Den Rückfall verhindern: Aber wie?
Katastrophe. Scheitern. Schande … Es ist noch nicht lange her, dass der Rückfall genau das bedeutete. Für den Betroffenen selbst – und für die Therapeuten. Mittlerweile aber weiß auch die Suchtforschung, dass ein Rückfall Teil von Heilungsprozessen ist. Also eher die Regel als die Ausnahme innerhalb einer Suchterkrankung. Ein Notfall, der eine neue Chance birgt.
Nicht neu dagegen ist die Erkenntnis, dass ein Sucht-Rückfall schwer zu stoppen ist. Daher wird heute der Prävention, der Vorbeugung, eine immer größere Bedeutung gegeben. Die neue, erweiterte Sicht auf das Thema Rückfall hat die Entwicklung neuer Präventionstrainings-Ansätze anscheinend begünstigt. Sie beinhalten zum Beispiel das Durchspielen von Trinksituationen, um neuronale Programmierungen zu unterbrechen (im S.T. A. R.) oder das Üben des achtsamen Wahrnehmens und Annehmens von Gedanken und Gefühlen, um früh aus automatisierten Abläufen aussteigen zu können (im MBPR). Genaueres dazu erfahren Sie ab S. 5 im Beitrag von Dipl.-Psych. R. Schöneck, Leitender Psychologe der salus klinik Lindow ab.
Zuvor aber einige Gedanken zu Rückfall-Ursachen – auch aus eigener Erfahrung – von unserem Autor Dr. Salloch-Vogel.
Es ist mal wieder passiert…
Gedanken über Rückfälle
Von Dr. R. R. Salloch-Vogel
Als ich zugeben musste, dass ich aufhören muss, um nicht an meiner Sucht zu sterben, begann eine irgendwie schauerliche Zeit. Wer nicht alkohol- oder drogenabhängig ist, kann sich einfach vorstellen, dass er/sie eines Tages beschließt: Ab morgen rauche ich nicht mehr, oder ich lasse jede Form von Koffein oder Zucker ab morgen bleiben. Aber so ist es für den Süchtigen ganz und gar nicht.
Ich selbst hatte mich nach über 20 Jahren in einen Zustand getrunken, mit dem ich nicht mehr leben konnte: Aufgrund der chronischen Gehirnvergiftung – und genau das hatte ich – und meines erodierten Geistes (Lexikon: Erosion ) hatte ich mich von mir getrennt. Die Lüge schickte mich in eine professionelle Unehrlichkeit, und verlassen hatten mich Gefühle wie Selbstliebe, Nächstenliebe, mich um einzelne Menschen intensiver zu kümmern, mich um mich zu kümmern, einen Arzt oder eine/n Geistliche/n aufzusuchen, jemanden (außer meinen kleinen Kindern) wirklich lieb zu haben. Und das Schlimmste: Ich konnte so viel trinken wie ich wollte, es stellte sich auch kein Fingerhut von Euphorie mehr ein.
So kam der Tag, an dem ich einen Abschiedsbrief schrieb, und als ich diesen Zettel noch einmal las, sagte eine Stimme in meinem Kopf: „Du, Rüdiger, du musst unbedingt einen Psychiater aufsuchen, du bist dabei, dich umzubringen.“
Ich habe oft darüber nachgedacht, ob diese Stimme Gott war, der mich zum Weiterleben verpflichten wollte, oder ob ich einfach nur als „Restzustand“ an meinem Weiterleben interessiert war.
Auf jeden Fall war ich entlastet, dass ich aus der Psychiatrie nicht heraus konnte und nach einigen Wochen dort in einer Sucht Klinik mitten in der Rhön ankam, um eine Entwöhnungsbehandlung zu machen.
Aufgrund der Erfahrungen, die ich seitdem gemacht habe, möchte ich einige Aspekte der Rückfallproblematik niederschreiben.
