Titelthema 1/13: Neukölln ist überall?

Neukölln ist überall?

Wenn sich ein Bürgermeister für das Zusammenleben der Menschen in seinem Bezirk interessiert, dann ist es Buschkowsky. Es geht ihm nicht um Selbstdarstellung, nicht um Geld, nicht um Wahlpropaganda, sondern schlicht um die wohlverstandenen Interessen der Bürger, speziell aber um die Zukunft der Kinder. Deswegen fragten wir ihn was zu tun ist, um die riesigen Probleme durch Einwanderung in Neukölln, beziehungsweise in ganz Deutschland zu lösen.

Sie beschäftigen sich in Ihrem Buch mit den Problemen, die sich aus der Entstehung von Parallelgesellschaften ergeben. Spaltungen der Gesellschaft gab es in Neukölln aber schon lange, nur zwischen anderen Gruppierungen. Bereits in den 70er-Jahren wohnten dort z.B. Studenten, die seinerzeit meist sehr ungern von Einheimischen gesehen wurden. Halten Sie es für möglich, dass sich die heutigen Spaltungen ebenfalls irgendwann von selber auflösen?

Mir ist eine solche Spaltung Neuköllns in den 1970er-Jahren nicht aufgefallen. Diese Aussage überrascht mich. Dass die Bevölkerungsveränderungen in Neukölln noch nicht ihr Ende gefunden haben, muss eigentlich jedem klar sein. Wir haben heute einen Anteil von Einwanderern und ihren Nachkommen berechnet auf ganz Neukölln von 41%. In der Innenstadt ist die Hälfte bereits gut überschritten. In unseren Grundschulen im Norden stellen die Einwandererkinder 85 – 95%. Das heißt, die Bürger von morgen sind heute schon da. Hieraus folgt, dass zumindest Nord-Neukölln in zehn Jahren eine Einwandererstadt sein wird. Weitere Veränderungen, Werteverschiebungen und unterschiedliche Lebenswelten werden zwangsläufig das Ergebnis sein. Kinder von heute sind die Erwachsenen von morgen. Das hat nichts mit Politik zu tun. Das ist schlicht und ergreifend Biologie.

Sie reden von Einwanderern. Reden Sie da nur von Einwanderern oder auch von Deutschen mit Migrationshintergrund?

Wo sehen Sie da den Unterschied? Ich habe mich letztendlich für den Begriff Einwanderer entschieden, weil er der umfassendste und eigentlich der klarste ist. Es sind Menschen, die von außen kommend zur bestehenden Gesellschaft hinzustoßen. Egal, ob als Spätaussiedler, Nachkomme der ehemaligen Gastarbeiter oder als Asylbewerber. Sie können sie auch Menschen mit Migrationshintergrund, Migranten oder Zuwanderer nennen. Ich sage Einwanderer, weil es eine Einwanderung ist, aus welchen Gründen auch immer. Zum Beispiel wie wir sie gerade aus Bulgarien und Rumänien erleben. Es gibt Politiker, die behaupten, trotz 16 Millionen Einwanderer, das sind 20 Prozent der Gesamtbevölkerung, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Das ist faktischer Quatsch an der Grenze zur Volksverdummung.

Sie fassen unter den Begriff „Einwanderer“, wie Sie es nennen, auch Menschen mit türkischen Wurzeln, wo die Eltern oder Großeltern …

Ich spreche von Einwanderern und ihren Nachkommen.

Wir haben hier jetzt noch eine Frage – Zitat aus einem Buch des TrokkenPresse-Verlags von Christian Becks: Mach uf ick bring dir um: „Ich renovierte eine Wohnung – Neukölln, Schillerpromenade 30, Hinterhaus Parterre rechts, Nordseite, Ofenheizung. Ich hatte seltenerweise gute Laune. In den Nachrichten wurde berichtet, dass Franz Josef Strauß (1988, Anm. Redaktion) von uns gegangen ist. Ansonsten war das Renovieren frustrierend. Die Wohnung war zuvor von Mietern bewohnt worden, die man in Neukölln öfter traf: Miete hatten sie schon jahrelang nicht mehr gezahlt. Strom und Wasser hatte der Vermieter übernommen…“ – Was hat sich inzwischen seit 1988 geändert?

