gute Ausbildung, berufstätig, Familie. Hinzu kommen meist noch Doppelbelastung, geradlinige Lebensläufe. Häufig Minderwertigkeitskomplexe. Schuldgefühle. Oft eine plötzliche Lebenskrise, die zu bewältigen wäre. Heimlich trinkend, unauffällig. Sich aus Scham erst spät Hilfe suchend. Ein anderer großer Anteil sind laut Studie sehr junge Mädchen und Frauen, aus oftmals zerrütteten Elternhäusern, mit Erfahrungen von Misshandlungen und Missbrauch. Zerrissen zwischen Größenwahn nähern sie sich dem Koma-Trinken der Jungen an.

Christina Schadt von der Fachstelle für Suchtprävention Berlin bestätigt diese Studienergebnisse in einem Interview mit der TrokkenPresse:

Weshalb trinken Frauen und rutschen in die Sucht?

Schadt: „Die Sozialisation von Frauen und das ,so habe ich zu sein als Frau‘ birgt spezifi sche Risiken hinsichtlich der Entwicklung einer Sucht. Viele Frauen kümmern sich auch heute noch zuerst um andere und wollen um jeden Preisfunktionieren und ihren Alltag bewältigen. Anders als Männer richten Frauen sich meist an den Anforderungen von außen aus. An dem, was andere von ihnen wollen. Nicht daran, was sie selber wünschen. Frauen wollen heute beides, einen Beruf, der sie erfüllt und den sie gut ausfüllen, aber gleichzeitig auch gut die Familie versorgen. Diese Doppelbelastung kann zu Überforderungssituationen führen. Denn noch immer erhalten Frauen traditionell zu wenig Unterstützung von der Familie, vom Partner. Solche Situationen der hohen Belastung versuchen Frauen – im Gegensatz zu Männern – mit sich selbst zu klären. Und trinken Alkohol, weil sie sich zum Beispiel entlasten und entspannen wollen.“

Wie trinken Frauen – und weshalb?

Schadt: „Generell trinken sie weniger als Männer, und eher Mixgetränke, Wein und Sekt als Spirituosen. Was das riskante Trinken angeht, liegen Frauen mit einem Anteil von 12,8 % im Vergleich zu Männern mit 15,6 % ähnlich hoch. Eine Abhängigkeitserkrankung weisen dagegen etwa 9,5 % der Männer und 3,5 % der Frauen in Deutschland auf (vgl. ESA 2012). Auch die Situation des Trinkens an sich ist anders: Frauen trinken eher im Verborgenen, eher zuhause. So, dass die Öffentlichkeit das nicht mitbekommt. Denn Frau und Alkohol ist gesellschaftlich stigmatisiert. Der Mann dagegen erfährt sogar eher soziale Anerkennung. Sein Trinken wird gesellschaftlich bewertet als männlich und stark. Gleichzeitig allerdings versuchen inzwischen einige Frauen, dieses alte Stigma aufzubrechen und trinken jetzt auch öffentlich.“

Werden Frauen schneller süchtig?

Schadt: „Ja. Wenn Frauen das Gleiche trinken wie Männer, hat es stärkere Auswirkungen. Das liegt zum Beispiel am geringeren Körpergewicht, der Alkohol verteilt sich auf kleinerem Raum. Dazu ist die relative Fettmasse größer als beim Mann, diese ist aber kaum durchblutet. Der Alkoholspiegel im Blut ist dementsprechend höher, wirkt intensiver und begünstigt raschere Organschäden. Außerdem haben Männer einen höheren Anteil bestimmter Enzyme, die für den Abbau des Alkohols zuständig sind, im Körper. Bei Frauen wird also Alkohol schlechter abgebaut.“

Brauchen Frauen geschlechtsspezifi sche Beratung und Therapie?

Schadt: „Ja! Weil sie andere Motive haben zu trinken. Andere Bedürfnisse. Darauf sollte unbedingt eingegangen werden, um passgenaue Betreuungsmöglichkeiten zu finden. Das beginnt ja schon bei der Kinderbetreuung, Mütter brauchen Angebote, die Therapie und Kind unter einen Hut zu bringen gestatten.“

Was könnten oder müssten Frauen anders tun, um nicht zum Alkohol zu greifen?

Schadt: „Frauen sollten eine Menge mehr für sich selber tun. Nach eigenen Bedürfnissen schauen, denen mehr Gewichtgeben. Sie müssten lernen, ihre Belastungen zu reduzieren, indem sie sie auf mehrere Schultern verteilen, sich Unterstützung zu suchen. Und: Entspannung lernen. Aber das Wichtigste ist wirklich, dass Frauen ihre Denken verändern: Nämlich dahin, sich vielmehr als bisher um sich selbst zu kümmern.“

Frau und Sucht

 

titeltp115Die aktuelle TrokkenPresse …

TrokkenPresse 1-15… hat als Hauptthema diesmal, wie schon angekündigt, „Frau und Sucht“: Frauen wie Marion aus Brandenburg und Mia aus Berlin schildern ihre Erfahrungen als Alkoholikerin. Männer erzählen, wie sie die nasse Zeit mit ihrer Partnerin erlebten. Expertenmeinungen, Zahlen und Fakten geben Auskunft auf unsere Frage:

Sind Frauen anders süchtig?

Ja? Oder nein? Schauen Sie doch vorab auf unsere Leseproben unter dem Button „Aktuelle Trokkenpresse“.
Weitere Themen: Cannabis, frei verkäuflich oder nicht? Stadtentwicklung in Berlin-Schöneberg und und und… Wie immer natürlich werden Sie AnDi`s aktuelle Gedanken im ABC der Sucht lesen können, über Rolf Zweifels neue Kolumne schmunzeln, Veranstaltungstipps finden. Auch Gedichte und Gerichte fehlen natürlich nicht.

Übrigens: Ihre Ideen, Erfahrungen und Gedanken sind uns immer sehr wichtig!!!! Bitte einfach hier unter Kontakt klicken – und losschreiben!

HERZLICH WILLKOMMEN…

2013-03-23 002… auf unserer neuen Webseite!


Das Team des Verlages TrokkenPresse wünscht Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, dass jeder Tag des neuen Jahres 2015 ein „trockener“ sein möge –  voller Zufriedenheit und Gesundheit. Jenen, die noch auf dem Wege dahin sind, Hoffnung und Kraft!

 


Was erwartet Sie hier?

Aktuelle Termine, Hilfs-und Freizeitangebote, Informationen für Suchtpatienten und -therapeuten in Berlin/Brandenburg und mehr. Außerdem Leseproben der aktuellen Ausgabe und der Bücher sowie Bestell-und Kaufmöglichkeiten.
Um ständig „frisch“ zu sein, sind wir auch auf Sie angewiesen:
Bitte senden Sie uns IHRE Erfahrungen, Gedanken, Tipps und Ideen!


Neu: Unsere aktuelle Print-Ausgabe ist da!

TP06-14-TrokkenPresse

Möchten Sie vorab schon einmal hineinschnuppern?

Die Inhaltsangabe und Text-Auszüge finden Sie immer unter dem Button Aktuelle TrokkenPresse, Titelblatt/Inhalt, Thema, Kolumne und Hausdestille.
Wo Sie die TrokkenPresse erwerben können, sehen Sie unter Kaufen&Bestellen.

Viel Spaß!

Titelthema 6/14: Datenschutz

Gespräch mit Dr. Alexander Dix über den Datenschutz im Gesundheitswesen

Dr. Alexander Dix

Dr. Alexander Dix

Datenschutz ist Grundrechtsschutz!

Vor wenigen Tagen hatte die „TrokkenPresse“ die Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit, Dr. Alexander Dix. Auslöser war ein Beitrag von Prof. Dr. Renate Schepker im „Deutschen Ärzteblatt“ vom Oktober 2014 (siehe TP 5/14). Dort wird u. a. festgestellt: „Die Datenübermittlung (von Kliniken, Ärzten usw. d. V.) gestattet derzeit theoretisch jedem bei den Krankenversicherungen beschäftigten Sachbearbeiter – 2009 waren das 137.513 Personen – Kombinationen von Diagnosen und Leistungen und damit Fallverläufe nachzuvollziehen.“ Das führt zu der Schlussfolgerung: „Den Patienten und ebenso den Patientenverbänden dürfte nicht bekannt sein, dass gerade aus den besonders sensiblen Leistungskodes für psychische Erkrankungen deutlich mehr ablesbar ist als aus denen des DRG-Systems (Fallpauschalen d. V.).“

Wir wollten wissen, wie es mit dem Schutz persönlicher Daten, auch über den Gesundheitsbereich hinaus, bestellt ist.

 Warum müssen wir unsere Daten schützen?

Spätestens Edward Snowdens Enthüllungen über die exzessiven Überwachungspraktiken der amerikanischen und britischen Geheimdienste haben den Menschen die Augen geöffnet, welcher Krake seine Fühler nach „unseren“ Daten ausstreckt. Vielen war schon vorher klar, dass das Internet eine unsichere Infrastruktur ist. „Unbekannt war dagegen, dass es systematisch als Plattform für eine weltweite, anlasslose Überwachung genutzt wird und dass darüber hinaus Geheimdienste auch demokratischer Staaten, die jedes Maß verloren haben, die gesamte Telekommunikation jederzeit beobachten.“ (Bericht des Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit 2013). Dass die Konsequenzen, welche die Bundesregierung daraus gezogen hat, „im Wesentlichen verbaler Natur“ (ebenda) sind, lässt die Schlussfolgerung zu, dass man an oberster Stelle um das Problem weiß, aber nicht gewillt ist, es zu lösen. Letzten Endes sind gerade personengebundene Daten mittlerweile zu einer hochprofitablen Handelsware geworden.

„Wissen ist Macht“, lautet eine nicht neue Erkenntnis von Francis Bacon. Das Wissen über Persönliches hat weitreichende Bedeutung für Regierungen, Geheimdienste, Unternehmen und Institutionen. Jeder Bürger wäre deshalb gut beraten, verantwortungsbewusst und sparsam mit dem Weitergeben von persönlichen Informationen umzugehen.
Deshalb ist ein funktionierender Datenschutz von größter Wichtigkeit, wollen wir unsere Identität und Individualität auch zukünftig erhalten und nicht „Big Brother“ noch mehr Möglichkeiten geben, in unsere Privatsphäre einzudringen.

