Titelthema 01/11: Das Rätsel Rückfall

Das Rätsel Rückfall

Was weiß man und was weiß man nicht

Johannes Lindenmeyer

Auch bei aufwändigen Behandlungen wird bis heute etwas mehr als die Hälfte der Suchtkranken früher oder später leider wieder rückfällig. Verständlicherweise stellt ein Rückfall eine große Enttäuschung und Frustration für den Betroffenen, aber auch für seine Angehörigen und seine Behandler dar:

Warum nur hat er nach erfolgreicher Abstinenz wieder angefangen? Entsprechend wurde und wird über die Entstehung von Rückfällen viel geschrieben und viel gemutmaßt. Es gibt viele Rückfall-Ideen und -Modelle, vieles davon klingt plausibel, aber nur wenig hält einer wissenschaftlichen Überprüfung stand. Selbst das berühmte Rückfallmodell von Marlatt, das bis heute die Grundlage der meisten Behandlungsansätze im Suchtbereich darstellt, konnte in vieler Hinsicht empirisch nicht zweifelsfrei bestätigt werden. Und so schlägt dann immer wieder die Stunde der großen Vereinfacher, die mit modischen Schlagwörtern wie Stress, Trauma, Schemata, Anticravingsubstanzen oder Achtsamkeit alle in ihren Bann ziehen und immer neue Therapiemethoden oder Medikamente zur Rückfallprävention ohne ausreichende Evidenz propagieren.

Tatsächlich stehen wir immer noch relativ am Anfang, das Rückfallgeschehen zu verstehen. Die jahrelange, internationale Rückfallforschung hat gerade einmal vier einigermaßen gesicherte Erkenntnisse zur Entstehung von Rückfällen gezeitigt. Diese sollen im Folgenden dargestellt und entsprechende Schlussfolgerungen zur therapeutisch gestützten Rückfallprävention gezogen werden. In einem zweiten Artikel in der nächsten Ausgabe sollen dann darauf aufbauend die Möglichkeiten zu Bewältigung von Rückfällen abgeleitet werden.

1) Der Rückfallzeitpunkt – Aller Anfang ist schwer

Die erste Erkenntnis der Rückfallforschung betrifft den Rückfallzeitpunkt. Oft hört man, dass das Rückfallrisiko mit zunehmender Abstinenzdauer stetig steige, weil der Betroffene allmählich übermütig werde und die schlimmen Erinnerungen an seine Trinkzeit immer mehr verblassen würden. In ähnlicher Weise befürchten manche Therapeuten, dass die Therapieeindrücke im Laufe der Zeit wie bei einem Farbanstrich langsam abblättern könnten. Glücklicherweise ergab die wissenschaftliche Untersuchung von Rückfällen genau das Gegenteil: Je länger eine Person abstinent bleibt, umso geringer ist die Gefahr eines Rückfalls. Innerhalb der ersten drei Monate nach Beendigung einer Therapie besteht das allergrößte Rückfallrisiko. Dann gibt es nochmals relativ viele Rückfälle innerhalb des ersten Jahres. Danach werden Rückfälle immer seltener. (siehe Abb. 1)

Mit der Abstinenz verhält es sich ähnlich, als wenn man sich plötzlich im Ausland von Rechtsverkehr auf Linksverkehr umstellen muss: die ersten Kilometer enthalten das größte Unfallrisiko. Allmählich fährt man immer besser und sicherer. Dann sind es nur Kreuzungen, bei denen man mit der Vorfahrtregelung Schwierigkeiten hat. Spätestens nach 100 bis 200 Kilometern fährt man links genauso gut wie früher rechts. Nur in schwierigen und unerwarteten Verkehrssituationen, etwa wenn einem ein Fahrzeug auf der eigenen Straßenseite entgegenkommt, wird man weiterhin automatisch nach rechts anstatt nach links auszuweichen versuchen. Offenbar lernen die Betroffenen etwas in der Anfangsphase der Abstinenz. Je länger jemand abstinent lebt, umso leichter fällt es ihm und umso besser ist er gegen Rückfälle gefeit.