1.Unglaube, Größenwahn
Als ich in der Klinik ankam, spielten einige braun gebrannte Herren Volleyball, und ich stand da mit meinem Koffer, den ich kaum tragen konnte. Der „Oberspieler“ rannte zusätzlich noch aus sportlichen Gründen einen Berg hinauf, den man den „Promille-Weg“ nannte, und war einer der ersten, wenn ich mich recht erinnere, der rückfällig wurde. Zu diesen Menschen gehören auch solche, die in der Gruppe so eine Art Teilentscheidung verkünden:
„Ich will ehrlich bleiben, ich werde zwar ein oder zwei Jahre nicht trinken oder kiffen, aber danach probiere ich mal wieder etwas.“
Unglücklicherweise meinen manche Therapeuten, eine solche Entscheidung wäre ja gar nicht so schlecht, denn vielleicht würden die Patienten in diesen zwei Jahren etwas dazu lernen. Suchterkrankungen sind in der Regel tödliche Erkrankungen, chronischer Alkoholismus verkürzt das Leben um 20 Jahre. Theoretisch ist das, was ich über die Therapeuten gesagt habe, vielleicht sogar möglich, aber da etwa 40 Prozent der PatientInnen bei dem Besuch einer Selbsthilfegruppe in guten Kliniken ohnehin abstinent bleiben, rate ich davon ab, in ein Flugzeug einer Airline zu steigen bzw. es zu fliegen, von denen 60 Prozent abstürzen.
Mir selbst wurde schon nach einer Woche dort in der Klinik ein Rat gegeben, den ich nie vergessen konnte. Ich war nämlich ganz wild darauf, wieder abzureisen. Nach etwa einer Woche war ich soweit und machte einen Spaziergang, bevor ich mich von der Klinikleitung verabschieden wollte. Ich stellte mir also vor, wann und wie ich in den Zug steigen wollte, als vor mir wie auf einer Leinwand ein riesiges Glas „König Pilsener“, auftauchte. Ich spürte sofort, dass das ja nicht zu meinem Entschluss passte, keinen Alkohol mehr zu trinken und stellte mir die Frage, ob ich wohl imstande wäre, ohne Alkohol nach Berlin zu fahren – immerhin fünf Stunden. Ich setzte mich auf einen Baumstumpf und begann bitterlich zu weinen, weil mir hier in der Waldeinsamkeit gnadenlos klargemacht wurde, dass ich Alkoholiker bin und bleibe und eine lange Weile Zeit brauchen werde, um zu lernen, mit einem Flieger, Zug oder Auto zu reisen, ohne Alkohol zu konsumieren.
2.Unfriede
Vor über 30 Jahren machten sich zwei amerikanische Suchttherapeuten Gedanken darüber, was wohl der härteste, gefährlichste Auslöser eines Rückfalles sein könnte. Und sie kamen auf den Begriff „Unfriede“. Jemand der ohne Frieden (unzufrieden) lebt, wird sehr wahrscheinlich wieder rückfällig. Woraus man zusätzlich noch lernen kann, dass man in Ruhe und Frieden zusammen mit anderen Abstinenten die Möglichkeit wesentlich erhöht, in Zukunft abstinent zu leben. Seit vielen Jahren lebe ich nicht nur nach einem bestimmten Programm, das meinen Frieden verbessert, sondern auch nach dem Satz: „ Ich kann keinen so betrügen wie mich selbst.“
Das ist der Moment, an dem ich auf die „Suchtfibel“ von Ralph Schneider hinweisen möchte. Schneider hat ein Buch geschrieben, das in der 14. Auflage 2009 etwa 38 Jahre alt ist und eine der wenigen wirklichen Verbesserungen für die Suchtkrankentherapie (stationär und ambulant), besonders aber für die PatientInnen darstellt.
Als zweites wichtiges Buch steht mir ein Teil der Lebensgeschichte von Viktor Frankl zur Seite. „… trotzdem Ja zum Leben sagen .Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“.
Essenz dieses Buches ist es, dem Sinn unseres Lebens zu dienen, indem wir endlich aufhören, hinter den Suchtmitteln, den Ärzten, der Welt und Gott hinterher zu jammern, und endlich darauf hören, was das Leben uns sagen will.