Der gläserne Patient

Dr. Dix stellte eingangs fest, dass der Schutz der persönlichen Daten ein Grundrecht jedes Bürgers ist. In der heutigen Zeit des Abschöpfens von Daten geht es darum, dieses Recht zu stärken und zu verteidigen. Besonders betroffen davon ist das Gesundheitswesen. Es gibt den Widerspruch zwischen ärztlicher Schweigepflicht und gleichzeitiger elektronischer Übermittlung von Patientendaten, z. B. an die Abrechnungsstellen der Krankenkassen. Hier sind die Einflussmöglichkeiten des Berliner Datenschutzes begrenzt, da keine gesetzliche Krankenkasse ihren Standort in Berlin hat.

Nicht jeder im Gesundheitswesen Beschäftigte müsse alles wissen, so Dix. Es muss gewährleistet werden, dass nur die unbedingt erforderlichen Daten weitergegeben werden und zur Weitergabe aller persönlichen Daten das Einverständnis des Patienten vorliegen muss. Die Schwierigkeit bestehe darin, dass Patienten, die sich meistens in einer psychischen Ausnahmesituation befinden, oftmals gar nicht wissen, was sie in der Klinik unterschreiben.

An dieser Stelle versucht der Datenschutz verstärkt Einfluss zu nehmen. So werden Beschwerden der Patienten sehr ernst genommen und ihnen wird konsequent nachgegangen. Darüber hinaus informieren sich die Datenschützer regelmäßig über die Krankenhausinformationssysteme und deren Umfang. Im Bedarfsfall geben sie den Kliniken Orientierungshilfen, was zulässig ist und was nicht.

Die Hauptverantwortung liege aber beim Patienten. Denn er bestimmt über den Umgang mit seinen Daten. Dazu sei wichtig, sagte Dr. Dix, dass er sich nicht nur über seine Krankheit informiere, sondern genauso auch über seine Bürger- und Patientenrechte. Es gibt mittlerweile eine Reihe von gesetzlichen Grundlagen, die den Schutz sensibler Daten beinhalten. So ist im § 4a des Bundesdatenschutzgesetzes festgelegt, dass der Bürger über die Weitergabe von persönlichen Daten voll aufgeklärt werden muss. Das bedarf der Schriftform und einer ausdrücklichen Einwilligung, soweit besondere Arten personenbezogener Daten (§ 3, Abs. 9) erhoben, verarbeitet oder genutzt werden. Aber mal ehrlich: wer unserer Leser weiß das schon? Hier komme der Aufklärung eine große Bedeutung zu, stellte der Datenschutzbeauftragte fest. Oftmals fehle ihm diese in den Krankenhäusern. Dass ein minimaler Datenfluss zu den Krankenkassen unumgänglich sei, schon wegen der Abrechnung, sei nicht zu umgehen.

Wie sieht es mit Sanktionen bei Verstößen aus? Vielen Missständen komme man durch Anfragen und Informationen der Bürger an den Berliner Datenschutz auf die Spur. Aber auch durch regelmäßige Kontrollen. Im öffentlichen Bereich, wozu z. B. die Vivantes-Krankenhäuser zählen, bestehen die Möglichkeiten des Datenschützers vor allem darin, Verstöße zu beanstanden, die Verursacher zur Stellungnahme aufzufordern und Vorschläge zur Beseitigung der Mängel zu unterbreiten. Bei Privatunternehmen, wozu z. B. die Helios-Krankenhäuser zählen, werden schwerwiegende Datenschutzverstöße mit einem Bußgeld geahndet.

Auf der zukünftigen Krankenversicherungskarte sollen auch bestimmte sensible Daten (Diagnosen, Therapien, Medikamentengaben usw.) gespeichert werden. Das ist erst einmal wichtig für die ganzheitliche Behandlung, wenn z. B. der Urologe weiß, welche Medikamente der Patient vom Kardiologen bekommt. Trotzdem ist vor allem hier die Mitarbeit des Patienten gefordert. Er entscheidet, welche Diagnosedaten gespeichert werden dürfen und er muss informiert werden, was auf die Karte gespeichert wird. Ein Problem dabei sieht Dr. Dix bei einem Backup der Daten: Wo werden diese abgelegt? Wer hat darauf Zugriff? Eine Sicherungskopie ist deshalb erforderlich, falls die Karte verloren geht…

(Den gesamten Text lesen Sie bitte in der Print-Ausgabe der Trokkenpresse 6/14)

Hübler/J. Schiebert

Titelthema 05/2014: Wohnungslos – und kein Ende in Sicht

WOHNUNGLOS – UND KEIN ENDE IN SICHT


Die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt ist seit der Jahrtausendwende eindeutig. Die Mietpreise steigen und der Bestand an bezahlbarem Wohnraum sinkt. Selbst bei Neubauprojekten beträgt der Anteil an sozialem Wohnraum oft weniger als 30%. Das Phänomen Wohnungslosigkeit trägt damit wesentlich zur sozialen Ungleichheit zwischen denen, die haben und denen, die nicht(s) haben, bei. Betroffen ist davon zum Beispiel das Rentnerehepaar mit begrenztem Einkommen, das aufgrund von Gentrifizierung seine alte Wohnung nicht mehr bezahlen kann und aufgeben muss. Den Mangel an sozialem Wohnraum bekommen auch jene deutlich zu spüren, die wir im Rahmen der ambulanten Hilfen betreuen. Die Unterbringung bei Verwandten und Freunden kann in diesem Zusammenhang nur als Notlösung angesehen werden. Folgt man der Definition von Wohnungslosigkeit, die die Bundesarbeitsgemeinschaft der Wohnungslosenhilfe (BaGW) formuliert hat, dann gehören beide Personengruppen bereits zu den fast 300.000 Menschen, die allein in Deutschland von Wohnungslosigkeit betroffen sind. Es reicht schon der Umstand, dass jemand über keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügt und auf ordnungs- oder sozialrechtlicher Grundlage in eine kommunale Wohnung oder in ein Heim der Wohnungslosenhilfe eingewiesen wird. Dort ist allerdings die Aufenthaltsdauer begrenzt und Dauerwohnplätze gibt es nur wenige. Typische Beispiele dafür sind Übergangswohnheime und -wohnungen, Asyle, Herbergen und betreute Wohnformen. Dies gilt gleichermaßen für den von uns im Rahmen von betreutem Einzelwohnen und einer therapeutischen Wohngemeinschaft zur Verfügung gestellten Wohnraum. Ganz gleich um welche Wohnform es sich dabei handelt, für die betroffenen Wohnungslosen geht es immer „nur“ um kurzfristigen Schutz, nicht um langfristiges Wohnen.

Dass es oft unverschuldete unglückliche Umstände, wie der Tod von Menschen und Tieren, Krankheit, Scheidung, Gefängnis, Gewalt, psychische Erkrankung und Sucht sind, die Menschen in die Wohnungslosigkeit treiben, macht die Sache nicht einfacher. Noch weniger hilft das Recht auf Wohnen, dieses 1948 international verbriefte Menschenrecht. Man mag jetzt einwenden, dass der menschenrechtliche Handlungsbedarf hierzulande eh weniger offenkundig ist als in vielen Teilen der Welt, wo unfassbares Wohnelend herrscht. An der Verpflichtung eines jeden Staates, für seine Bürger Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben zu schaffen, ändert dies aber nichts. Und: eine sichere, angemessene und dauerhaft finanzierbare Wohnung bleibt dafür eine we- sentliche Grundvoraussetzung. Die steigenden Zahlen wohnungsloser Menschen sind jedoch eher ein Indiz dafür, dass die Politik allein diese Aufgabe nicht bewältigen kann. Es braucht mehr Initiativen, z.B. in kleinerem Zusammenhang orientierten Kontext und ganz allgemein mehr gesellschaftliches Verständnis für die Ursachen von Wohnungslosigkeit.

Auch Menschen, die aus Institutionen wie Gefängnissen, Kliniken und Heimen entlassen werden, gehören zum Personenkreis der Wohnungslosen. Sie bleiben immer häufiger in ihrer schwierigen Situation stecken, wenn zum Zeitpunkt der Entlassung kein Wohnplatz zur Verfügung steht. Der Schritt in die Selbstständigkeit durch eigenen Wohnraum bleibt ihnen somit verwehrt. Für solche Fälle ist in Berlin die Soziale Wohnhilfe ein verlässlicher Ansprechpartner. Sie kooperiert seit langem mit den Berliner Wohnungsbaugesellschaften. Doch der Bedarf übersteigt bei weitem das Angebot, das vermittelt werden kann. Richtig kritisch wird es, wenn man dann noch auf die steigende Anzahl von Immigranten und Asylbewerbern blickt. Sie müssen in der Regel monatelang in Auffangstellen, Lagern, Heimen oder Herbergen wohnen, bis wenigstens der Aufenthaltsstatus geklärt ist.

Für fast alle hier genannten Betroffenen gilt, dass sie aufgrund eines schwierigen Wohnungsmarktes zu lange in einer Situation leben, die auf Dauer krank macht. Und zwar nicht nur körperlich, sondern vor allem psychisch. Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe in Berlin schlagen bereits seit langem Alarm und beklagen die unhaltbaren und unmenschlichen Zustände für die Betroffenen. Wie gestrandete Seelen warten sie auf ein normales Leben in eigener Wohnung. Hinzu kommt der Umstand, dass diese Menschen zunehmend als Konkurrenz von jenen empfunden werden, die noch weiter unten sind. Die, die „Platte machen“, also auf der Straße leben und ohne eigene Unterkunft an öffentlichen Plätzen, in Abbruchhäusern, Parks oder unter Brücken nach einem Schlafplatz suchen, bis sie nicht mehr können und ein Dach überm Kopf benötigen oder verschrieben bekommen.

Man glaubt es kaum: der 11. September ist nicht nur der „Tag des Terrors“, sondern auch der „Tag der Wohnungslosen“. Grund genug zu hoffen, dass zukünftig etwas mehr, und sei es nur ein winziger Bruchteil des Geldes, welches für die Terrorbekämpfung ausgegeben wird, für die Wohnungslosen abfällt. Vielleicht schlägt man damit sogar zwei Fliegen mit einer Klappe: die Zellen von Wut und Verzweiflung befrieden!

Andreas Peters

Titelthema 04/14: Mut zur Veränderung

MUT ZUR VERÄNDERUNG


Einige Leitsätze möchte ich meinen Ausführungen voranstellen:

– Das Leben ist Veränderung und Veränderung gehört zum Leben dazu.

– Wir können uns nicht nicht verändern.

– Ohne Veränderung gäbe es keine Weiterentwicklung.