Für die Behandlung von Suchtkranken kann daraus das Primat der Nahtlosigkeit zwischen Behandlung und Nachsorge abgeleitet werden. D.h. wenn man die Rückfallraten verringern will, kommt es zunächst weniger darauf an, einzelne Behandlungsmodule zu verbessern oder zu erweitern. Primär gilt es, durch entsprechendes Handeln aus der Therapie heraus eine unmittelbare Nachsorge der Patienten ab dem ersten Tag der Entlassung sicherzustellen. Um es ganz konkret zu sagen: Statt in der Therapie über Rückfallrisiken zu .reden“, sollten Behandler und Patienten lieber gemeinsam zum Telefonhörer greifen und eine Nachsorgetermin verbindlich vereinbaren. Diese Überlegung hat uns auch bewogen, eine eigene Nachsorgeambulanz der salus klinik Lindow in Berlin-Charlottenburg einzurichten (Infos unter: www.salus-lindow.de/ambulanz). Entsprechend sollte die Suche nach einer geeigneten Selbsthilfegruppe nicht auf die Zeit nach der Behandlung verschoben werden, sondern bereits während der Behandlung verbindlich erfolgen. Hier zeigt sich der Wert von Informationsveranstaltungen durch Selbsthilfegruppen in Therapieeinrichtungen.

2) Rückfallrisikosituationen – Kleinvieh macht auch Mist

Die zweite wichtige Erkenntnis der Rückfallforschung war die Deutung der Rückfallrisikosituation. Lange Zeit glaubte man, dass es bestimmte Eigenschaften, Einstellungen oder Lebensumstände einer Person sind, die darüber entscheiden, ob jemand im Anschluss an eine Suchtbehandlung abstinent bleibt oder wieder rückfällig wird: Beispielsweise wurde vermutet, dass Frauen, Arbeitslose oder Abhängige mit weiteren psychischen Störungen ein erhöhtes Rückfallrisiko haben. Entsprechende Studien haben aber sehr widersprüchliche Ergebnisse gezeitigt. Sie haben damit wenig zur Erklärung, v. a aber zur Prävention von Rückfällen beitragen können.

Sehr viel einheitlichere Ergebnisse hat weltweit – egal ob bei Frauen, bei Männern, ob bei Alkohol-, bei Drogenabhängigkeit, bei Nikotinabhängigkeit, bei pathologischem Glücksspiel oder bei Menschen, die Diät halten wollen – die Untersuchung erbracht, wann ein und dieselbe Person eher rückfällig oder nicht rückfällig wird. Hierbei zeigte sich, dass es nicht so sehr schwere Schicksalsschläge oder Krisensituationen sind, die zu einem Rückfall führen. In solchen Ausnahmesituationen sind viele Betroffene auf der Hut und entwickeln ungeahnte Stärken, um sich oder anderen zu beweisen, dass sie es auch „ohne“ schaffen. Häufig werden vielmehr ganz alltägliche Situationen, die bereits oft problemlos bewältigt wurden, plötzlich zu Rückfallsituationen. Es muss dem Betroffenen vor einem Rückfall auch nicht unbedingt schlecht gehen. Es kann ein ganz normaler Tag sein, an dem er wieder „anfängt“. Allerdings fallen auch solche Rückfälle nicht einfach vom Himmel. Vielmehr hat man festgestellt, dass allein 60% aller Rückfälle in den folgenden drei Situationen passieren:

  • unangenehme Gefühle, wenn man alleine ist (z. B. Langeweile, Einsamkeit, Angst, Depression),
  • im Anschluss an Konflikte und Konfliktsituationen (z. B. am Arbeitsplatz oder in der Familie)
  • und drittens soziale Verführung (z.B.: Kumpels fordern einem zum Mittrinken auf; ein Arzt empfiehlt ein Beruhigungsmittel). (siehe Abb. 2)

Die übrigen 40 Prozent aller Rückfälle ereignen sich in folgenden Situationen:

  • angenehme Situationen (z. B. Erfolgserlebnisse, Verliebtsein),
  • Geselligkeit (z.B. Kneipenbesuch, Parties, Familienfeier),
  • körperliche Beschwerden (z.B. Schmerzen, Schlafstörungen),
  • Versuch, kontrolliert zu trinken und
  • plötzliches Verlangen (z. B. beim Anblick eines Biergartens).

Für jeden Abhängigen sind allerdings ganz unterschiedliche Risikosituationen bedeutsam. Meist sind es Situationen, die früher eng mit einer angenehmen Alkoholwirkung verknüpft waren.