Wir haben in Neukölln ein Drittel der Bevölkerung, das in irgendeiner Weise von staatlichen Transfermitteln lebt. Warum auch immer. Ob das die alleinigen Einkünfte sind, sei bis zum Beweis des Gegenteils dahin gestellt. Lehrer und Erzieher sagen mir allerdings, dass der Lebensstandard der Familien oder auch die Unterhaltungselektronik, die die Kinder mit sich herumschleppen, eigentlich nicht zum offiziellen Einkommen passt. Ich kann nur mit der amtlichen Statistik arbeiten und danach haben wir die höchste Dichte an Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften auf 1.000 Einwohner in der Bundesrepublik Deutschland. Als makaberen Scherz sage ich manchmal, „bei uns fallen Sie mitunter schon dadurch auf, dass Sie ihre Miete selber bezahlen“. Neukölln ist nun mal nicht der Stadtteil der Schönen und Reichen. Das war er nie und das wird er auch nie werden. Da, wo die „feiner Leut’“ wohnen, ist’s doch so langweilig, dass ich da nicht tot über dem Zaun hängen möchte. Neukölln ist ein altes Arbeiterquartier. Hier wohnten die Leute früher in dunklen Hinterhöfen, eine Toilette für alle unten auf dem Hof. Wer es schon zu etwas gebracht hatte und nach vorne ziehen konnte, hatte die Toilette eine halbe Treppe tiefer. Das ist heute Geschichte. Aber natürlich leben hier viele, viele Menschen, die vom Schicksal gebeutelt sind. Ja, und es gibt auch Parallelgesellschaften. Menschen gleicher Volksgruppen, die am liebsten unter sich bleiben und bleiben wollen und die ihre eigenen Lebensregeln, ein eigenes Wertegerüst haben. Die deutsche Gesellschaft ist ihnen ziemlich gleichgültig.

Drückt sich das auch in der Immobilienbesitzer-Struktur aus, also sprich, kaufen Einwanderer und ihre Nachkommen hier vermehrt Mietshäuser oder ist das weiterhin in deutscher Hand? Migranten investieren ja auch in Neuköllner Immobilien.

Ja, selbstverständlich. Ich kann Ihnen das nicht auf das einzelne Haus herunterbrechen, aber die Immobilienpreise in Neukölln sind beachtlich in die Höhe geschnellt. Nach dem Mauerfall lagen die Preise etwa beim 14 – 15-fachen der Jahresrohmiete. Zwischendurch ging’s bergab bis auf das 6-fache. Im Moment wird das 18- bis 20-fache aufgerufen. Für Immobilien in Neukölln werden teilweise Wahnsinnssummen gezahlt. Natürlich liegt das auch daran, dass wir einen Anteil illegaler Bevölkerung haben, die man mit Tagesmieten – pro Kopf und Nacht 10 Euro – abzocken kann. Der Begriff „Geldwäsche“ liegt da nicht so fern. Das gilt auch für Geschäfte, die Tag und Nacht geöffnet sind, in denen man aber nie Kundschaft sieht. Irgendwie muss das Geld ja in den Wirtschaftskreislauf, das im Mädchen- und Drogenhandel oder illegalem Glücksspiel gemacht wird.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie andere Städte mit gleichen Problemen bessere Lösungen gefunden haben als Berlin. So gibt es beispielsweise in London eine enge Zusammenarbeit zwischen Schulen, Jugendämtern und Polizei. Während hier eine Behörde von der anderen getrennt arbeitet und auch deren Daten weitgehend nicht kennt, ist dort jeder staatlichen Schule ein Polizeibeamter zugeordnet, der alle Schuldaten kennt, die Schule regelmäßig besucht und auch Hausbesuche durchführt. Ist eine solche Verbesserung der Kooperation auch in Berlin denkbar? Falls ja, wer könnte sie durchsetzen?

In den Niederlanden, England, aber auch in anderen Ländern habe ich die Praxis und die damit verbundenen Erfolge kennengelernt, wenn die öffentlichen Stellen tatsächlich vernetzt, also Hand in Hand arbeiten. Die „Versäulung“, wie man das bei uns nennt, dass möglichst eine Behörde nicht wissen darf, was eine andere tut und sie sich auch gerne gegeneinander abschotten, ist der Nährboden für Fehlentwicklungen. Das fängt bei einer anderen Definition des Datenschutzes an. In meinem Buch drucke ich einen Vertrag über den Umgang mit Sozialdaten ab, wie er zum Beispiel in den Niederlanden üblich ist. Das ist doch keine Bananenrepublik. Datenschutz kennen sie da auch. Der Grundsatz allerdings lautet: Zuerst kommt das Wohl des Gemeinwesens und dann der Schutz der Schwachen. Die individuellen Bürgerrechte sind dort nachrangig, denn sie können dort nie über dem Kollektivrecht der Gemeinschaft stehen.