– Veränderungen tragen grundsätzlich die Chance zu eine Verbesserung der bestehenden Situation in sich.

– Veränderung ist ein Instrument der aktiven Lebensgestaltung.

Veränderungen bringen neue Dinge mit sich, mit denen wir erst noch lernen müssen umzugehen. Mit dem Vertrauten kennen wir uns aus, aber Neues wirkt erst einmal bedrohlich, weil wir nicht einschätzen können, welche möglichen Gefahren oder Unannehmlichkeiten damit verbunden sind. Unsere Skepsis beziehungsweise Angst vor Veränderungen ist natürlich oder normal, denn sie sichert unser Überleben. Wir dürfen uns nur nicht von diesen Impulsen beherrschen lassen.
Wir warten mit vielen notwendigen Entscheidungen bezüglich Veränderungen oft so lange, bis irgendetwas auf uns zukommt. Wir werden selbst also erst aktiv, wenn es nicht mehr anders geht. Und dann haben wir den Eindruck, dass wir nur noch reagieren können, selbst aber keine Wahl hatten. Beispiele in Ihren Reihen gibt es zuhauf!

Sie werden z. B. „völlig überraschend“ gekündigt. Die Ehefrau reicht „aus heiterem Himmel“ die Scheidung ein. Ihr Arzt stellt „plötzlich“ einen schweren Leberschaden fest…

Doch fast alle Veränderungen haben Vorzeichen, und in der Regel haben wir sehr viele Möglichkeiten, zu erkennen, in welche Richtung etwas verlaufen wird.
Wenn wir aber alle Zeichen ignorieren und hoffen, dass alles beim Alten bleibt, kommt irgendwann der Augenblick, in dem die Veränderung, z. B. die Kündigung oder die Scheidung, uns tatsächlich wie ein Schicksalsschlag trifft, auf den wir nur noch reagieren können. Dann fühlen wir uns in der Regel überfordert, hilflos und sind verunsichert.

Anders ist es, wenn Sie sich selbst rechtzeitig für eine Veränderung entscheiden, selbst dann, wenn es noch nicht zwingend notwendig ist. Das wäre dann ein Vorbeugen, z. B. bei kleinen Anzeichen für gesundheitliche Probleme. Statt abzuwarten, bis Sie ernsthaft erkranken, ein sogenannter Schicksalsschlag Sie trifft, könnten Sie z. B. überlegen, ob Sie etwas an Ihrer Lebensweise ändern müssen. Sie werden damit zu einem aktiven Gestalter der Situation und Ihres Lebens. Dazu brauchen Sie Mut und Kraft und, um durchzuhalten, Disziplin und Eigenmotivation.
Manche sind zu der Erkenntnis gekommen, dass es durchaus einiges gibt, an dem sie etwas verändern möchten oder sogar müssen, und stürmen voller Energie und Entschlossenheit los (bevor die Angst sie wieder lähmt?). Das kann jedoch Menschen in Ihrem Umfeld schnell überfordern. Erwarten Sie keine Freudenrufe, wenn Sie beginnen, sich und Ihr Leben zu verändern, denn Veränderung verunsichert oder macht Angst, macht misstrauisch („bist Du krank?“ oder„plötzlich übergeschnappt?“,„wird sowieso nicht lange anhalten“).

Das heißt, neben aller Veränderung brauchen wir auch einen gewissen festen Rahmen, um uns sicher zu fühlen und orientieren zu können. Verändern Sie die Dinge Schritt für Schritt und eines nach dem anderen.

Fritz Riemann, ein Psychoanalytiker, hat sich in seinem Werk „Grundformen der Angst“ intensiv mit der menschlichen Entwicklung, den verschiedenen Entwicklungsschritten und den damit verbundenen Ängsten auseinandergesetzt. Eine unserer Entwicklungsaufgaben besteht darin, sich auf Dauer einzulassen und in die Zukunft zu planen, z.B. im Beruf, in der Ehe, beim Hauskauf, so als ob die Welt stabil und die Zukunft vorhersehbar und planbar ist – und gleichzeitig jederzeit bereit zu sein, uns zu verändern, weiter zu entwickeln, Veränderungen und Entwicklungen zu bejahen.

Mit allen Entwicklungsprozessen sind Ängste verbunden. Wir möchten bleiben, möglichst immer gleich; sich vom einmal Erreichten zu lösen, bedeutet Abschied nehmen vom Vertrauten. Insofern bedeutet jede Psychotherapie auch Wandel und Veränderung, und sie macht daher vielen Menschen Angst, löst Widerstände aus. Neben vielen suchtmittelabhängigen Menschen kennen auch viele Angehörige von Süchtigen diese Angst. Sie bleiben in der Beziehung, beteuern ihre Hoffnung, dass sich der Suchtkranke vielleicht doch noch ändert und versäumen, sich selbst auf den Weg der Änderung zu machen, aus Angst, einen unvertrauten Weg mit all seinen Wagnissen zu beschreiten.
Die Sehnsucht nach Dauer ist eine sehr tief liegende, denn sie beschert uns Verlässlichkeit in der Welt und gibt uns Orientierung und Ordnung. Das erhöhte Sicherheitsbedürfnis geht einher mit einer erhöhten Angst vor dem Risiko – wie bei dem Mann, der erst ins Wasser gehen will, wenn er schwimmen kann.

Sich auf eine Psychotherapie einzulassen bedeutet jedoch immer ein gewisses Risiko mit ungewissem Ausgang, und genauso ist es mit der Abstinenz. Wer jahrelang getrunken hat, ein Leben ohne  Suchtmittel nicht mehr kennt, für den ist die Abstinenz ein Risiko, er muss lernen, das Leben ohne Suchtmittel auszuhalten und zu meistern; und er weiß eben nicht von Anfang an, wie es geht und ob es gelingen kann. Er muss das Schiff besteigen, die vertraute Küstenlinie hinter sich lassen, ohne genau zu wissen, wo er landet.
Das erfordert Mut!

Dazuzulernen, Neues zu probieren, sich verändern und neu orientieren kann auch durchaus etwas Lustvolles und Spannendes sein. Wir erfahren dadurch, dass wir fähig sind, uns an Neues anzupassen und uns weiter zu entwickeln. Unser Selbstvertrauen wächst, ebenso unser Kompetenzerleben. Indem wir Neues probieren, erfahren wir auch etwas über unsere Grenzen. Wir erfahren, dass wir noch dazulernen müssen, aber auch können! Und schließlich bekommen wir mit der Zeit einen Erfahrungsschatz, der uns bei zukünftigen Aufgaben zugutekommt und uns Sicherheit gibt, auch diese Situation zu meistern.

Betrachten wir die kindliche Entwicklung. Sie dauert lange und ist störanfällig. Wollen wir überleben, sind wir von der ersten Stunde unseres Lebens an gezwungen, uns anzupassen und uns auf neue Situationen einzustellen.

Grundvoraussetzung für ein gelingendes Leben ist Selbstvertrauen, eine Selbst-Verlässlichkeit, die aus früheren positiven Verlässlichkeitserfahrungen resultiert. Dazu brauchen wir die Erfahrung von Halt und Sicherheit gebenden Menschen, die unsere Bedürfnisse nach sozialem Kontakt, nach Achtung und Beachtung, nach Geborgenheit und Wärme zuverlässig befriedigen, die sich angemessen um uns kümmern, uns versorgen und umsorgen. Daraus entwickelt sich dann das sogenannte Urvertrauen, dass die Welt erlebt wird als etwas, wozu man Vertrauen haben kann oder, wenn dies nicht gelingt, ob sie als unzuverlässig, bedrohlich und versagend erlebt wird. Und wenn die Entwicklungsschritte einigermaßen zuverlässig gelingen, entwickelt sich das Vertrauen in mich selbst, dass ich aktiv Einfluss nehmen kann auf mein Schicksal, in der Lage bin, mich und meine Welt aktiv zu gestalten.

So wie Kinder die wohlwollende Unterstützung der Eltern oder wichtiger Bezugspersonen bei dem schwierigen Entwicklungsprozess, dem verunsichernden Übergang von einer Entwicklungsstufe in die andere benötigen, so benötigen auch Erwachsene Unterstützung und Ermutigung bei Veränderungsprozessen, insbesondere dann, wenn wir etwas aufgeben sollen, das uns bisher wichtig war und geholfen hat und wir (noch) nicht wissen (können), ob wir die Veränderung, das Loslassen durchhalten und schaffen können.

Der Veränderungsprozess

Man kann einen Veränderungsprozess in einzelne Abschnitte unterteilen bzw. einzelne Abschnitte unterscheiden.
Unsere erste Reaktion auf eine Veränderung ist Schock und Verwirrung. Fliehen oder kämpfen. Denken Sie daran, als Sie zum ersten Mal mit der „Diagnose“ Alkoholiker und der Aufforderung „Du musst was ändern“ konfrontiert wurden. Wann immer eine neue Situation auftaucht, müssen wir damit rechnen, dass uns unsere bisherigen Annahmen, Fähigkeiten oder Verhaltensweisen in dieser Situation nichts nützen. Das macht Angst. Dem Schock folgt die Verneinung der Realität: „das kann nicht sein“, „ich doch nicht“. In dieser zweiten Phase mobilisieren wir häufig zusätzliche Energie. Diese Energie ist aber ein Mehr von dem, das bereits in der Vergangenheit nicht funktioniert hat.

Darauf folgt eine Phase, die man mit rationaler Akzeptanz umschreiben könnte, ein „Ja … aber“ Denken. „Ich würde ja gerne auf hören, das habe ich auch schon probiert, aber ich schaff es nicht“. Oder: „Ja, ich trinke zu viel, doch ich kann jederzeit auf hören“. Wir sehen zwar die Notwendigkeit einer Veränderung ein, aber wir finden noch keine Lösung, die uns wirklich weiter bringt und wir wollen auch die möglicherweise notwendigen Konsequenzen nicht in Kauf nehmen.
Dann   kommt die wohl schmerzlichste, gleichzeitig aber auch die wichtigste Phase: die emotionale Akzeptanz und Annahme der Situation. An diesem Punkt erkennen wir, dass wir nicht weiterkommen wie bisher. Man nennt diese Phase auch „Tal der Tränen“, weil diese Erkenntnisse meist schmerzlich sind. Ja, es ist so und ich muss neu anfangen. Ohne diese Phase kann es keine wirklichen Veränderungen geben.
Nach diesem „Tal der Tränen“, also der emotionalen Erkenntnis, dass sich nun tatsächlich etwas verändern muss, werden wir frei für neue Lösungsansätze. Wir beginnen nun wirklich Neues auszuprobieren, gehen z. B. in eine Beratungsstelle, zu AA oder beginnen eine Suchtbehandlung. In dieser Phase fangen wir an, die Situation aktiv umzugestalten. Dabei geschehen immer auch Fehler. Diese Fehler helfen uns auf dem Weg, eine geeignete Strategie zu entwickeln. Wie wir z. B. als Abstinenter in unserem Umfeld dauerhaft abstinent leben können. Die einen werden missio- narisch, die anderen ziehen sich vollkommen zurück, bedauern sich oder schämen sich usw. Das Motto dieser Phase lautet: Versuch und Irrtum bringen mich weiter.