Für die Behandlung von Suchtkranken lässt sich hieraus ableiten, dass es nicht ausreicht, den Betroffenen mittels psycho- oder sozial therapeutischer Interventionen eine bessere Bewältigung ihres Alltags auch ohne Alkohol zu ermöglichen (Kompensationsparadigma). Vielmehr ist es notwendig, das Risikobewusstsein der Betroffenen für die persönlich relevanten Auslösesituationen zu schärfen und deren abstinente Bewältigung einzuüben (Trainingsparadigma). Denn es ist vollkommen unrealistisch anzunehmen, dass ein abstinent Lebender sein Leben derart umgestalten kann, dass alle Risikosituationen für immer aus seinem Alltag verbannt sind. Die Ermittlung der persönlich relevanten Rückfallrisikosituationen ist allerdings keine triviale Aufgabe, da diese dem Bewusstsein der Betroffenen prinzipiell nur bedingt zugänglich ist. Zusätzlich wird eine objektive Erhebung durch das kausale Erklärungs- und Entlastungsbedürfnis der Betroffenen nach dem Motto „ich habe nur getrunken weil … „, überlagert. Entsprechend haben retrospektive Rückfallanalysen bzw. prospektive Risikoeinschätzungen durch die Betroffenen nur einen sehr begrenzten Aussagewert. Stattdessen sind spezielle Anstrengungen zu unternehmen, die situativen, teilweise banalen Auslöser für ein erhöhtes Rückfallrisiko im Einzelfall zu bestimmen. Hierbei haben sich insbesondere die Aufstellung eines persönlichen Risikoprofils mithilfe von Rückfallfragebögen oder die Führung eines sog. Risikotagebuchs bewährt. Um das Rückfallrisikobewusstsein von Suchtpatienten zu schärfen, sollte grundsätzlich jede Therapiestunde mit der Frage beginnen, ob es seit dem letzten Mal einen Rückfall, einen Beinahe-Rückfall oder eine abstinent bewältigte Risikosituation gegeben hat. Erst danach sollte mit dem eigentlichen Thema der Stunde begonnen werden.

3) Neurobiologie – Das Suchtgedächtnis sitzt nicht im Großhirn

Viele Rückfällige haben in der Erinnerung den Eindruck, dass sie „einfach wieder“ getrunken haben. Während dies früher in Therapien gemeinhin als Ausrede des Betroffenen abgetan wurde, haben mittlerweile Fortschritte der Neurobiologie den Blick auf die suchtbedingten Einschränkungen der Willensfreiheit von Alkoholabhängigen im Moment eines Rückfalls gelenkt. Postuliert wird die überdauernde Existenz eines so genannten Suchtgedächtnisses, das in rückfallkritischen Momenten mit einer situativen Einschränkung der rationalen Selbstkontrolle durch automatisierte, suchtmittelbezogene Informations- und Appetenz-Prozesse einhergeht. Da diese Rückfallprozesse den Betroffenen häufig nicht bewusst sind, können sie durch herkömmliche Psychotherapieverfahren kaum verändert werden. Gleichzeitig konnte bei den Betroffenen eine verringerte Verarbeitung von Gefahrensignalen festgestellt werden. Die Folge ist, dass nunmehr den subkortikal verstärkten Anreizprozessen auf alkoholspezifische Stimuli eine beeinträchtigte kortikale Kontrolle gegenübersteht. Bildlich gesprochen haben sich bei Alkoholabhängigen die Machtverhältnisse zwischen Großhirn und Zwischenhirn dauerhaft verschoben, was die Gefahr eines Rückfalls ebenso wie die Schwierigkeit, einen Rückfall wieder zu stoppen, erhöht. Von besonderer Bedeutung ist, dass all dies unabhängig davon geschieht, ob die Betroffenen abstinenzmotiviert sind oder subjektiv Verlangen nach Alkohol empfinden. Daraus erklärt sich auch die begrenzte Wirksamkeit der üblichen, vorrangig auf Einsicht und rationale Selbstkontrolle setzenden Rückfallpräventionsmaßnahmen.

Stattdessen sind Suchttherapeuten aufgerufen, spezifische neuropsychologisch fundierte Trainingsprogramme zur Rückfallprävention zu entwickeln. Angesichts des hohen Automatisierungsgrades der postulierten Rückfallprozesse können Rückfallpräventionsmaßnahmen nur dann erfolgreich sein, wenn die hierbei vermittelten Alternativreaktionen von den Betroffenen so oft und redundant eingeübt werden, dass sie einen entsprechend hohen Automatisierungsgrad erreichen. Vor diesem Hintergrund erforschen wir gerade in Lindow ein computergestütztes Rückfalltraining, bei dem Patienten gefordert werden, mithilfe eines Joysticks Bilder von alkoholischen Getränken möglichst schnell wegzuschieben nichtalkoholische Getränke möglichst schnell herzuziehen. So primitiv ein solches Training auch anmuten mag, in einer randomisierten Kontrollstudie konnten wir an über 200 Patienten nachweisen, dass sechs 15-Minuten-Trainings ausreichten, die Rückfallrate um über 9% zu senken. Es ist aber sicherlich noch viel weitere Forschung nötig, bevor wir ein solches Vorgehen allgemein empfehlen können.