Bei uns ist das anders. Wir diskutieren leidenschaftlich, ob man die Videobänder aus U-Bahnhöfen 24 oder 48 Stunden aufheben darf. Wenn es für die Nachwelt von Bedeutung ist, können Sie das Band, was mich beim Fahrscheinkaufen zeigt, gern 100 Jahre archivieren. Für eine Neubewertung müssten unsere Abgeordneten die Initiative ergreifen. Ein Schweizer Wissenschaftler verwendet übrigens die Bezeichnung „asozialer Individualismus“. Er bedeutet, ich sehe nur noch mich und meine Interessen. Sie sind das Maß der Dinge. Der Sozialraum ist nur noch dazu da, für mich zu sorgen. Diese Vollkaskomentalität ist mir nicht ganz unbekannt. Die Gesellschaft ist dafür verantwortlich, dass es mir gut geht. Sie trägt daran Schuld, wenn es mir schlecht geht. Wenn meine Kinder nicht lesen und schreiben lernen, ist die Schule schuld. Wenn ich keine Arbeit habe, ist dafür das Jobcenter verantwortlich. Es gibt für jede Lebenslage einen Schuldigen. Das ist ein verhängnisvoller Trend. Er verliert völlig aus dem Auge, dass jeder Mensch erst einmal selbst für sein Leben verantwortlich ist. Das Abschieben auf andere mag bequem sein, lähmt aber Ehrgeiz und den Selbstbehauptungswillen. Andere Länder fordern die Eigeninitiative heraus, verlangen den Einsatz der Kompetenzen, über die jeder Mensch verfügt. Auch, wenn sie manchmal erst geweckt werden müssen. Mir scheint dieses System erfolgreicher.

Sie sehen jetzt innerhalb des deutschen oder des Berliner Datenschutzes Ihre Möglichkeiten ausgereizt? Also, innerhalb dieser Gesellschaftsordnung sehen Sie, dass Sie das Optimale gemacht haben?

Ich könnte Ihnen über Beispiele berichten, da würden Sie die Hände über dem Kopf zusammen schlagen. Ich bin gegen den gläsernen Menschen und durchaus ein Anhänger von Datenschutz. Aber für mein Empfinden ist er bei uns pervertiert.

Wie sollte man in den Schulen mit Kindern schwieriger Eltern umgehen? Damit sind Migrantenkinder gemeint (Migranten, die sich nicht „eingemeinden“ lassen wollen), aber auch Kinder z.B. von alkoholabhängigen Eltern. Welche Hilfen fehlen noch?

Es gibt im Regelfall keine lernunwilligen Kinder. Kinder lernen gerne. Erst wenn sie den Anschluss in der Klasse verloren haben, verlieren sie die Lust am Lernen und versuchen mit Rollen wie dem Klassenclown oder dem stärksten Prügler wettzumachen, dass die anderen besser rechnen oder lesen können. Eine ganz andere Frage ist, wie man mit den Defiziten der Elternhäuser umgeht, die die Kinder im Rucksack des Lebens mit sich herumschleppen. Aus meiner Sicht lohnt es nicht, sich an den Eltern abzuarbeiten und ihnen zu erklären, dass das, was der Großvater ihnen beigebracht hat, alles falsch war. Es funktioniert ebenso wenig, dem alkoholkranken Menschen die fünfte Langzeittherapie aufzuschwatzen, wenn er noch nicht so weit ist, zu begreifen, dass er gerade das Wertvollste, was er besitzt, vernichtet: Sein Leben und das seiner Familie. Da verkämpft man sich. Wo keine Einsicht ist, hat es auch keinen Zweck, an Menschen „herumzudoktern“. Worin liegt der Sinn, Süchtige zu substituieren, die auf das Methadon noch irgendetwas anderes raufschmeißen, damit es richtig „zeckt“? Es mag sein, dass man damit den Absatz im Drogenhandel schmälert, aber ob es den Menschen hilft, da setze ich ein Fragezeichen.

Doch zurück zu den Kindern. Wir müssen ihnen vielmehr eine Alternative zu ihrem jetzigen Leben zeigen. Wir müssen ihnen den Gedanken nahebringen, den sie aber selbst bis zu Ende denken müssen: Meine Kinder sollen es einmal besser haben als ich. Das kann aber nur gelingen, wenn wir ihnen Werte vermitteln, die sie verstehen lassen, was sich zu Hause abspielt, und dass Verwahrlosung, Sucht und Gewalt menschenunwürdig sind. Wenn die letzte verbliebene Triebfeder sich nur noch darum dreht, wo ich die nächste Dosis herkriege, egal wie die Droge heißt. Aber auch, dass eine tolerante, demokratische Gesellschaft nicht vereinbar ist mit dogmatischen, religiösen Riten, die 1.500 Jahre alt sind. Darauf müssen die Kinder aber selbst kommen. Wir könne sie nur begleiten und behutsam lenken