In Zeiten großer Veränderungen sollten wir uns „mildernde Umstände“ geben und behutsam mit uns umgehen. Wir sollten keine Perfektion erwarten oder von uns verlangen. Irgendwann finden wir eine Lösung oder eine für uns passende und hilfreiche Strategie, die uns weiterbringt. Unsere Eigenkompetenz, also die Fähigkeit mit einer Situation umzugehen, ist nun höher als zu Beginn des Veränderungsprozesses. Wir haben etwas gelernt. Wir haben eine neue Strategie entwickelt, um mit einer uns zuvor unbekannten Situation (Abstinenz) klar zu kommen. Wir übernehmen Verhaltensweisen, die sich als erfolgreich herausgestellt haben, in unser Handlungsrepertoire, welches sich dadurch kontinuierlich erweitert. Wir empfinden Zufriedenheit, da wir etwas geschafft haben. Wir haben unsere Kompetenz erweitert. Vielleicht ist das der Zustand, den man mit „zufriedene   Abstinenz“   umschreiben kann, jedoch ohne sich nun selbstzufrieden zurück zu lehnen.

Wir sind in eine Phase des neuen Gleichgewichts eingetreten.

Der gesamte Veränderungsprozess bekommt noch einmal eine andere Dynamik, wenn an seinem Ende ein klar definiertes Ziel oder eine attraktive Vision steht. Wenn wir wissen, wohin wir eigentlich wollen, dann halten wir Phasen von Misserfolgen oder „Abwegen“ besser aus als ohne Ziele und Visionen. Deshalb ist es immer mal wieder sinnvoll innezuhalten und sich zu fragen: Wie ist meine derzeitige Lebenssituation, wo befinde ich mich gerade persönlich und wie möchte ich in ein oder zwei Jahren leben? Welche nächsten Schritte sind nötig um weiter zu kommen?

Und besonders wichtig: Was bin ich bereit dafür zu tun?

Ich möchte nun zum Schluss noch auf einige hilfreiche Eigenschaften und Fähigkeiten für den Prozess der Veränderung hinweisen. Es sind dies in erster Linie die sogenannten Erfolgseigenschaften wie Mut, Selbstvertrauen, Optimismus, Flexibilität, visionäres   Denken …, die Einfluss haben auf unsere Bereitschaft, unser Leben eigenverantwortlich und aktiv zu gestalten. Anstatt Veränderungen aus der Opferrolle heraus zu erleben, können wir sie dann als Herausforderung und als Chance annehmen.

Einige der Fähigkeiten möchte ich gesondert herausstellen.

– Die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Gemeint ist damit das Vermögen, das eigene Handeln und die eigenen Einstellungen zu überdenken und auf ihre Nützlichkeit hin zu überprüfen. Das ist nicht immer leicht. Es bedeutet letztlich, innerlich einen Schritt beiseite machen zu können und sich selbst zu beobachten bzw. zu kommentieren.

– Die Fähigkeit, die eigene Inkompetenz zu erkennen. Das bedeutet, in der Lage zu sein, die eigenen Fehler zu erkennen, sie eingestehen und Abhilfe schaffen zu können. Aus Fehlern kann man lernen!

– Soziale   Kompetenz, das bedeutet die Fähigkeit zu einem konstruktiven Miteinander, denn die wenigsten Dinge kann man ganz allein für sich durchziehen. Bei den meisten Veränderungen geht es nicht um das Alleine, sondern um das Miteinander.

– Die Fähigkeit, uneindeutige oder sogar widersprüchliche Situationen ertragen zu können. Oft gibt es kein eindeutiges Richtig oder Falsch. Bei Veränderungen, bei denen es, wie ich weiter oben schon gesagt habe, um ein Probieren geht, erlebt man auch viel Unklarheit, und das muss man aushalten lernen, statt nur in schwarz-weiß und entweder-oder bzw. perfektionistischem Denken zu verharren.

– Loslassen können, das heißt auch mal Kontrolle abgeben können. Bei Veränderungsprozessen können wir nicht alle Details beeinflussen. Manches geschieht nicht so, wie man es will. Deshalb: loslassen, was nicht in Ihrer Macht steht und Gelassenheit, die Dinge auch mal laufen zu lassen. Dazu braucht man innere Zuversicht und Sicherheit und manchmal auch etwas Geduld.

– Gelassenheit beruht auf einer realistischen Einschätzung der Situation, der eigenen Person und der Wahrscheinlichkeit eines Misslingens, der Erfahrung, dass Erfolg und Misserfolg zum Alltag gehören und dass Misserfolge nicht den Weltuntergang bedeuten.

– Flexibilität meint innere Beweglichkeit, denn Veränderung bedeutet immer Bewegung. Deshalb gilt: Verbeißen Sie sich nicht in ein Problem und versteifen Sie sich nicht auf einen Lösungsweg. Manchmal gibt es eben Umwege und gelegentlich sogar Abkürzungen.

Und zu guter Letzt

Sie sollten Freude haben an dem, was Sie tun. Dafür sollten Sie wissen, was Sie wollen, die Dinge aktiv in die Hand nehmen und mit Herz und Seele dabei sein. Dann können Sie auch andere dazu bewegen, mitzuziehen und mit Hilfe oder Unterstützung bei und mit Ihnen zu sein.

 

Alfred Scheib

Psychologischer Psychotherapeut

 

 

Titelthema 03/2014: Sucht und Arbeit

SUCHT UND ARBEIT


Die Statistik ist erschreckend: Fünf Prozent aller Beschäftigten gelten als alkoholsüchtig, weitere zehn Prozent (2,5 Mio.) als stark gefährdet. 11 Prozent aller Beschäftigten trinken täglich Alkohol am Arbeitsplatz, 41 Prozent gelegentlich. 10 bis 30 Prozent aller Arbeitsunfälle ereignen sich unter Alkoholeinfluss. Akoholkranke fallen durch 16mal häufigere Fehlzeiten, 2,5mal häufigere Krankmeldungen, 3,5mal häufigere Arbeitsunfälle und eine um 25 Prozent reduzierte Arbeitsleistung gegenüber ihren Kollegen auf. Im „Jahrbuch Sucht 2014“ sind die volkswirtschaftlichen Kosten durch Alkohol auf rund 27 Milliarden Euro beziffert. Die „direkten Kosten“, also für Gesundheitswesen, Sachschäden in Betrieben, Sachbeschädigungen und Verkehrsunfälle, betragen 10 Milliarden Euro.

Da ein Alkoholkranker nicht mehr zur Einschätzung seiner Situation fähig ist, kommt hier den Kollegen und Vorgesetzten eine besondere Verantwortung zu.

Natürlich tragen die Arbeitsverhältnisse entscheidend mit dazu bei, dass Berufstätige zu Drogen greifen. Dabei spielt der brutale Wettbewerb in der asozialen Marktwirtschaft eine wichtige Rolle: die Gewinne sollen ständig erhöht werden, Effektivität und Effizienz müssen deshalb steigen, die Anforderungen an den Einzelnen werden größer, immer weniger Mitarbeiter müssen immer mehr Aufgaben erledigen (die Senkung der Personalkosten ist ein wesentlicher Faktor für die   Gewinnmaximierung). Daraus folgen Belastungen und Erkrankungen wie familiäre Probleme, Depressionen, Stresssyndrome und Burnout, von dem man vor 20 Jahren noch gar nichts wusste. Gegengesteuert wird dann oft mit Alkohol oder Tabletten – morgens Amphetamine zur Leistungssteigerung, abends Benzodiazepine zur Beruhigung und zum Einschlafen. Dass dabei die Pharmaindustrie und ihre Lobbyisten eine unheilvolle Rolle spielen, sei nur am Rande erwähnt (vgl. auch Hontschick, Walter, Kobylinski: Patient im Visier: Die neue Strategie der Pharmakonzerne. suhrkamp 2011, 8,99€). Durch die agressive Werbung werden uns ständig überflüssige Bedürfnisse eingeredet, und um die befriedigen zu können, müssen wir unter zunehmenden Belastungen ständig „funktionieren“.

Auswirkungen im Team

Die Kollegen eines alkoholkranken Beschäftigten stehen vor mehreren Dilemmas: Entweder sie trinken selber fleißig mit (nicht jeder, der viel trinkt, ist abhängig) oder sie „decken“ ihren kranken Mitarbeiter. Dabei entsteht oft folgendes Verhaltensmuster: Zuerst wird der Betroffene geschüzt, er wird versteckt, wenn ein Vorgesetzter erscheint, im besonders schlimmen Fall wird er (heimlich) nach Hause geschickt. Seine Arbeitsaufgaben werden von anderen mit erledigt. Das kann jahrelang so gehen, besonders bei älteren Kollegen nach dem Motto „den schleppen wir bis zur Rente durch“. Die zweite Stufe ist Verärgerung: Das Team muss ständig für den Alkoholkranken mitarbeiten, weil er unzuverlässig, unkonzentriert, unpünktlich ist und viele Fehlzeiten hat. In der dritten Stufe wird der Betroffene offen kritisiert, eine Verhaltensänderung verlangt und schließlich der Vorgesetzte informiert, sofern der nicht auch in Stufe eins involviert ist. Es gibt Kollektive, die dasselbe Verhalten wie Coabhängige zeigen.

Was ist zu tun?

Da der Suchtkranke in der Regel seine Lage nicht erkennen kann, sich selbst in falscher Selbstwahrnehmung als „normal“ empfindet, sein Abhägigkeitsproblem ständig leugnen wird, Besserung verspricht usw., aber keine Änderung eintritt, sind die Kollegen gefordert, und damit oft auch überfordert. Sie sollten wissen, dass jeder Tag der Abhängigkeit die Krankheit verschlimmert.