3.Bereitschaft
Alle, die in der „TrokkenPresse“ lesen, wissen, dass es eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt, wie Rückfälle vermieden und persönliche Defizite ausgeglichen werden können. Beides benötigt Zeit, und meine Erfahrung als Psychotherapeut mit 27 Jahren Abstinenz hat mich gelehrt, dass eine solche persönliche Aufgabe unter drei bis vier Jahren nicht zu bewältigen ist. Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass meine Abstinenz lebenslang dauern sollte, ähnlich wie ich mich um meinen Altersdiabetes und mein Vorhofflimmern am Herzen kümmern muss, wenn ich noch eine Weile angenehm leben will.
Etwa 1940 hat einer der beiden Gründer der Anonymen Alkoholiker, Bill W., in einem Büchlein über die Zwölf Schritte darauf hingewiesen, dass es sich zu Beginn und auch dauerhaft um die „Bereitschaft“ handeln sollte, gegen meine Sucht und die gesamten damit verbundenen Lebensumstände regelmäßig etwas zu tun, um nicht rückfällig zu werden und zufrieden leben zu lernen.
Wenn wir in meiner Gruppe „Sinnfindung“ über diese „Bereitschaft“ sprechen, werde ich oft gefragt, warum ich mich denn nicht für die Abstinenz entschieden hätte.
Als meine Abstinenz begann, war ich gar nicht fähig, etwas zu entscheiden. Dazu hatte ich in vielen Jahren Alkoholismus gelernt, wie unfähig ich für Entscheidungen zur Abstinenz seit Jahrzehnten gewesen bin, sodass ich mir eine solche Entscheidung auch gar nicht zutraute.
Damals, als ich in die Psychiatrie kam, habe ich mich gegen meinen Alkoholismus entschieden, aber nicht, weil das eine großartige Eigenleistung gewesen wäre, sondern weil ich mich nicht umbringen wollte.
Für mich steht der Begriff Bereitschaft wie ein ständiger Regenbogen über allem in meinem Leben, um mich zu behüten und täglich gegen meinen Alkoholismus etwas zu unternehmen, aber auch für mich sorgen und mein Leben gegen die Sucht anzuregen und mit den „Suchtspielchen“ aufzuhören. Sie ist für mich heute ein stetig und sanft brennendes Feuer für mein Leben, wie die Liebe zu meiner Frau, meinen Kindern und Enkelkindern.
Schneider und nicht wenige andere Autoren haben die vielfältigen Berichte und Arbeiten, was ich alles gegen meine Sucht und ihre Auswüchse tun kann, ausführlich beschrieben. Nun muss ich das nur noch lesen und mich entsprechend verhalten. (Zuhören nicht vergessen!)
Ich habe ganz bewusst hier nicht noch einen längeren Abschnitt über den Sinn der Selbsthilfegruppen angefügt. Es ist so wichtig, dass wir andere Menschen haben, und zwar lebenslang, und dass unsere Abstinenz dort für mich ausreichend akzeptiert wird. Ohne andere Menschen kann ich nicht leben!
So ende ich mit der Zusammenfassung (am Anfang): Die meisten Rückfälle entstehen durch Unglaube und Größenwahn, durch eigenen Unfrieden und dadurch, dass ich im Unfrieden mit mir und anderen lebe, aber auch durch eine mangelnde Bereitschaft, mich abstinent zu verhalten, und in eine Selbsthilfegruppe zu gehen.
Ich kenne aber auch viele Menschen, die abstinent zufrieden leben. Wie oft habe ich anderen Menschen etwas geraten und die Antwort bekommen: „Das ist ja sehr freundlich, Herr Doktor, welche Mühe sie sich geben, aber das werde ich nicht machen.“ Manchmal bedrückt mich das und manchmal nicht.