Sie kommen immer wieder darauf zurück, dass eine verlässliche, konsequente Haltung wichtig sei, mit anderen Worten: Verbindliche „Spielregeln.“ In der Suchtkrankenhilfe gibt den Begriff der „Co-Abhängigkeit“. Das bedeutet unter anderem, dass Angehörige sich zwar die größte Mühe geben auf den Alkoholkranken Einfluss zu nehmen, ohne aber die entscheidenden Schritte zu tun. Beispielsweise kündigen sie bestimmte Handlungen an, ohne diese dann umzusetzen. Damit nehmen sie unwissentlich Anteil an der Fortdauer der Erkrankung. Daraus lernen die Betroffenen nur, dass sie die Worte von Ehefrau/Ehemann nicht ernst nehmen müssen. Es ändert sich nichts, auch weil die Konsequenz fehlt. Erkennen Sie in der „Co-Abhängigkeit“ eine Ähnlichkeit zu den bislang praktizierten Verhaltensweisen gegenüber Parallelgesellschaften?

Ich finde den Vergleich arg konstruiert. Es geht eigentlich um eine simple Frage: Ist Laissez-Faire eine brauchbare Therapie, egal bei welcher Diagnose? Die Antwort lautet natürlich: Nein! Zuschauen, treiben lassen, Inkonsequenz, abtauchen, schönreden und welche Begriffe uns noch so einfallen, sie lösen nie ein Problem. Weder zu Hause, noch in der Gesellschaft. Unabhängig davon, ob der Vergleich hinkt oder nicht, trete ich dafür ein, dass eine Gesellschaft ihre Entwicklung steuern muss. Sie darf sie nicht in Form einer beobachtenden Gesellschaft einfach geschehen lassen. Sie muss dort, wo Dinge aus dem Ruder laufen, als intervenierende Gesellschaft Rahmenbedingungen vorgeben und geltende Normen des Zusammenlebens durchsetzen. Ein zahnloser Tiger taugt nun einmal nur zum Bettvorleger. Die Gesellschaft muss regelkonformes Verhalten stimulieren. Zur Not mit Sanktionen. Wer bei rotem Ampellicht nicht stehenbleibt, bezahlt 150 Euro und kassiert drei Punkte.

In der Suchtkrankenhilfe spielen die Abstinenzverbände eine besonders große Rolle, weil diese nicht nur für einen begrenzten Therapiezeitraum präsent sind, sondern „lebenslänglich“ und natürlich auch, weil sie nichts kosten. Neukölln hat den Guttemplern ein ganz besonderes Gebäude überlassen, nämlich das ehemalige Wasserwerk in der Wildenbruchstr. 80. Dort leisten die ehrenamtlichen Suchtkrankenhelfer vorzügliche Arbeit. Trifft es zu, dass die Miete von jetzt 261 Euro im Jahr 2020 auf 4800 Euro aufgestockt werden soll? Falls ja, würden Sie sich für die Beibehaltung der alten Bedingungen einsetzen?

Seit 1995 beträgt die symbolische Miete 1 DM bzw. 0,51 Cent zuzüglich Betriebskosten. Dieser laufende Vertrag gilt noch bis 2020. Soweit mir bekannt, gibt es einen Nachtrag, der bereits im Jahre 2010 einvernehmlich zwischen den Guttemplern und der Stadt und Land abgeschlossen wurde. Den Inhalt kenne ich nicht. Ich werde mich aber nicht in Verträge einmischen, die andere im Frieden miteinander vereinbart haben.

Sie haben sich in hohem Maße als Bürgermeister engagiert. Ein grüner Bürgermeister soll gesagt haben, dass man in dieser Position, als Beamter eine 80-Stunden-Woche habe. Wie wird Ihr Alltag aussehen, wenn Sie in Pension sind?

Mein Ruhestand ist noch etwas hin. Ich kann aber definitiv ausschließen, dass ich einen Verein zum Züchten von Rosen gründen werde und ich werde auch in keinen Angelverein eintreten. Ich warte in Demut ab, welche Rolle das Schicksal mir für den Rest meines Lebens zuweist.

Was ist für Sie in diesem vielfach gewandelten, verwandelten Bezirk noch Heimat? Gibt es bestimmte Situationen oder bestimmte Orte bzw. Menschen, die ein „Heimatgefühl“ auslösen?