Deshalb gibt es in vielen Betrieben und Einrichtungen Vereinbarungen, in denen die Vorgehensweise geregelt ist. Sollte dies nicht der Fall sein, wäre ein betrieblicher „Leitfaden“ hilfreich, da die wenigsten wissen, was zu tun ist. An erster Stelle stehen Gespräche mit dem Betroffenen, die ihm seine Situation bzw. Erkrankung bewusst machen und ihm eindeutig signalisieren, dass das Team dieses Verhalten nicht weiter tolerieren wird. Ganz wichtig: niemals mit Konsequenzen drohen, die dann nicht erfolgen! Und das Team sollte sich im Klaren sein, dass Lügen, Ausflüchte, leere Versprechungen usw. zum Krankheitsbild bei Süchtigen gehören. In den seltensten Fällen werden solche Gespräche zu Verhaltensänderungen führen (das ist übrigens in der Familie genauso). Dann muss oft der Vorgesetzte eingreifen, der dem Betroffenen mitteilt, dass er sich Sorgen mache und der Meinung sei, dass das Fehlverhalten suchtmittelbedingt ist. Er sollte auf Hilfsangebote hinweisen (Suchtkrankenhelfer, Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen, Arzt) und Nachweise fordern. Gleichzeitig wird der Termin für ein nächstes Gespräch festgelegt, wenn es zu erneutem suchtmittelbedingtem Fehlverhalten kommen sollte. Dieses Gespräch sollte i. d. R. nach acht Wochen stattfinden. Hier kann dann schon eine Abmahnung angedroht werden. Sollte sich auch jetzt nichts ändern, folgen weitere Gespräche mit Abmahnungen bis hin zur Kündigung.

Konsequenzen

Der Versicherungsschutz durch die Berufsgenossenschaft erlischt bei alkohol- und medikamentenbedingten Unfällen. Damit sind nicht selten hohe Kosten für den Betroffenen verbunden. Das betrifft auch Haftpflicht-, private Unfall- und Kaskoversicherung.

Auf den folgenden Seiten berichtet Dr. Klaus Mucha aus der Praxis im BA Tempelhof-Schöneberg. Die Fürsorgepflicht für die Beschäftigten liegt beim Arbeitgeber. Aber auch jeder Kollege trägt eine soziale Verantwortung. Deshalb sollten Alkohol- oder Medikamentenprobleme im Team nicht als Privatangelegenheit des Betroffenen angesehen, sondern das Gespräch geführt und im Wiederholungsfall der Vorgesetzte informiert werden. Nur durch kontrollierbare Auflagen und den entsprechenden Druck kann dem Betroffenen geholfen werden, alles andere wäre Illusion.

(Wer den Titel dieses Beitrages in eine Suchmaschine gibt, findet zahlreiche Verweise im Internet, die weiterhelfen.)

Jürgen Schiebert

 

BETRIEBLICHE SUCHTPRÄVENTION IM BEZIRKSAMT TEMPELHOF/SCHÖNEBERG


Entwicklungslinien von den Anfängen Ende der 80er Jahre im BA Schöneberg über die Fusion der Bezirksämter zur Jahrtausendwende bis heute und weiter gedacht.

Wenn ich zurückdenke in die 80er Jahre, dann fallen mir zum Thema Sucht meine PatientInnen ein, die mir in meiner Zeit als Gruppentherapeut in einer großen Langzeitklinik der Arbeiter-Rentenversicherung Baden begegneten und die mir tiefe Einblicke in ihre Lebensläufe anvertrauten. Diese therapeutischen Beziehungen haben sich ziemlich unvergesslich bei mir eingeprägt. Einerseits war diese berufliche Station für mich auch so etwas wie die Wanderschaft eines Gesellen, der in die weite Welt zieht (von Berlin nach Südbaden), um den beruflichen Erfahrungshorizont zu erweitern, über den bisherigen Tellerrand hinaus zu blicken. Zusätzlich sammelt man auf so einer „Walz“ Lebenserfahrung: Andere Länder, andere Sitten, andere Mentalitäten. Als Nordlicht kommt man sich nicht nur unter der Dusche nach dem Fußballspiel wie ein Ausländer vor, wenn die Sportfreunde um einen herum nur noch Alemannisch sprechen. Auch die gruppentherapeutischen Sitzungen täglich morgens um 8 Uhr erforderten das Eintauchen in den Sprach- und Denkraum der PatientInnen. Nur wer dem Volk aufs Maul schaut, kann es verstehen lernen und verstanden werden, um an Luthers Prinzip zu erinnern.

Anfänge der „Suchtkrankenhilfe“ Ende der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts

So, zurück nach Berlin, rein ins Jugendamt mit Sitz Rathaus Friedenau. Mich, („Doktor der Schwarzwaldklinik“ wurde ich damals tatsächlich manchmal freundlich etikettiert), krallte sich sofort der Büroleiter, um das Jugendamt in der ämterübergreifenden AG zu vertreten, die eine Dienstvereinbarung (DV) zum Umgang mit dem Alkoholproblem am Arbeitsplatz  erarbeiten sollte. Meiner Erinnerung nach ging die sehr verdienstvolle Initiative auf eine Personalrätin aus der Gruppe der ArbeiterInnen zurück.

Mit der ersten Dienstvereinbarung wurde eine Grundlage geschaffen, um ausgehend vom 1968er Urteil des Bundsozialgerichts (Alkoholismus ist eine Krankheit) und dem Urteil des Bundesarbeitsgerichtes 1983 (Sucht/Abhängigkeit nicht selbstverschuldet), endlich einen angemesseneren Umgang mit der Fragestellung zu ermöglichen. Das Ende der„Nasenpolitik“ (1) begann. Hilfsangebote standen von nun an im Vordergrund. Es etablierte sich eine Gruppe von freiwilligen SuchtkrankenhelferInnen.

Im Laufe der 90er Jahre wurden erste Erfahrungen mit der Umsetzung der Dienstvereinbarung gemacht. Bald wurde klar, dass es nicht ausreichte, nur halbherzig/halbtags einen Fachmenschen zu engagieren (anfänglich einen externen Halbtagspsychologen, dann eine Sozialarbeiterin mit wechselndem Stundendeputat) und sich inhaltlich ausschließlich auf Alkoholgefahren zu beschränken.

Großes Verdienst der Kollegin Sozialarbeiterin als Suchtbeauftragte war es, mit der Entgiftungsstation der Klinik des Deutschen Roten Kreuzes am damaligen Standort in der Nähe des Heidefriedhofs in Tempelhof eine Kooperation zu beginnen. Seit der Zeit haben bis heute über 80 mal Beschäftigte des Bezirksamts Gelegenheit gehabt, auf der Suchtstation zu hospitieren (damals in Dreier-, neuerdings in Zweier-Grüppchen), um hautnah zu erfahren, wie mit Suchterkrankten professionell im Entgiftungsstadium umgegangen wird, welche Schicksale sich hinter den Suchtkarrieren verbergen etc.

Die Überarbeitung der DV hatte zum Ergebnis, dass eine volle Stelle für eine/n Sucht- beauftragte/n verankert wurde und der Blickwinkel auf Süchte/Abhängigkeiten insgesamt geweitet wurde. Diese Erkenntnisse konnten in den Fusionsverhandlungen (2)   mit dem BA Tempelhof gerettet werden.

 Schöneberg und Tempelhof gemeinsam ins neue Jahrtausend

Die Dienstvereinbarung „über Maßnahmen zur Eindämmung von Suchtkrankheiten und über den Umgang mit suchtmittelgefährdeten – oder kranken Beschäftigten im Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg von Berlin war das Ergebnis intensiver Gespräche in einer Arbeitsgruppe beider Bezirksämter und trat im Fusionsjahr 2001 in Kraft. Die fusionierten Bezirksämter hatten gemeinsam ca. 5.000 Angestellte, ArbeiterInnen und BeamtInnen. Der Neu-Bezirk Tempelhof-Schöneberg ist nach der Einwohnerzahl die zehntgrößte Stadt Deutschlands (deutlich größer als z.B. die Uni-Stadt Bielefeld). Schon damals schrieben wir in die Präambel der DV:

„Durch die sich rasch verändernden Lebens- und Arbeitsbedingungen verstärken sich die psychischen Belastungen und Spannungen für die einzelnen Beschäftigten. Eine Reihe von Mitarbeitern begegnet diesen Belastungen mit einem steigenden Konsum von Alkohol und anderen Suchtmitteln. Das dauerhafte Missbrauchsverhalten verursacht erhebliche gesundheitliche Schäden, die im Arbeits- wie auch Privatleben zu Beeinträchtigungen der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit führen.“

Es folgt dann eine klare Priorität für einen Hilfe-Prozess von Prävention über Beratung bis Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess (Nachsorge, inzwischen ja auch unterfüttert durch Betriebliches Eingliederungsmanagement BEM gemäß 84 Sozialgesetzbuch SGB IX).

„Um die Gesundheit und Leistungsfähigkeit unserer Mitarbeiter zu erhalten, haben wir uns zum Ziel gesetzt, alle Mitarbeiter über die Gefahren des Suchtmittelmissbrauchs aufzuklären, den suchtkranken Mitarbeitern bei der Überwindung von Suchtkrankheiten zu helfen und sie bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess zu unterstützen“ (DV, Seite 1) .

 Kernstück der DV sind die klar vorgegebenen und detailliert beschriebenen Gesprächsabfolgen (Stufengespräche).

„Mit dieser Dienstvereinbarung soll ein Verfahrensablauf im Umgang mit suchtkranken Beschäftigten eingeführt werden. Dieser abgestufte Verfahrensablauf gibt den Vorgesetzten und Mitarbeitern vor, wie bei suchtbedingten Auffälligkeiten von Mitarbeitern zu verfahren ist“ (ebd.) .

Die hohe Verantwortung von Führungskräften wird besonders hervorgehoben:

 „Insbesondere die Vorgesetzten tragen im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht bei der Prävention wie auch bei dem Umgang mit suchtkranken Mitarbeitern und bei der Wiedereingliederung von ehemals suchtkranken Mitarbeitern besondere Verantwortung. Suchtkranke Mitarbeiter brauchen konsequent handelnde Vorgesetzte und Kollegen“ DV, Seite 2) .