Rückfall und Prävention: „Alles nur eine Frage des Willens … oder vielleicht doch nicht?“
Einleitung
Bis Anfang der 90er Jahre endeten viele Entwöhnungsbehandlungen nach einem Trinkrückfall während der Behandlung. Einerseits wurde dem Rückfälligen fehlender „Wille“ unterstellt. Auf der anderen Seite wurde an der langfristigen Wirksamkeit der Behandlung gezweifelt. Zudem sollte die Härte der Maßnahme als eine Art „Abschreckung“ für die anderen, in der Behandlung verbleibenden, Betroffenen dienen. Neben ideologischen Gesichtspunkten wurde die Intervention darauf zurückgeführt, dass die Behandlung eine Art „Impfung“ für die Krankheit „Sucht“ darstellen sollte. Womit die Chancen auf Erfolg entsprechend gering eingeschätzt wurden, wenn der Betroffene schon während der „Impfung“ rückfällig wurde.
Viele betroffene Alkoholkranke vertreten gerade zu Beginn der Abstinenz (egal ob in einer Entgiftung, Alkoholentwöhnungsbehandlung oder in der Selbsthilfegruppe) die Meinung, dass es vor allem eine Willensfrage ist, ob „man“ trocken bleibt oder nicht. Dabei fällt es schwer, sie zur Auseinandersetzung mit ihrem Trinkverhalten in der Vergangenheit, möglichen Risikosituationen oder bereits erfolgten Rückfällen zu motivieren. Dies ist zum Teil dem bestehenden Schamgefühl oder möglichen Kränkungserleben („Ich habe doch gesagt, ich trinke nichts mehr, wieso glaubt mir keiner!“) geschuldet. Vermutlich spielen noch eine Reihe von individuellen Gründen eine Rolle, die eine Auseinandersetzung mit potenziellen Rückfallgefahren schwer macht. Der „Wille“ wird es schon richten ist somit nicht nur der Glaube, sondern auch die Hoffnung vieler Suchtpatienten.
In der Suchttherapieforschung konnten in den vergangenen 25 Jahren neue Erkenntnisse gewonnen werden. Die geschilderte Herangehens- und Denkweisen können unter diesen Gesichtspunkten heute als überholt bewertet werden. Eine Entwöhnungsbehandlung wird derzeit als eine Möglichkeit des „Neulernens“ interpretiert. Der Betroffene soll dabei lernen, sein Leben ohne Alkoholkonsum zu bestreiten. Ähnlich wie beim Erlernen eines Musikinstruments heißt das einmalige Verspielen an einer schwierigen Stelle (was einem Rückfall entspricht) noch lange nicht, dass der Betroffene das Instrument niemals beherrschen wird. Lindenmeyer (2009) beginnt seinen Lehrbuchbeitrag folgendermaßen: „Bei einer Vielzahl von psychischen Störungen handelt es sich um chronische Erkrankungen, für die ein phasenhafter Verlauf charakteristisch ist. […] In allen diesen Fällen gehört der Rückfall ganz offensichtlich zum Störungsbild“. Lindenmeyer möchte damit hervorheben, dass in der Behandlung von chronisch-psychischen Erkrankungen, zu denen auch die Alkoholabhängigkeit zählt, eine adäquate Rückfallbehandlung dazugehört. Dabei stammt die Grundidee zur Rückfallprävention bereits aus der Mitte der 80er Jahre. Marlatt (1985) beschrieb am Beispiel der Raucherentwöhnung den langen Weg vom Raucher zum Nicht-Raucher über eine „Expeditionsmethapher“. In dieser Metapher nahm er vorweg, dass nicht jede Expedition auf Anhieb erfolgreich verläuft und im Wesentlichen der Erfolg einer Expedition von der Vorbereitung und der jeweiligen Ausrüstung abhängt. Auf der anderen Seite enttabuisierte er das Thema Rückfall und machte deutlich, dass auch derjenige, der einen Rückfall in alte Verhaltensweisen erlebt, zuvor etwas gelernt hat und dieses Wissen bei einem erneuten Versuch hilfreich sein kann. Der Musikschüler der sich bei dem Stück verspielt, vergisst in der Folge auch nicht die bereits erlernten Handgriffe beim Spielen des Instruments. Vermutlich wird er sich aber danach umso mehr mit den schwierigen Stellen beschäftigen und üben, diese zukünftig fehlerfrei zu spielen. Insofern versuchte bereits Marlatt, das Thema Rückfall und die Auseinandersetzung damit in die Behandlung von psychischen Erkrankungen zu integrieren.