4) Verlangen (Craving)-Mal gut, mal schlecht

Eine heftige Kontroverse gibt es über die Bedeutung von Suchtmittelverlangen (sog. Craving) im Zusammenhang mit Rückfällen. Während manche Betroffene von quälendem Verlangen, verbunden mit eindrucksvollen körperlichen Reaktionen berichten, die auch nach langer Abstinenz auftraten und zum Rückfall führten, gab in wissenschaftlichen Untersuchungen mit standardisierten Messinstrumenten nur etwa die Hälfte der Betroffenen an, jemals Verlangen erlebt zu haben. Sie ergaben außerdem, dass Verlangen manchmal zwar ein Rückfallrisiko darstellen kann, aber in vielen Fällen auch nützlich zur Vermeidung von Rückfällen ist, da dadurch den Betroffenen die Rückfallgefahr bewusst wird und sie jetzt automatische Rückfallprozesse unterbrechen können. Ziel der Interventionen zur Rückfallprävention kann keineswegs standardmäßig eine möglichst weitgehende Verringerung von Suchtmittelverlangen sein. Vielmehr kommt es darauf an, dass Betroffene lernen, auch starkem Verlangen erfolgreich zu widerstehen. Hierbei kann es z. B. hilfreich sein, Suchtmittelverlangen mit dem Bild einer mauzenden Katze zu vergleichen: Diese hört irgendwann von selbst auf zu mauzen, wenn sie trotz anhaltender, erbarmungswürdiger Bettelei konsequent nicht gefüttert wird. Entsprechend lässt erfahrungsgemäß das Verlangen nach Suchtmitteln mit der Zeit nach, wenn man ihm in einer Risikosituation nicht nachgibt. Jede erfolgreich bewältigte Risikosituation stärkt die Abstinenzzuversicht bzw. das Selbstvertrauen des Betroffenen und erhöht dadurch wiederum die Chancen für weitere Abstinenz.

Damit dies nicht alles graue Theorie bleibt, muss die abstinente Bewältigung von Risikosituationen auch praktisch geübt werden. Jeder Feuerwehrmann, jeder Katastrophenschützer und jeder Pilot weiß, wie oft man möglichst realistische Übungen durchführen muss, damit man für den Ernstfall wirklich gewappnet ist. Entsprechend hat es sich als sehr nützlich erwiesen, sich noch während der Therapie im Rahmen sog. „Expositionsübungen“ bewusst mit relevanten Auslösesituationen für einen Rückfall zu konfrontieren, um deren abstinente Bewältigung auch bei aufkommendem Verlangen in der Realität zu üben.

 

 

Titelthema 03/04: Interview mit Dr. Salloch-Vogel

Titelthema 3/04: Der Lotse geht von Bord

Chefarzt Rüdiger Salloch-Vogel vom Jüdischen Krankenhaus gibt die Leitung ab

Interview

TrokkenPresse: Auf der Entzugsstation des Jüdischen Krankenhauses herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Jetzt gehen Sie. Welche Spuren hinterlassen Sie und welche Spuren haben die Patienten an Ihnen hinterlassen?

Dr. R. R. Salloch-Vogel: Nein, Ihre Aussage stimmt nur dann, wenn Sie sie auf die Unruhe mancher Drogenabhängiger und Alkoholiker beziehen. Wir haben immer noch eine Liegezeit von etwa 10 Tagen und werden diese Liegedauer wegen der seelischen Begleiterkrankungen unserer Patientinnen auch für den Qualifizierten Entzug „verteidigen“, damit wir auch weiterhin Jahr für Jahr vielen alkohol-, medikamenten- und drogenabhängigen Menschen einen Qualifizierten Entzug anbieten können.