 In dem Film „Der erste Schritt“ (Deutsche Angestellten Krankenkasse DAK 2006), den ich regelmäßig bei Fortbildungen einsetze, sagt die Vorgesetzte im Gespräch mit ihrem vermeintlich alkoholgefährdeten Mitarbeiter: „Durch Ihr Verhalten bestimmen Sie, wie weit wir gehen.“ Das ist ein sehr kluger Gedanke, der deutlich machen soll, dass es der Betroffene in der Hand hat, ob er kooperiert und die kleinen Schritte auf dem Weg des langen Hilfeprozesses mitgeht, die ihm helfen könnten, oder ob er im negativen Fall so handelt, dass leider mit arbeits- oder dienstrechtlichen Konsequenzen zu rechnen sein muss.
Aber: Diesen klugen Satz müssten sich leider viele Führungskräfte selbst hinter die Ohr schreiben, denn auch durch ihr Handeln oder eben leider Nicht-Handeln bestimmen sie, wie weit eine möglicherweise sich entwickelnde Alkoholabhängigkeit bei einer/eine ihrer MitarbeiterInnen voranschreitet. Leider gibt es immer noch viel zu viele, die lieb weggucken, nicht wahrnehmen (nicht als Wahrheit nehmen) oder Vereinbarungen inkonsequent nicht einhalten (Termi Sanktionen).

Co-Alkoholismus spielt hier seine üble Rolle. Deshalb wird in dem 10 Seiten starken Leitfaden für Führungskräfte (Anlage zur DV) dringend zu Rollenklarheit geraten:

„Bleiben Sie in Ihrer Rolle als Vorgesetzter (nicht in die Rolle des Helfers oder Beschützers schlüpfen!)“ und „begeben Sie sich nicht in eine unbewusste Komplizenschaft mit dem Suchtkranken (Co- Alkoholismus).“

Mit der Fusion und dem Inkrafttreten der DV wurde als Vollzeit-Suchtbeauftragte eine bisher eher fachfremde Tempelhoferin untergebracht, die sich bis zu ihrer Berentung 2003 bemühte, im Sinne der DV zu arbeiten. Es gelang ihr, die Schöneberger SuchtkrankenhelferInnen und die vereinzelt vorhandenen Tempelhof SuchtkrankenhelferInnen zu einer Gruppe zusammen wachsen zu lassen.
Fundierte Unterstützung erfuhr die Suchtarbeit in der damaligen Zeit durch den leider viel zu früh von uns gegangenen Jürgen Petukat im Rahmen seines Engagements bei den Guttemplern. Dort machten einige der Suchtkrankenhelfer Innen (und auch der Autor) die Zusatzausbildung zur/m Kollegialen Berater/in. Jürgen Petukat führte mehrere Jahre lang Fortbildungen für Führungskräfte des Bezirksamts durch. Ich habe viel von ihm gelernt und werde ihn nie vergessen.

Betriebliche Suchtprävention als ein Bestandteil des Betrieblichen Gesundheitsmanagements

Ab 2004 wurde dem Autor die Zuständigkeit für die Betriebliche Suchtprävention als Betrieblicher Suchtbeauftragter des Bezirksamts übertragen und damit leider von allen Beteiligten in Kauf genommen, dass die in der DV vereinbarte Vollzeitstelle für den Suchtbeauftragten ausgehöhlt wurde, weil er zugleich Beauftragter der Bezirksbürgermeisterin für das gesamte Betriebliche Gesundheitsmanagement und die ergonomische Gestaltung der Arbeitsplätze ist (in den ersten Jahren sogar noch zusätzlich für die Koordination Arbeitsmedizin/Arbeitssicherheit). Damit bleibt nur noch ein Drittel der Arbeitszeit für die Betriebliche Suchtprävention.
Der Aufbau einer professionellen Betrieblichen Suchtprävention fiel in die Zeit vor Inkrafttreten des NichtraucherInnen-Schutzgesetzes 2007. Es bedurfte großer Anstrengungen, auch innerhalb des damaligen SuchtkrankenhelferInnen-Kreises, aber insbesondere innerhalb der Verwaltung (Dienststellenspitze, Beschäftigtenvertretungen), dem NichtraucherInnenschutz Bahn zu brechen und der am weitesten verbreiteten Abhängigkeit mit der höchsten Mortalitätsrate Priorität zu geben (Mucha 2007).
Mit dem altersbedingten Ausscheiden von SuchtkrankenhelferInnen ergab sich eine Auffrischung des Teams durch hochmotivierte KollegInnen, die nach fachlichen Kriterien in transparentem Verfahren aus einer erfreulich großen Zahl sich für die Mitarbeit Interessierender ausgewählt wurden.
Da sich die Beratungs-Anfragen ausdehnten auf fast alle möglichen psychologischen Fragestellungen (Arbeitsdruck, Stress, Überforderungen, Burnout, Depression, Ängste, Konflikte/Mobbing etc.) öffneten wir offiziell unsere Angebotspalette und benannten uns um in Kollegiale Beratung/Betriebliche Suchtprävention. Inzwischen sind wir außerdem Anlaufstelle Konfliktmanagement wegen des enorm gestiegenen Bedarfs an Konfliktvermittlungen (sowohl 1:1-Konstellationen als auch Gruppenberatungen). Selbstverständlich ist permanente Qualifizierung für die Beratungsarbeit erforderlich bzw. sogar Voraussetzung.

Kern der Beratungsarbeit sind die Einzel- und Gruppenberatungen, die von den jetzt, neben dem Suchtbeauftragten, sechs Kollegialen BeraterInnen (drei Frauen, drei Männer) einzeln oder auch zu zweit geleistet werden.

In Abhängigkeit von den personellen Ressourcen werden Veranstaltungen durchgeführt.

für Auszubildende: Begrüßung der Neuen mit Präsentation der Angebotspalette des Betrieblichen Gesundheitsmanagements insgesamt, Fortbildungen zu Alkoholgefahren (in Zusammenarbeit mit Berliner Polizei), Fortbildungen zur Drogenproblematik,  Zusammenarbeit mit dem Drogennotdienst und der Fachstelle für Suchtprävention im Berlin),  zu Mobbing/Cybermobbing (Mucha 2013).

Ebenso für Führungskräfte in Zusammenarbeit mit Institut für Betriebliche Suchtprävention.

Die schon erwähnten Hospitationen auf der Entgiftungsstation der DRK-Kliniken (schon längst im Wedding, Drontheimer Straße, angesiedelt) sind 2013 alternativ ergänzt worden durch unsere Kooperation der entsprechenden Station 17 des Vivantes Auguste-Victoria-Klinikums in Schöneberg. Dieses Fortbildungsangebot wird seit 2014 abgerundet durch eine jeweils vorgeschaltete eintägige Hospitation in der Alkohol- und Medikamentenberatungsstelle am Tempelhofer Damm 129 des Notdienstes für Suchtmittelgefährdete und-  abhängige Berlin. Die Hospitationswochen starten immer montags mit der Vorbereitung beim Suchtbeauftragten, es folgt der Tag in der Beratungsstelle, dann zwei Tage Entgiftungsstation und abschließend die Auswertung/Vertiefung beim Suchtbeauftragten. Ab 2015 werden wir nach Möglichkeit auf die Bereitschaft des Vivantes Wenckebach-Klinikums in Tempelhof gern zurückkommen und auch dort mit der Hospitation beginnen.

Weiter gedacht
(Perspektiven)

Auch Betriebliche Suchtprävention kann die Augen nicht verschließen vor Komorbidität/ Doppeldiagnosen von Sucht und psychischen Störungen (Moggi 2014), die „wechselseitig einen signifikanten Einfluss auf die Schwere der jeweils anderen Erkrankung und die Prognose“ haben (Preuss et al. 2014, S. 29).
Die hohe Komorbidität zwischen Substanzabhängigkeiten und dem Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom ADHS, einer Wahrnehmungs-Integrations-Störung (im Volksmund auch „Zappelphilipp“ genannt) ist bekannt. Die Welle wird auch die Betriebliche Suchtprävention im öffentlichen Dienst erreichen, sobald die entsprechende Generation wieder Zugang in den jetzt noch „vergreisenden“ öffentlichen Dienst findet.

Der immer noch verharmlosende Umgang mit Nikotinabhängigkeit (ich bin einer Gesundheitsstadträtin   begegnet, die Tabakrauchen nicht zum Zuständigkeitsbereich der Betrieblichen Suchtprävention gehörend wahrnimmt), trotz hoher Zusammenhänge/Komorbidität zwischen Nikotinabhängigkeit und psychischen Störungen (Mühlig 2014), dürfte hoffentlich auch bald ein Ende finden.

Zukünftig wird also die Betriebliche Suchtprävention im Sinne unserer Kollegialen Beratung selbstbewusst das Tätigkeitsfeld ganzheitlich beackern und die entsprechenden Voraussetzungen (personell und strukturell) einfordern müssen, wenn ihre gute Arbeit ernst genommen werden soll. Nur dann wird diese innerbetriebliche Institution dem vorhandenen Bedarf gerecht werden können und überleben.

Schon jetzt gibt es auf Seiten der Verwaltung Äußerungen, diese Perle praktisch gewordener Fürsorgepflicht oder auch Perle praktizierter Humanisierung der Arbeitswelt der Privatisierung in den Rachen zu werfen, indem externe Institute, die sich fürstlich honorieren lassen, ins Spiel gebracht werden, weil sie wie Einkaufszentren mit verlängerten Öffnungszeiten (natürlich außerhalb der Arbeitszeit) alles anbieten, was das Herz begehren könnte. Da lobe ich doch unsere Marken-Boutique mit ihrem Delikatessenangebot, direkt am Arbeitsplatz, innerhalb der Arbeitszeit, quasi „gemeindenah“.

Dr. Klaus Mucha

Titelthema 2/2014: Alkoholismus – Krankheit oder schuldhaftes Verhalten?

Alkoholismus: Krankheit oder schuldhaftes Verhalten?
Suchtbedingte Schuldgefühle und ihre fatalen Wirkungen im Krankheitsverlauf


Obwohl die Abhängigkeitserkrankung bereits seit 45 Jahren von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und für Deutschland anschließend vom Bundessozialgericht als behandlungswürdige Krankheit anerkannt ist, gehört sie bis heute zu den rätselhaftesten Erkrankungen, die wir kennen. Es ist schon merkwürdig, dass jemand– wider besseres Wissen und häufig ohne ihr Einhalt gebieten zu können – von einem „chemischen Stoff “ abhängig werden kann. Dass sich sukzessive und zunächst oft unbemerkt eine psychische und physische Abhängigkeit entwickelt, die alle Lebensvollzüge – die eigenen und die des gesamten Umfeldes – betrifft. Und die zweite Merkwürdigkeit besteht darin, dass bei kaum einer anderen Krankheit so häufig und so hartnäckig nach Schuld oder wenigstens Mitschuld gefragt wird wie bei der Abhängigkeitserkrankung – und hier besonders bei Alkoholismus. Und diese Schuldfrage stellt sich nicht nur allein der Erkrankte, sondern ebenso sein Umfeld: die Angehörigen, die Kollegen und Freunde, die Nachbarn.