Knapp 30 Jahre nach Marlatts Erstveröffentlichung (1985) liegen unterschiedliche Konzepte und Herangehensweisen zum Thema Rückfallprävention bzw. Rückfallbewältigung vor. Dieser Artikel möchte kurz das heutige Verständnis von Rückfällen darstellen und drei aktuelle Ansätze zur Rückfallprävention vorstellen und diskutieren.
Der Rückfall
In den letzten Jahrzehnten gelang es, durch systematische Forschung verschiedene Informationen zum Thema Rückfall zu sammeln (Lindenmeyer, 2009).
Über das kritische Zeitfenster weiß man heute, dass die ersten drei Monate nach einer erfolgten Entwöhnungsbehandlung am „gefährlichsten“ sind. Bis zu 60 Prozent aller Rückfälle ereignen sich in dieser Zeit. Die Inhalte einer Therapie müssen erst in den Alltag integriert werden. Zudem muss der Betroffene Situationen bewältigen, die in der Behandlung so nicht vorkamen. Anstelle von Ergotherapie tritt die Kinderbetreuung oder der Abwasch. Aus Diskussionen mit den Mitpatienten oder Auseinandersetzungen innerhalb der therapeutischen Gruppe werden Konflikte mit Kollegen und Vorgesetzten oder mit den Partnern, bei denen kein moderierender und unterstützender Therapeut zur Seite steht. Zudem gibt es auf Feiern und sozialen Anlässen die erste Konfrontation mit Alkohol sowie gleichermaßen soziale Verführungen durch Trinkangebote. In diesem Zeitraum zeigt sich wie zu keinem anderen Zeitpunkt, ob die „Übung und das Training“ während der Behandlung erfolgreich waren.
Nach den ersten drei Monaten bleibt ein erhöhtes Risiko bis zu einem Jahr bestehen. Danach gehen die Rückfallquoten signifikant zurück und nähern sich zunehmend der Null an, ohne diese jemals zu erreichen. Auch nach 20 Jahren stabiler Abstinenz besteht ein gewisses Rückfallrisiko. Zu den „Auslösern“ von Rückfällen lässt sich festhalten, dass ca. 60 Prozent im Zusammenhang mit sog. „inneren Risikosituationen“ (z.B. unangenehme oder angenehme Gefühlszustände, plötzliches Verlangen, der Versuch des kontrollierten Konsums) und 40 Prozent der Rückfälle mit „äußeren Risikosituationen“ (z.B. Konflikt- oder Verführungssituationen) stehen.
Es gibt unterschiedliche Rückfallverläufe. Bei einem Teil der Betroffenen gleicht der Rückfall einem sofortigen „Absturz“ in das frühere Trinkverhalten. Bei anderen kommt es zu einem „schleichenden Rückfall“, an dessen Ende erneut der Kontrollverlust steht.
Insgesamt zeigen die Untersuchungen, dass es schwerer ist, einen Rückfall zu stoppen, als einen Rückfall zu vermeiden. Im Rahmen der Behandlung sollte daher neben dem Umgang mit einem erfolgten Rückfall gerade die Rückfallprävention, also das vorbeugen eines Rückfalls, einen Schwerpunkt darstellen.