Ja, ich gehe jetzt und zolle meinem Lebensalter Tribut und freue mich, wenn ich der Müdigkeit auch mal vormittags ein wenig nachgeben darf. Ich bin sehr dankbar, dass ich 26 Jahre bleiben durfte, was für einen trockenen Alkoholiker ja durchaus nicht selbstverständlich ist: Wir sind quitt – das .Jüdische“ hat mir viel gegeben und ich habe getan, was ich konnte.

Ob ich Spuren hinterlasse? Das will ich nicht überschätzen, wer spricht denn heute noch von meinem Vater, der vor über 30 Jahren gestorben ist? Auf der anderen Seite habe ich über einige Geschenke und Gaben verfügen können, die zusammen eher selten sind: Erlittenes bis zur Abstinenz, ein befreiendes Programm, einen guten Therapeuten (Hartmut Spittler), die Fähigkeit, Menschen zusammenzubringen, politisches Gespür (früh genug und rechtzeitig für die Abstinenz tätig zu werden),mehrere geliebte Menschen um mich herum, die wenig lügen und mich immer wieder zurechtstutzen, einen wunderbaren Oberarzt und ein kräftiges Team mit ganz unterschiedlichen Gaben und noch eine sehr geschätzte Oberschwester, die immer wieder der Pflege die Arbeit vorlebt und sie ermutigt. All diese Menschen können auch durchaus ohne mich mit Sucht und Süchtigen arbeiten und alle können Sucht „lesen“.

Meine Suchtkrankheit und alle Menschen um mich herum, nicht nur die Süchtigen, haben mich geprägt. Ein Teil der Sucht ist so kompromisslos vergiftend und tödlich, dass die Tatsache, abstinent leben zu dürfen und zufrieden nüchtern zu werden von einem bald 65- jährigen sehr dankbar angenommen wird. Die Patientinnen zwingen mich – wie meine Familie – immer wieder auf den Weg zu meiner Wahrheit.

 TrokkenPresse: Woher sind Sie gekommen und wo gehen Sie hin?

 Dr. R. R. Salloch-Vogel: Von Hause aus bin ich Pharmakologe und Internist, Psychotherapeut wurde ich dann später. Als Facharzt für Innere Krankheiten hat mich Prof. Dr. L. Schmidt 1978 als Oberarzt angestellt. Diese 7 Jahre haben mich natürlich geprägt, bis ich dann 1986 Chefarzt der Abteilung wurde. Wie könnte ich – immer vorausgesetzt, ich bleibe so gesund und munter wie bisher – der Suchtkrankenhilfe nicht verbunden bleiben? Ich bin als Mitglied in die „Drogenhilfe Berlin Brandenburg“ aufgenommen worden, habe eine kleine psychotherapeutische Praxis ohne KV-Zulassung und Telefonbuch-Eintrag und pflege ein weiteres „Hobby“: Sucht im Arbeitsleben.

TrokkenPresse: Wie sind Sie darauf gekommen, sich mit Abhängigkeitskranken zu befassen? Würden Sie das wieder machen?

Dr. R. R. Salloch-Vogel: Wohl auf dem Weg des „Wunsches nach Selbstheilung“. Ich habe ja ALLES – inklusive vieler langfristiger psychotherapeutischer Maßnahmen – versucht, meine damals noch so genannte neurotische Fehlhaltung in den Griff zu bekommen. Meine Höhere Macht hat mich halt anders geführt: rein ins Jüdische Krankenhaus und das Leben live erleben. Ja, ich würde wieder diese Verantwortung übernehmen (mit dem üblichen menschlichen Zähneknirschen), auch wenn ich sicherlich – auch gerne – ein guter Tischler mit einem Nebenerwerbshof geworden wäre, wenn meine Frau sich um die Tiere kümmern würde. Aber irgendwann hätte ich dann wohl eine kleine Firma gehabt für feine selbstgebaute Möbel und Suchtkranke im Laden beraten mit einem Raum für Meetings.

TrockenPresse: Welche Haltung – neben der Kompetenz – braucht ein guter Suchttherapeut?