Die Frage der „Schuld“ ist eine schwierige Frage und eine heikle dazu!

Symptomatik

Kranke stellen sich oft die Frage: Warum gerade ich? Warum bin ausgerechnet ich krank geworden? Warum hat es ausgerechnet meinen Partner „erwischt“ – und nicht den oder die andere? Die haben doch auch getrunken und nicht mal wenig! Und schon stellen sich mehr oder weniger heftig Schuldgefühle ein. Suchtkranken wird oft genug eine sogenannte Willensschwäche zugeschrieben, so als seien sie unmotiviert und „unwillig“, das nächste Glas stehen zu lassen. Reicht demzufolge ein ausreichend starker Wille aus? Fehlt es daran tatsächlich? Ist diese „Willensschwäche“ dafür verantwortlich, dass es so lange gedauert hat, bis Hilfe angenommen werden konnte? Oder für den Rückfall? Die Abhängigkeitskrankheit ist ein „multifaktorielles“, „multikausales“ Geschehen, d.h.: Die Abhängigkeitskrankheit entsteht dann – und erst dann –, wenn mehrere Faktoren, mehrere Ursachen zusammentreffen. Die Neurobiologie beispielsweise hat schon vor Jahren darüber aufgeklärt, dass es einer bestimmten Stoffwechseldisposition bedarf, die für die Entstehung einer körperlichen Abhängigkeit verantwortlich ist. Seelische, soziale und manchmal auch religiös-weltanschaulich deutbare Teilursachen kommen hinzu.
Und als Folge einer bereits entstandenen Abhängigkeit weisen bestimmte Symptome auf die Krankheit hin. Kontrollverlust oder Abstinenzunfähigkeit sind untrügliche Anzeichen, die den Alkoholkranken vom missbräuchlichen Konsumenten unterscheiden.
Es gibt eine ganze Reihe von Symptomen, die direkt oder indirekt auf „Schuldgefühle“ hinweisen: Schuldgefühle wegen der Trinkart oder ein dauerndes Schuldgefühl, das in sich wieder Anlass zum Weitertrinken ist. Indirekt deuten Symptome wie heimliches Trinken, Alkoholausreden oder auch Phasen freiwilliger Abstinenz auf Schuldgefühle hin, denn weshalb sollte jemand heimlich trinken, wenn er nicht ein schlechtes Gewissen hätte?

Es lohnt sich, Schuldgefühle in Gefühle des Bedauerns zu verwandeln!

Sie werden

– sich körperlich besser fühlen;
– ihrer Gesundheit förderliche Verhaltensweisen an den Tag legen können;
– ihre Fehler offen bekennen können und zu ihnen stehen;
– andere Menschen eher mit ihren Fehlern akzeptieren können;
– die Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen und es analysieren können;
– ihre Energien darauf verwenden können, den Fehler zu korrigieren und in Zukunft zu vermeiden;
– Selbstachtung und Selbstvertrauen verspüren;
– unabhängiger von den Normen und Erwartungen anderer sein;
– eigene Bedürfnisse eher berücksichtigen können und
– sorgfältig abwägen, welche anderen Faktoren außer ihrem Verhalten zu der Situation beigetragen haben und nicht die Verant wortung für das Fehlverhalten anderer übernehmen oder unglückliche Umstände verantwortlich machen. (Quelle: 6. Konferenz der sächsischen Suchtselbsthilfe, 9.11.13)

Schuldgefühle stellen ein sehr markantes Zeichen für eine vorliegende Abhängigkeitserkrankung dar. „Schuldgefühle“ sind symptomatisch. Ähnlich wie Fieber auf das Vorliegen einer Infektion hinweisen kann, so können Schuldgefühle auf das Vorliegen von Abhängigkeit hinweisen. Diese Schuldempfindungen werden gleichwohl von verschiedenen Menschen unterschiedlich belastend erlebt. Menschen mit hohen moralischen Idealen beispielsweise leiden stärker als andere. Menschen, die zwar viel trinken, aber nicht abhängig sind, werden solche Empfindungen von Schuld und Versagen eher nicht kennen.

Schuld und Schuldgefühle sind nicht immer dasselbe

Wie kommt es aber zu solchen Empfindungen? Warum und wodurch entstehen Schuldgefühle? Und welche Rollen spielen sie im Krankheitsverlauf?
Wir müssen zu unterscheiden lernen zwischen „Schuld“ und „Schuldgefühlen“. Das mag ungewöhnlich scheinen. Bei anderen Empfindungen tun wir das für gewöhnlich doch auch nicht: Wenn jemand Angst oder Trauergefühle zeigt, dann fragen wir doch auch nicht danach, ob er sich tatsächlich ängstigt oder trauert. Er wird allen Grund haben, so und nicht anders zu empfinden, Angst zu haben oder traurig zu sein.
Was meint eigentlich „Schuld“? Einen Menschen kann man dann für eine Tat verantwortlich machen, wenn er in seiner Entscheidung und seinem Willen frei ist. Freiheit ist somit Voraussetzung für Verantwortung und Schuldfähigkeit. Schuldfähigkeit ihrerseits kann nur dann vorliegen, wenn Bedingungen erfüllt sind: Wenn ich erstens etwas Falsches tue, zweitens weiß, dass das, was ich tue, falsch ist und drittens das als falsch Erkannte dennoch vorsätzlich, willentlich tue.
Ist auch nur eine dieser drei Bedingungen nicht erfüllt, kann keine echte Schuld zustande kommen; ist auch nur eine dieser Bedingungen eingeschränkt, so kann auch nur eine eingeschränkte     Schuldfähigkeit zustande kommen. Diese, wenn auch arg schematisierte, Auflistung stellt die Grundlage unserer Rechtsprechung wie auch unseres natürlichen Gerechtigkeitsempfindens dar.
Ein Beispiel veranschaulicht den kompliziert klingenden Sachverhalt: Jemandem, dem es trotz größten Bemühens und Einsatzes seines eigenen Lebens nicht gelungen ist, einen Ertrinkenden zu retten, werden wir in der Regel für seinen Misserfolg nicht verantwortlich machen. Im Gegenteil: Er verdient unsere uneingeschränkte Anerkennung, denn die moralische Bewertung eines Men- schen und seines Charakters hängt allein von der sittlichen Qualität seiner Handlungsmotive ab, nicht aber vom Erfolg oder Misserfolg seiner Bemühungen.
Auch wenn, wie das Beispiel zeigt, möglicherweise überhaupt keine Schuld im eigentlichen Sinne vorliegt, so lässt sich parallel dazu – und das klingt zunächst paradox – vorstellen, dass der hilflose Retter auf Grund des Scheiterns seiner Handlung dennoch persönliche Schuld und Versagensgefühle empfindet.
Viele Suchtkranke und sogar ihre Angehörigen leiden oft langjährig unter Schuld-, Scham- und Versagensgefühlen. Fast zeitgleich und in einem Atemzug werden solche Schuldgefühle aber – und das kann sich fatal auswirken – mit echter tatsächlicher Schuld gleichgesetzt.

Die drei Bedingungen für „Schuld“ greifen zumindest bei einem Menschen, der abhängigkeitskrank ist, kaum. Natürlich ist vieles geschehen, was hätte nicht geschehen sollen. Da wurde verletzt, betrogen, gelogen. Da ist vieles falsch gelaufen, was hätte anders oder besser laufen sollen. Insofern ist die erste Voraussetzung für das Zustandekommen von Schuld sicherlich gegeben.
Aber wie ist das mit den anderen beiden? Mit der Erkenntnis und dem Vorsatz, dem freien Willen? Es gab zumindest Zeiten oder Situationen, da war die Erkenntnisfähigkeit wenigstens stark eingeschränkt. Nicht nur nach sogenannten „Filmrissen“.
Und der Vorsatz, der freie Wille? Es ist doch die Besonderheit, dass dem Abhängigkeitskranken die Willensfreiheit und damit die Kontroll- und Entscheidungsmöglichkeit im Hinblick auf seinen Umgang mit dem Suchtmittel abhanden gekommen ist. Das unterscheidet ihn doch gerade von anderen, die zwar zu viel und zu oft trinken, aber nicht abhängig sind. Sie haben immer noch die reale Möglichkeit der Selbstkontrolle, die dem Abhängigkeitskranken fehlt.
Wenn dies aber so ist, wie steht es dann um seine „Schuldfähigkeit“? Es ist geradezu eine logische Gleichung, dem Abhängigkeitskranken eine eingeschränkte, vielleicht sogar fehlende Schuldfähigkeit zu testieren.
Und jetzt? Vielleicht regt sich Protest. In der Tat geschieht jetzt etwas sehr Merkwürdiges: Viele Suchtkranke, denen ich während ihrer (stationären) Therapiephase begegnet bin, haben sich an dieser Stelle aufgeregt und in der Tat protestiert.„Ich soll nicht schuldig geworden sein? Wer sonst? Ich war es doch, der all die schlimmen Dinge angerichtet hat. Nicht mein Partner, nicht meine Kinder, nicht meine Kollegen!“
Das Eingeständnis „Ich bin alkoholkrank“ wirkt tatsächlich bei den meisten Menschen nicht entlastend, im Gegenteil. Es wirkt „billig“, wie eine „billige Entschuldigung“.

Schuldgefühle und ihre Funktion im Suchtgeschehen

Die Schuldgefühle des Abhängigkeitskranken sind krankheitsbedingt; sie sind also Folgen oder Symptome der Krankheit. Ähnlich etwa dem Fieber bei Infektionskrankheiten sind die Schuldgefühle Phänomene, die eine bereits in Gang gekommene Abhängigkeit von einem Suchtmittel kennzeichnen. Immer erlebt der Abhängige nicht die Abhängigkeit selbst im Vordergrund, sondern z. B. den Alkoholmissbrauch, dem er seine ganze Kraft und Willensanstrengung entgegenstellt. In den Schuldgefühlen spürt er deren Auswirkungen und deutet jedes Versagen im nicht mehr kontrollierbaren Umgang mit Alkohol als persönliches Scheitern, als selbstverschuldete Tragödie und Katastrophe.