Das Prinzip der dosierten Informationsvermittlung:
Lieber schlau als blau
Lindenmeyer (2016a) stützt sich in der Rückfallprävention auf das sozial-kognitive Rückfallmodell von Marlatt (1985). Lindenmeyer trägt den Schwierigkeiten in der Annäherung an das Thema Rückfall, bzw. Akzeptanz der Abhängigkeit, in „Lieber schlau als blau“ Rechnung, indem er sich systematisch auf Erkenntnisse der Selbstkonzeptforschung bezieht: Danach versucht eine Person, ihr Selbstwertgefühl dadurch zu schützen, dass sie Informationen aus der Realität nur dann anerkennt, wenn diese in einer erträglichen Diskrepanz zu bisherigen Grundüberzeugungen stehen. Alle anderen Aspekte der Realität werden dagegen als zu bedrohlich abgewehrt. Entsprechend erleichtert „Lieber schlau als blau“ Suchtkranken die Integration von therapieförderlichen Information in ihr Selbstkonzept dadurch, dass genügend Spielraum besteht, um sich zunächst schrittweise mit jenen Aspekten von suchtbezogenen Informationen auseinanderzusetzen, die in keinem Widerspruch zu ihren bisherigen Überzeugungen stehen (Prinzip der dosierten Informationsvermittlung). Alle 15 Kapitel von „Lieber schlau als blau“ greifen zunächst häufige Bedenken von Betroffenen gegen eine Suchtbehandlung auf. Wo immer möglich, werden die das Selbstwertgefühl stützenden Selbstpostulate ausdrücklich bestätigt und erst danach neue suchtbezogene Informationen angeboten (Lindenmeyer, 2016b).
In der Praxis der Behandlung von Suchtkranken erfolgt dann der nächste Schritt. Es erfolgt eine detaillierte Abhängigkeitsanalyse sowie die Bearbeitung der individuellen Ambivalenzen. Zuletzt erfolgt die Konfrontation mit der Alltagsrealität. Dies umfasst das Ablehnungstraining in sozialen Situationen ebenso wie schließlich die Expositionsbehandlung, in der sich der Betroffene, zunächst angeleitet durch den Therapeuten, seiner persönlichen Risikosituation (einschließlich der Konfrontation mit seinem Lieblingsgetränk) aussetzt und lernt, das Verlangen zu bewältigen, so dass mehr Sicherheit in der abstinenten Bewältigung von Risikosituationen entsteht. Dieses Vorgehen ist der Erkenntnis geschuldet, dass es in Deutschland nahezu unmöglich ist, allen Versuchungssituationen oder Risikosituationen zu entgehen und dass, trotz aller Unterstützungssysteme, letztlich der Suchtkranke selbst lernen muss, alleine kritische Situationen zu bewältigen. In Analogie zum Autofahren. Trotz aller Hilfesysteme, die ein modernes Auto bietet, ist es letztlich doch vom geübten Fahrer abhängig, ob Risikosituationen unfallfrei bewältigt werden. Auch hier helfen Wissen und guter Wille alleine nicht, sondern vor allem die Übung in der Bewältigung von Risikosituationen.
Das Strukturierte Trainingsprogramm zur Alkohol-Rückfallprävention (S.T.A.R.)
S.T.A.R. (Körkel & Schindler, 2003) bietet dem therapeutisch Tätigen Handlungsanleitungen zur Durchführung von 15 Modulen zu je 90 Minuten. Wie Lindenmeyer (2016) beziehen sich auch Körkel & Schindler auf Marlatt (1985). Im Gegensatz zu Lindenmeyer´s „Lieber schlau als blau“ bietet das Programm aber kaum die Möglichkeit für Betroffene, sich alleine und ohne angeleitete Gruppe dem Thema zu nähern. Innerhalb der 15 Module werden neben der Erarbeitung von Informationen und Ambivalenzen, Übungen zum Erkennen und Bewältigen von Hochrisikosituationen, sozialer Verführung bzw. sozialer Integration, zum Umgang mit Gefühlen, Verlangen, dem Wunsch nach kontrolliertem Trinken und zur Entwicklung eines ausgewogenen Lebensstils angeboten.
Die Module sind als Gruppenprogramme für eine Gruppengröße von bis zu zwölf Mitgliedern angelegt. In der Gruppe werden den einzelnen Gruppenmitgliedern der Raum und die Möglichkeit geboten zum Erfahrungsaustausch, vor allem aber auch zur Erarbeitung eigener Standpunkte zu den vorgesehenen Themen. Ziel ist ein lebendiges, erfahrungsorientiertes Lernen. Für jedes einzelne Modul existieren klare Zielvorgaben, die in Form von Einzelerarbeitungen, Kleingruppen- oder Großgruppenarbeiten sowie Rollenspielen erreicht werden sollen.