Ob mein Heimatgefühl an Menschen gekoppelt ist, habe ich bisher nicht deutlich gespürt. Neukölln, insbesondere der Teil draußen in Rudow, wo ich als Kind und Jugendlicher gelebt und von wo aus ich die Welt entdeckt habe, das ist schon meine Heimat. Der Reuterplatz schon weniger. Hier war ich nicht zu Hause, wir „Dörfler“ sind ins Pigalle gefahren, wenn wir was erleben wollten. Es war also ein Reiseziel. Je ferner man ist, desto größer wird der Fokus. Bin ich auf Usedom, denke ich an meinen heutigen Wohnsitz in Buckow, bin ich in Oslo, denke ich an Berlin. Dann ist Berlin meine Heimat. Die Stadt, in der ich immer gelebt habe.

Warum setzen Sie sich für die Integration der höchst unterschiedlichen Bevölkerungsteile in Neukölln so intensiv ein? Welche Wurzeln hat Ihr Engagement? Hat das etwas mit Glauben zu tun oder welchen anderen Grund gibt es für Ihre Haltung?

Mit einem religiösen Glauben hat das nichts zu tun. Religionsfreiheit bedeutet, auch frei von Religion leben zu können und zu dürfen. Ich engagiere mich, weil ich möchte, dass Neukölln auch mit einer mehrheitlich von Einwanderern geprägten Bevölkerung in der Zukunft nicht nur im Atlas in der Mitte Europas liegt, sondern auch in den Köpfen und in den Herzen der Menschen. Viele Menschen, die hier leben, haben mit ihren Nachbarn keine gemeinsame Vergangenheit. Aber sie müssen eine gemeinsame Zukunft haben. Ich möchte gerne, dass alle Kinder, die in diesem Bezirk geboren werden, die gleichen Chancen auf ein emanzipiertes, eigenständiges Leben haben, dass ihnen die gleichen Chancen eröffnet werden, wie ich sie hatte. Daran arbeite ich mich ab. Ich arbeite für die Zukunft der Kinder und gegen die Eltern, die die größte Gefahr für ihre Zukunft sind.

Woher kommt das Engagement?

Thilo Sarrazin würde sagen: „Vielleicht ist es genetisch“ (Lachen). Woher es kommt, weiß ich nicht. Keine Ahnung. Auch mein Vater hat niemals in Lambarene gearbeitet. Vielleicht ist es meine innere Grundhaltung, die irgendwann mal dazu geführt hat, dass ich Mitglied der SPD geworden bin.

Sehr geehrter Herr Buschkowsky, die TrokkenPresse dankt Ihnen für das Gespräch

Titelthema 02/12: Sucht und Veränderung

Ein Vortrag von Alfred Scheib, leitender Psychologe der AHG Klinik Richelsdorf, anlässlich des Selbsthilfegruppentages am 24. März 2012

Mein Vortrag heute ist in zwei Teile gegliedert und eigentlich müsste der vollständige Titel lauten. Sucht und Veränderung – Abstinenz und Veränderung.

Beginnen wir mit ersterem.

Sehr lange war man auf der Suche nach der Suchtpersönlichkeit, in der Annahme, dass Sucht nur bei bestimmten Menschen mit bestimmten Merkmalen vorkomme. Doch das wäre dann doch zu einfach gewesen: Mensch mit Merkmal A = süchtig oder in Gefahr süchtig zu werden, und Mensch ohne Merkmal A = keine Gefahr.

Die genetische Forschung ist heute manchmal in einer ähnlichen Gefahr der Vereinfachung. Ein weiterer Vorteil dieser Vereinfachung: Veränderung ist nicht möglich, der Mensch ist festgelegt, die Sucht ist Schicksal. Bemühungen, dieses Schicksal zu ändern, sind vergeblich. Süchtige können sich nicht ändern, man kann sich ihrer nur erbarmen und sie aufbewahren, so dass sie niemandem mehr schaden können.

Wir alle hier im Saal wissen, dass dies nicht so ist. Die Selbsthilfebewegung hatte schon immer einen anderen Ansatz, eben Hilfe zur Selbsthilfe. Das heißt aber auch: Veränderung ist möglich.

Und natürlich wusste die Selbsthilfebewegung, dass die Sucht den Menschen verändert, und alle Angehörigen wussten und wissen dies auch. Weil sie es erleben. Wie oft höre ich den Satz: ,,Manchmal glaube ich, mein Mann bestehe aus zwei Personen, die nichts miteinander zu tun haben. Der nüchterne Mann ist völlig anders als der, der getrunken hat“. Und oft höre ich ebenso: ,,Als er noch nicht getrunken hat, war er völlig anders“. (Anm. der Redaktion: das betrifft Frauen genauso).

Was passiert da?