Dr. R. R. Salloch-Vogel: Es fühlen sich, wie so oft, Viele berufen, aber gerade in diesem verschlingenden, verführenden Umfeld ist es wichtig, nicht nur ein verhaltenstherapeutisches Manual im Kopf zu haben, sondern auch sich immer wieder zu hinterfragen, warum gerade Du das machen willst. Es gibt bisher keine wirklich qualifizierende Ausbildung dafür. Psychiater, Psychologe oder Sozialpädagoge zu sein reicht ebenso wenig wie ein suchtkranker Vater oder ein eigene Sucht (und Abstinenz!) oder Arbeitslosigkeit allein, es muss also ein informelles, „rituelles“ Wissen und Fühlen dazu kommen. So etwas erwerben mann, frau mit zunehmendem Alter, durch drei Kinder, durch eigene Leidenserfahrungen, eben durch persönliche Krisen, an denen wir in der Regel reifen und ggf. durch eine Therapie (-ausbildung); der größte Blödsinn ist allerdings, NUR Süchtige könnten Süchtige verstehen. Wer sich das erwirbt, was die Anonymen Alkoholiker „bedingungslose Bereitschaft“ nennen, ist genau im Landeanflug, egal, ob Suchtkranker oder nicht.

TrokkenPresse: Die Arbeit auf den Entzugsstationen in Berlin ist in den letzten Jahren immer härter geworden. Die stark verkürzten Entzüge scheinen sich auch negativ auf die Erfolge auszuwirken. Gibt es beim Personal der Berliner Entzugsstationen Ermüdungserscheinungen, z. B. Resignation, Gleichgültigkeit, Gefühle von Sinnlosigkeit?

Dr. R. R. Salloch-Vogel: Es ist manchmal nicht schlecht, alt zu sein und auch das Einfache zu kennen. Wie haben wir denn angefangen?

Heute ist das Geld alle und der Staat fährt mit hoher Geschwindigkeit an die Wand – in dieser Beziehung beraten mich Gespräche mit meinem 15 Jahre abstinent lebenden Steuerberater, der davon mehr versteht als ich.

Ja, es ist so, dass in den letzten 7 Jahren die Zahl der Wiederholer von 17% auf 45% angestiegen sind und wir verwirrte, unruhige und schlaflose Menschen entlassen müssen, deshalb intensivieren wir die Nachsorge und die Ambulanz. Die Verantwortlichen dafür sind schwer auszumachen, das würde Seiten füllen. Wir sind ja auch nur ein gesamtgesellschaftlicher Spiegel. Die Mitarbeiter sind in der Tat oft überarbeitet und müde, aber sie sind erwachsen, vertreten ihre Meinung deutlich und können etwas, das ich „gnadenloses positives Denken mit realistischer Betrachtung“ nennen möchte. Wir renovieren – bauen um – richten eine Tagesklinik zusätzlich zur Ambulanz ein und sind unter der Bezeichnung „Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie“ genau auf dem richtigen, den heutigen Verhältnissen angepassten Weg. Diese Klinik wird immer eine Klinik für und nicht gegen Suchtkranke bleiben, da bin ich mir mit Dr. Thomas Bschor, meinem Nachfolger, einig.

TrokkenPresse: Was wünschen Sie sich selber, was wünschen Sie Ihrem Nachfolger?

Dr. R. R. Salloch-Vogel: Ich möchte gern jeden Tag so wie den heutigen leben dürfen mit etwas mehr Ruhe und Urlaub. Meinem Nachfolger wünsche ich, dass er seinen eigenen Stil in allem findet und sich die Zeit lassen kann, die er braucht, um die Abteilung unverwechselbar zu prägen, und Klebefüße, um die Bodenhaftung nicht zu verlieren.

Chefarzt Rüdiger Salloch-Vogel: übergibt am l. August 04 seine Arbeit im Jüdischen Krankenhaus an Dr. Bschor. Damit geht eine Ära zu Ende, denn gleichzeitig wird der neue Chefarzt Dr. Bschor die Umwandlung einer internistischen Abteilung in eine psychiatrisch- psychotherapeutische einleiten. Mit Rüdiger Salloch-Vogel verabschiedet sich ein Mensen aus dem Arbeitsleben, der sich kompromisslos für das Überleben seiner Patienten eingesetzt hat und das bedeutet in heutigen Zeiten, dass leider immer wieder Auseinandersetzungen um selbstverständliche Standards geführt werden müssen. Der qualifizierte Entzug zeigt zwar die höchsten Erfolgsquoten, den Therapeuten werden jedoch immer mehr Steine in den Weg gelegt. Rüdiger Salloch-Vogel hat – wie schon seine Vorgänger Prof. Lothar Schmidt oder Hartmut Spittler große Teile seines Lebens für Aufbau und der Erhaltung der Suchtkrankenhilfe eingesetzt. Dafür ist ihm im Namen vieler ehemaliger, abstinent lebender Patienten zu danken!

Die Redaktion

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