Die Struktur der Gruppensitzungen ist immer gleich, d. h. zu Beginn findet nach der Begrüßung eine Einführung zum Thema statt. Anschließend erfolgt eine Bearbeitung der Themen in Form von Diskussionen, einem Quiz oder auch aktiver Gestaltung (z. B. Bilder malen), was schließlich in einem Plenum zusammengetragen und gemeinsam ausgewertet wird.
Aus unserer Sicht problematisch wird der Umgang mit der Option des sogenannten kontrollierten Trinkens und sogenannten Ausrutschern gewertet. Sicherlich zeigt die Erfahrung, dass viele Alkoholkranke es nicht im ersten Anlauf schaffen, dauerhaft abstinent zu bleiben, und dafür nicht verdammt werden dürfen. Zudem macht es einen deutlichen Unterschied, ob jemand nach Abschluss einer Behandlung wieder in das alte Trinkverhalten zurückfällt oder im Rahmen einer „Erprobung seiner Willensstärke“ einen Rückfall beim „kontrollierten Trinken“ hat. Gerade im letzten Fall sind wir der Meinung, dass dieser „Denkfehler“ und die dahinterliegende Selbstüberschätzung nicht unterstützt werden sollten.
Achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention (MBRP)
Ein neues u.a. von Marlatt mitentwickeltes Programm (Bowen, Chawla, Marlatt, 2012) beschäftigt sich vorrangig mit der Prävention von Rückfällen. Die Achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention (MBRP – Mindfulness-based relapse prevention) kombiniert dabei bisherige Ansätze zur Rückfallprävention mit Meditationspraktiken. Das Programm soll die Aufrechterhaltung der Behandlungserfolge absichern, in der ambulanten Suchtnachsorge eingesetzt werden und ist zur Durchführung in der Gruppe konzipiert. Marlatt sieht in der meditativen Achtsamkeit eine der nützlichsten Bewältigungsfertigkeiten bei Suchtmittelverlangen. Neben der Sicherstellung des Behandlungsziels „Abstinenz“ betrachtet Marlatt das Programm zudem als eine Möglichkeit, den Lebensstil des Betroffenen zu verändern, um das allgemeine Wohlergehen und die Genesung zu fördern.
Zunächst liegt der Schwerpunkt des MBRP darin, persönliche Auslöser und Risikosituationen für zukünftige Alkoholrückfälle zu identifizieren und angemessene Bewältigungsfertigkeiten zu entwickeln. Hier ähnelt das Programm anderen gängigen Rückfallpräventionsansätzen (RP) und kann am ehesten als „kognitiv-verhaltenstherapeutisch“ beschrieben werden. Ab diesem Punkt wird im MBRP das Konzept der „Achtsamkeit“ eingeführt, worin der wesentliche Unterschied zu anderen RP-Programmen liegt. Die Teilnehmer sollen sich im weiteren Verlauf des Programms mit dem Konzept der Achtsamkeit vertraut machen. Dazu nutzt das Programm Meditationsübungen (Vipassana- oder „Einsichts“-Meditationen), um zunächst die bewusste Wahrnehmung des eigenen Körpers zu ermöglichen. Neben dieser Grundlage der Achtsamkeit werden weitere achtsamkeitsbasierte Übungen (u.a. bewusste, wertungsfreie Wahrnehmung von Gefühlen und Gedanken) aufgenommen.
Neben der gemeinsamen Übung in der Gruppe setzt das Programm voraus, dass die Teilnehmer regelmäßig und täglich Achtsamkeits- bzw. Meditationsübungen durchführen. Dabei ist gerade das regelmäßige Training als eine der wesentlichen Erfolgsvariablen beschrieben. Durch den Einsatz von Achtsamkeitsübungen soll der Teilnehmer gegenüber Suchtdruck und Suchtverlangen eine neue und gelassenere Haltung entwickeln. Marlatt bewertet gerade Stress und Anspannung als die wesentlichen Auslöser von Suchtdruck und Alkoholrückfällen. Eine auf Achtsamkeit basierte Rückfallprävention soll dazu befähigen, den sog. „Autopiloten“ (Marlatt versteht darunter die automatisierten Bewertungsprozesse im Zusammenhang mit Suchtmitteldruck) „auszuschalten“ und gelassen, wie aus der Ferne, sich selbst und die auftretenden Sucht-Gedanken und Gefühle zu beobachten. Dabei geht es im Kern darum, sich durch Suchtdruck nicht mehr in den Rückfall „treiben“ zu lassen.