Ich will dazu etwas weiter ausholen. Wir kommen zum einen mit recht unterschiedlicher Ausstattung auf die Welt: es gibt ruhige Babys, die aus unserer Erwachsenensicht scheinbar von Anfang an zufriedene Kinder sind und es gibt unruhige, lebhafte Babys, die Arbeit machen, Ringe unter die Augen der Eltern zaubern. Es gibt kränkelnde Kinder und robuste usw.; es ließen sich noch sehr viele Unterschiede aufzählen. Und doch haben alle körperlich und geistig gesunden Kinder zunächst unendlich viele Möglichkeiten. Begrenzt werden diese Möglichkeiten von außen. Wir reagieren auf unsere Kinder, auf ihr So-Sein, und wir machen unseren Kindern Angebote, auf die unsere Kinder reagieren, zum einen, weil sie nicht anders können und zum anderen, weil sie uns lieben. Zwangsläufig sind unsere Angebote beschränkt und das heißt, aus der Fülle der Möglichkeiten wird ein Teil ausgewählt, ein größerer Teil bleibt unausgeschöpft.

Unmittelbar leuchtet dies ein z. B. für sportliche, musikalische, künstlerische, aber auch mathematische oder intellektuelle Entwicklungen. Man sagt, derjenige habe Talent, eine Begabung für etwas. Doch auch unser emotionales Leben (und Erleben) birgt eine unendliche Fülle, im Glücksfall einen unendlichen Reichtum. Und auch dieses emotionale Leben kann gefördert oder blockiert werden, die Fülle kann erlebt werden oder verkümmert bleiben. Und dazu bedarf es liebevoll zugewandter, selbst erlebensreicher, einfühlsamer, annehmender und bestätigender, fördernder und altersgerecht fordernder Bezugspersonen. Zumeist sind dies die Eltern, die unsere Grundbedürfnisse nach Sicherheit, Akzeptanz, Bestätigung, Liebe und Zuneigung sowie Grenzrespektierung befriedigen. Mit solcherlei Erfahrungen ausgestattet, entwickelt sich das sogenannte Urvertrauen in mich, die anderen und die Welt. Mit einem solchen Urvertrauen ausgestattet, können wir die vielfältigen Entwicklungsaufgaben des Lebens mit Zuversicht angehen und die zwangsläufigen Rückschläge verkraften, ohne zu resignieren und aufzugeben.

Wenn dies nicht der Fall ist, bleibt eine Lücke im Inneren, manchmal eine sehr große und ich bin zeitlebens auf der Suche, diese Lücke zu füllen. Einen Menschen zu finden, der diese Lücke ausfüllt, sie mich nicht mehr spüren lässt, mir innere Sicherheit gibt, wo ich selbstunsicher bin, mir so viel Liebe gibt, dass ich davon angefüllt bin, mich bedingungslos annimmt, akzeptiert und bestätigt, um meine Selbstzweifel zu zerstreuen.

Doch wie enttäuschend: diesen Menschen gibt es nicht!

Doch es gibt etwas anderes, das Suchtmittel! Es füllt die Lücke. Zuverlässig und immer, wenn ich es brauche. Es tröstet, macht mich stark, lindert Schmerz, gibt mir Sicherheit, füllt meine innere Leere, heilt alle meine (seelischen) Wunden. Ich brauche die anderen nicht mehr.

Doch die sind noch da, spüren und erleben, wie sich der Süchtige verändert, sich immer weiter entfernt, unerreichbarer wird, zunächst unmerklich, allmählich immer deutlicher. Und sie strengen sich an, den sich entfernenden zurückzuholen, werben, argumentieren, drohen, bitten, kämpfen – und spüren doch, dass sie den Kampf verlieren. Das Suchtmittel ist stärker. Der Süchtige hat etwas gefunden, gegen das der Angehörige nicht ankommt, nicht konkurrieren kann, nicht einmal um den Preis der Selbstaufgabe.

Und für den Erhalt des Suchtmittels streitet der Süchtige, lügt, betrügt usw.

Er ist ein anderer geworden, als der, den wir bisher kannten.

Und natürlich bewirkt auch der jahrelange Gebrauch und Missbrauch des Suchtmittels Veränderungen. Die Konzentration leidet, die geistige Beweglichkeit nimmt ab, die Interessen schränken sich ein, Hobbies verlieren an Bedeutung, die Antriebslosigkeit nimmt zu, die Selbstkritikfähigkeit wird immer geringer, gleichzeitig nimmt die Kritik und die Abwertung an anderen zu, ebenso die Aggressionsbereitschaft. Konflikte häufen sich, im Freundeskreis, am Arbeitsplatz, in der Familie. Verlässlichkeit, Verbindlichkeit lösen sich auf zugunsten von Unberechenbarkeit und Unzuverlässigkeit. Die Feindseligkeit gegenüber anderen nimmt zu, begründet und gerechtfertigt in der Ablehnung durch andere: „alle sind gegen mich“.