Alkoholismus jedoch – und das ist gerade die Katastrophe oder Tragödie – verhindert ein Zustandekommen von objektiv anklagbarer echter Schuld. Und obschon das so ist, wird der alkoholkranke Mensch von zermürbenden Schuldgefühlen geplagt, die auf seine Trinkart sowie auf allen Geschehnissen und Folgen basieren, die damit direkt oder indirekt zusammenhängen:   alkoholbedingte psychische und physische Defekte und Defizite, Störungen des Familienlebens, Berufsprobleme, soziale Schwierigkeiten aller Art, selbst Unwertgefühle sowie   Verfallserscheinungen des eigenen Normen- und Wertegebäudes. Dennoch weisen diese symptomatischen Schuldgefühle als Phänomene einer bereits bestehenden Alkoholabhängigkeit   paradoxerweise darauf hin, dass gerade keine Schuld vorliegt, sondern Abhängigkeit.

Die Frage, die sich stellt, ist die nach der Berechtigung und Funktion solcher Schuldgefühle im Krankheitsverlauf. Warum fühlt der alkoholkranke Mensch sich schuldig? Müsste die Erkenntnis, auf Grund seiner Krankheit objektiv ja nicht frei und verantwortlich, schuldhaft handeln zu können und sich entscheiden zu können, ihn nicht ungemein beruhigen und entlasten? Warum empfin- det der Alkoholiker eine solche Aufklärung über seine reale Situation meist als „billig“ und nicht als hilfreiche Geste? Warum setzt er sich dagegen häufig so massiv zur Wehr?

Es scheint zutreffend zu sein, dass dem Menschen die Akzeptanz einer noch so schweren tatsächlichen Schuld leichter zu fallen scheint, als sich als abhängig und damit eingeschränkt oder überhaupt nicht mehr schuldfähig zu akzeptieren. Im Innersten spürt er, dass er in der Schuld – und sei sie noch so groß – immer noch der sich frei entscheidend Handelnde ist. Er kann für das, was er angerichtet hat, gerade stehen und hängt nicht an einem toten Ding, das ihn beherrscht.

Die Abhängigkeit von einem Suchtmittel zu erkennen, anzunehmen und schließlich die nötigen Konsequenzen daraus zu ziehen – z. B. eine Therapie zu beginnen oder eine Selbsthilfegruppe aufzusuchen –, bedeutet den Verzicht auf jegliches maskenhafte Verhalten, die Aufgabe des Kampfes, der Stärkere sein zu wollen, die Kapitulation vor dem Suchtmittel, das sich in völliger Umkehrung der natürlichen Ordnung als stärker erwiesen hat. Geradezu unbewusst, instinkthaft und intuitiv wehrt der Mensch sich gegen die Vorstellung, suchtmittelabhängig – geworden – zu sein.

Eine vom christlichen Menschenbild ausgehende Überlegung kann nun seine weitere Verständnishilfe dafür sein, was es für einen Menschen bedeuten muss, in Unfreiheit und Abhängigkeit von einem toten Stoff (wie z. B. Alkohol) zu geraten.

Verhängnisvoller Rollentausch

In der Suchterkrankung erfolgt eine Umkehrung des Existenzgrundes des Menschen. Es ereignet sich langsam und unmerklich ein verhängnisvoller Rollentausch: Von Natur aus, vom Schöpfer so gewollt, ist der Mensch Herr der Dinge und der gesamten übrigen Schöpfung. Er darf teilhaben an der Schöpfermacht Gottes, indem dieser ihn über die übrige Schöpfung gestellt hat (vgl.Gen1, 28). Der Mensch kann die Dinge erkennen und zu seinem Gebrauch nutzen oder sie auch missbrauchen, denn auch das gehört zu seiner Freiheit. In jedem Fall aber ist der Mensch das Subjekt, das „über den Dingen steht“. Freiheit, Verantwortlichkeit und Selbstbestimmung gehören zu seinem Wesen und verleihen ihm Menschenwürde und Humanität. Die Mitte der

 Reale Schuld – irreale Schuldgefühle

Reale Schuld Irreale Schuldgefühle
Ergebnis der Prüfung tatsächlicher Verantwor tung„Ich habe einen Fehler gemacht und mich wider besseresWissen falsch verhalten.“ Quälende Last, die im Vergleich zur tatsächlichenVerantwortung riesig ist, Gedanken drehen sich im Kreis, beziehen sich nicht auf Tat /Handlung, sondern auf Person, Ausdruck zu hoher Ansprüche an sich selbstIllusion der „heilen“ Familie
Setzt Fähigkeit zur Einsicht und Freiheit der Entscheidung voraus Unbewusste Anmaßung, für alles verantwortlich zu sein
Lässt aktiv werden im Sinne von Wiedergutmachung, Vermeiden des Fehlers in der Zukunft Lähmen. Können gesamte Energie aufbrauchen und verhindern Entwicklung

Quelle: s.o.

menschlichen   Persönlichkeit stellt deshalb auch die daraus resultierende Schuldfähigkeit dar.
Auch wenn somit jede Freiheitsgeschichte des Menschen zugleich die Geschichte seiner Schuld und seines Versagens ist, so wird ihm doch gerade dadurch die Menschenwürde verliehen, die in der Entscheidungs-, Willens- und Handlungsfreiheit grundgelegt ist.

In der Suchterkrankung verliert der Mensch (wenigstens partiell) diese, seine ihm wesenhaft und wesentlich eigene Rolle, Subjekt zu sein. Er wird zum Objekt der Dinge, des Suchtmittels; er steht nicht mehr über den Dingen, damit auch nicht mehr über dem Suchtmittel, sondern ist abhängig. Entgegen seinem Willen wird er zum Sklaven z. B. des Alkohols und verliert mehr und mehr seine Freiheit. Aus einem vorher handlungsfreien Menschen wird so nach und nach eine abhängige, unfreie Marionette, die vom Suchtmittel geführt wird. Statt initiativ agieren zu können, kann er nur noch reagieren. Statt sich frei zu entscheiden, ist er gezwungen, sich – zuletzt fast pausenlos – gegen seine Entscheidung zu verhalten. Der Wille und Vorsatz „Ich höre auf, zu trinken.“ ist sicherlich durchweg ernst gemeint, jedoch auf Grund der Krankheit „Alkoholismus“ nicht mehr zu verwirklichen. Dieser suchtbedingte Rollentausch trifft den Menschen so tief in seiner Personenmitte, dass ihm ein wesentlicher Teil seiner Menschenwürde genommen wird, der Teil nämlich, der in der Entscheidungsfreiheit wurzelt.

Eine unausrottbare Sehnsucht nach der Realisierung seines Wesens und seiner Selbstverwirklichung und Erfüllung ist im Menschen lebendig, und er wehrt sich intuitiv gegen alles, was seinem Wesen und seiner Bestimmung widerspricht. Die Schuldgefühle des Alkoholikers stellen eine solche unbewusste und fast reflexartige Abwehrreaktion gegen die durch seine Sucht erfolgte Fremdbestimmung dar. Dieses wichtige Kriterium im Hinblick auf Rolle und Funktion der krankheitsbedingten Schuldgefühle beim Alkoholiker wird durch Folgendes noch plastischer und anschaulicher: Solange ein Mensch sich schuldig fühlt und sich selbst anklagt, geht er subjektiv davon aus, dass er für alles, was geschieht und geschehen ist, die volle Verantwortung übernehmen kann, alles im Griff hat. Die Möglichkeit eines kontrollierten Umgangs mit Alkohol scheint ihm immer noch praktikabel und möglich zu sein. Seine Alkoholausreden und die freiwillig auferlegten Abstinenzphasen bestärken ihn in dieser irrigen Meinung. Er braucht ja nicht zu trinken!

Zugleich verhindern seine Schuldgefühle jedoch das fatale und „erlösende“ Eingeständnis des Trugschlusses, abhängigkeitskrank zu sein. Sie ersparen ihm, sich selbst als Marionette sehen und akzeptieren zu müssen. Das bedeutet für einen Alkoholiker, dass ihm seine Schuldgefühle vorgaukeln, er sei gar nicht abhängig; er sei vielmehr im Umgang mit dem Alkohol noch frei, hätte das Trinken noch im Griff und unter Kontrolle. Es liegt auf der Hand, dass gerade die Schuldgefühle und das daraus resultierende ständige Bemühen, im Umgang mit dem Alkohol klar zu kommen, nicht zu versagen, bei der Gewinnung der Krankheitseinsicht, die zu einer Behandlungsbereitschaft Voraussetzung ist, hinderlich sind.

In dem Moment jedoch, wenn es einem Suchtkranken gelingt, diesen raffinierten Mechanismus von Schuldgefühlen und ihrer Funktion im Rahmen seiner Krankheit zu durchschauen, wird er auch für Hilfe offen werden. Ganz allmählich wird er wieder in die Lage kommen, frei und selbstverantwortlich leben zu können. Er wird verstehen lernen, dass paradoxerweise gerade seine Schuldgefühle es sind, die ihm etwas vorgaukeln, was längst nicht mehr existiert: Entscheidungsfreiheit und Schuldfähigkeit nämlich.

Die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der beschriebenen Problematik kann dazu verhelfen, eine vorschnelle und in sich falsche moralische Bewertung des Suchtkranken und seiner Krankheit zugunsten eines besseren Verständnisses seiner Situation und Lebenslage zu unterlassen. Akzeptieren wir Alkoholismus als Krankheit im Vollsinn des Wortes, dann darf moralisches Werten und Urteilen nicht zum Hauptindiz für den Menschen werden, der in irgendeiner Weise von ihr betroffen ist – gleich ob als Suchtkranker oder als Angehöriger.

Gleichwohl: die beschriebene Problematik ist in erster Linie auf Menschen zugeschnitten, die sich noch auf dem Weg der Selbstfindung bewegen, die ihre eigene Problematik noch nicht akzeptiert haben. Oft genug habe ich miterleben dürfen, wie dieser Zugang – anfangs oft schmerzhaft und mühsam und von Widerständen begleitet – doch letztendlich hilfreich und befreiend war.

Heinz Josef Janßen, Bundesgeschäftsführer

Kreuzbund e.V., Hamm

(Leicht gekürzter Vortrag auf der 6. Konferenz der sächsischen Suchtselbsthilfe am 9. November 2013. http://www.suchthilfe-sachsen.de)

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