Die Autoren erheben den Anspruch, dass sich das Programm in der Nachsorge bewährt hat. Auf der anderen Seite bedarf es auf Seite der Teilnehmer eine geduldige und neugierige Haltung. Achtsamkeit gehe nicht „nebenher“, sondern bedarf eines Lebenswandels. Zudem „warnen“ die Autoren davor, dass die Teilnahme auch die Sichtweise auf andere Dinge im Leben beeinflussen kann. Das MBRP sollte von Therapeuten durchgeführt werden, welche bereits eigene Erfahrung mit Meditation und Achtsamkeit gesammelt haben.
Fazit:
Manchmal hört man sowohl aus dem Mund von Therapeuten wie Suchtkranken: Rückfälle gehören dazu! Was den Schluss nahelegt, dass man gar nicht dauerhaft abstinent leben kann, ohne nicht wenigstens hin und wieder rückfällig zu werden. Tatsächlich zeigen viele Suchtkranke, die auf eine jahrzehntelange Abstinenz zurückblicken, dass Rückfälle nicht zwingend auftreten müssen. Ein Jahr nach der Behandlung waren im Jahre 2011 54,4 Prozent der Patienten abstinent und hatten bis zu diesem Zeitpunkt keinen Rückfall erlebt (Qualitätsbericht salus Klinik Lindow, 2012). Bei der Betrachtung dieser Patienten fällt auf, dass die radikale Akzeptanz der Abhängigkeit einen positiven Einfluss hat. Wesentlicher scheint jedoch die Vorbereitung auf und Auseinandersetzung mit Risikosituationen bzw. Rückfallsituationen. Rückfälle können also vorkommen, sind aber immer auch ein Hinweis darauf, dass Risiken falsch eingeschätzt, oder unvorbereitet eingegangen wurden. Die Veränderung vom trinkenden Leben zum abstinenten Leben ist ein Prozess, der mit Widrigkeiten und Rückschlägen (Rückfällen) einhergehen kann. So ist auch das Lernen des abstinenten Lebens ein manchmal anstrengender und schwieriger Weg, der sich perspektivisch aber immer lohnt. Die vorgestellten Präventionsprogramme sollen helfen, Mittel und Wege für einen bewussteren und kompetenteren Umgang mit Rückfallrisiken zu finden.
Dipl.-Psych. R. Schöneck, Leitender Psychologe
Dipl.-Psych. P Dufeu, salus klinik Lindow
Literatur:
Bowen, S. & Chawla, N. & Marlatt, G. A. (2012) Achtsamkeitsbasierte Rückfallprävention bei Substanzabhängigkeit: Das MBRP-Programm. Beltz Verlag, Weinheim, Basel
Körkel, J. & Schindler, C. (2003) Rückfallprävention mit Alkoholabhängigen – Das strukturierte Trainingsprogramm S.T.A.R.. Springer Medizin Verlag, Heidelberg.
Lindenmeyer, J. (2005) Fortschritte der Psychotherapie Bd. 6: Alkoholabhängigkeit. (2. Aufl.) Hogrefe, Göttingen.
Lindenmeyer, J. (2009) Rückfallprävention, in Margraf, J. & Schneider, S. (2009) Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Springer
Lindenmeyer, J (2012) Qualitätsbericht 2011 salus Klinik Lindow.
Lindenmeyer, J. (2016a) Lieber schlau als blau. (9. Aufl.) Beltz Verlag, Weinheim, Basel
Lindenmeyer, J. (2016b) Motivierung durch dosierte Information. In: Salü, 10. Jahrgang, Juni 2016, salus klinik Lindow
Marlatt, G. A. (1985) Relaps prevention: Maintenance strategies in the treatment of addictive behaviors. Guilford, New York.