Doch sind das wirklich grundlegende Veränderungen der Persönlichkeit? Ist jetzt etwas da, was vorher nicht vorhanden war? Sind das wirklich zwei Personen, die nicht trinkende und die trinkende? Ist es wirklich erstrebenswert, wieder „der zu werden, der ich früher war“?

Ich sage zu all diesen Fragen ein klares NEIN.

Wie weiter oben schon angedeutet, sind wir geprägt durch unsere Disposition und durch unsere Beziehungserfahrungen. Sie haben uns werden Jassen wie wir sind, mit unseren Überzeugungen über uns selbst und den Überzeugungen über die anderen und mit unseren Überzeugungen, wie andere uns begegnen, mit unseren Wünschen und Ängsten. Daraus entstehen unsere Persönlichkeitsstile und unsere Charakterstruktur. Diese Bereitschaften und Eigentümlichkeiten verstärken sich im Laufe der Suchtentwicklung, werden zu Störungen, unter denen der Süchtige zumeist gar nicht leidet, wie weiter oben schon gesagt, die Selbstkritikfähigkeit ist ja herabgesetzt. Doch die Umwelt (Freunde, Kollegen, Familie) nehmen sie wahr und leiden darunter, versuchen anfangs noch Einfluss zu nehmen, auch zu entschuldigen, und ziehen sich schließlich zurück, resignieren. Der Süchtige registriert dies, doch schreibt er den Rückzug nicht sich und seinem veränderten Verhalten zu, sondern sieht es als Bestätigung seiner Überzeugung, dass er allen sowieso egal ist, dass sich um ihn noch nie jemand gekümmert hat oder dass alle ihm übel wollen.

Im günstigen Fall kommt es irgendwann zu einer krisenhaften Entwicklung (Abmahnung am Arbeitsplatz, Führerscheinverlust, Gesetzesverstöße, drohender Partnerverlust, schwerwiegende Erkrankung u. a.) die den Süchtigen vor die Wahl stellen: weitermachen und heroisch die Konsequenzen tragen (,,so schlimm wird es schon nicht werden“, ,,das schaff ich schon“) oder sich den Problemen stellen, mit aller damit verbundener Scham und Angst und Schuldgefühlen. Einige gehen letzteren Weg, viele leider nicht.

Und damit wären wir beim zweiten Teil meines Vortrages.

 Welche Veränderungen bringt die Abstinenz?

Zunächst einmal eine gehörige Portion Verunsicherung und enorme Abwehr, sich das Desaster einzugestehen. Es wird bagatellisiert, verleugnet, relativiert. Das ist kein Merkmal von Süchtigen allein. Denken Sie nur an die letzten Monate in der Politik. Wir Menschen tun uns schwer, Niederlagen einzugestehen, weil damit immer der Selbstwert bedroht ist. Doch es hilft nichts, der Süchtige muss sich ehrlich machen und dabei braucht er Hilfe. Professionelle Hilfe in der Suchtberatung oder in der stationären Entwöhnungsbehandlung und Hilfe in der Selbsthilfegruppe. Im Kreis von anderen kann er im günstigen Fall seine Bagatellisierungen und Verleugnungen aufgeben und seine Situation betrachten, wie sie ist und nicht nur, wie er sie sich Unrecht legt. Dafür braucht es die anderen und die Nüchternheit. Und es braucht Mut. Die Scheu vor der eigenen Vergangenheit entsteht ja meist nicht aus Verbohrtheit, sondern oft aus Gründen des Selbstschutzes. Die Menschen fürchten sich vor Trauer, Scharn Schmerz, Depression und (Selbst-)Hass, vor der psychischen Pein, die vorbehaltlose Aufklärung häufig auslöst. Doch uneingestandene und unausgesprochene Schuld bindet Individuen an die alte Zeit macht befangen, mutlos und erpressbar.

Wir erleben manchmal beim Angehörigenseminar, wenn der Süchtige mit dem Erleben der Angehörigen konfrontiert wird, wie schwer Schuld- und Schamgefühle auszuhalten sind, wenn die Verleugnung zusammenbricht. Doch daraus kann auch ein Neuanfang erwachsen, ein verantwortungsvolles Miteinander, im Hier und Jetzt.

Genauso wie die Entwicklung zur Sucht mit allen suchtbedingten Veränderungen ein weiter und langer Weg war, so ist auch der Weg in die Abstinenz ein langer und weiter. Leider wollen sich allzu viele diesen Weg ersparen und glauben, nach der Entgiftung sei die Abstinenz hergestellt und das reiche. ,,Ich muss nur aufhören zu trinken und dann wird alles gut“.

Die jahrelange Sucht hat jedoch die anstehenden Entwicklungsaufgaben verhindert oder auch Entwicklungen wieder rückgängig gemacht. Das heißt, Bestandsaufnahme ist angesagt.

Wo bin ich stecken geblieben?

Wovor schrecke ich zurück?

Was sind meine Wünsche und Ängste?

Was ist der nächste Schritt?

Wenn wir das Leben als eine Entwicklungsaufgabe begreifen, als eine Herausforderung, dann muss ich mich damit beschäftigen, was es mir schwer macht, die Herausforderung an· zunehmen. Ich muss mich mit meinen Begrenzungen beschäftigen und mit dem, was möglich ist. Dazu gehört, die sucht· bedingten Veränderungen wahr zu nehmen und aufzulösen. die Lügen, das Täuschen, die mangelnde Selbstkritik, die Ich-Bezogenheit. Ich muss lernen. Die anderen wahrzunehmen, einzubeziehen, mich als einen Teil des Ganzen, z. B. der Familie zu begreifen, der seinen Anteil zum Gelingen beitragen muss. Ich möchte, dass andere für mich da sind, genauso wie ich dann auch für andere da bin.

Die Zeit lässt sich nicht zurück drehen, ich kann nicht mehr der werden, der ich einmal war. Das ist auch gar nicht erstrebenswert, denn der, der ich einmal war, war ja auch der Ausgangspunkt für meine süchtige Entwicklung.

Ich kann nur im Hier und Jetzt ansetzen. Wer bin ich, wie bin ich, was will ich und was kann ich?

Ich muss mich als Handelnder begreifen, als jemand, der wieder beginnt sein eigenes Leben zu steuern. Ich muss lernen, einen Außenblick auf mich einzunehmen. Dazu brauche ich die anderen mit ihrer Wahrnehmung von mir, muss zumindest für möglich halten, dass andere mich anders sehen als ich mich selbst. Ich kann diese andere Sichtweise auf mich selbst bedenken, überprüfen, annehmen oder verwerfen oder auch im Gespräch modifizieren, d. h. meinen Teil dazu fügen. Wenn es gelingt, habe ich zu meinem Bisherigen etwas Neues hinzugefügt, das Neue integriert und daraus ist dann etwas Anderes/Neues entstanden. D. h. ich habe mich verändert, ohne mich und meine Sicht auf mich aufzugeben, ich habe eine neue Sichtweise hinzugefügt. Und gleichzeitig habe ich meine Beziehung zu anderen verbessert, indem ich ihnen zuhöre, sie einbeziehe, andere Sichtweisen zulasse.

Aus dieser Betrachtung ist Veränderung ein ständiger, lebenslanger Prozess, der sich in unserem Inneren und im Austausch mit anderen vollzieht.

Wir sind soziale Wesen und brauchen für unsere Entwicklung diesen sozialen Austausch, sonst würden wir ganz kreatürlich stecken bleiben wie Kaspar Hauser. Mit einem Dichterwort gesagt: Schau in die Gesichter der anderen und Du siehst Dich selbst, schau in den Spiegel und Du siehst die anderen.

Veränderung ist immer ein Wagnis in Unbekanntes. Therapie ist Entwicklungsförderung,

Selbsthilfegruppen gehen gemeinsam das Wagnis der Veränderung ein, sollten immer offen bleiben für Neues, Unbekanntes und die Unsicherheit dabei ertragen.

Und zum Ende mein Credo für unser Leben, für unsere Lebensaufgabe:

Unsere Aufgabe besteht darin, das Bestmögliche aus dem zu machen, was aus uns gemacht wurde.

Ich begreife diesen Satz als immerwährende Entwicklungsaufgabe. Und sie kann nur in Abstinenz gelingen.

Damit ist dann auch beantwortet, warum es nicht gelingen kann, wieder der zu werden, der ich früher war!

 

 

 

 

Titelthema 06/12: So sehen Sieger aus

Der Tlingit-Indianer Bill Pagaran im Interview mit der TrokkenPresse

Als erstes möchte ich herzliche Grüße an meine deutschen und anderen europäischen Freunde schicken. Ihr gehört mit zu meinen Lieblingsmenschen auf dieser Welt. Ja, ich bin ein professioneller Schlagzeuger, Kursleiter und Autor. Zurzeit bin ich der Trommler der indianischen Band Broken Walls, außerdem leite ich ein Programm zur Suizidprävention mit dem Namen Carry the Cure, lnc. Ich bereise also die Welt als Redner und Motivator an öffentlichen Schulen, in Kirchen und anderen Einrichtungen.

Warum besuchen Sie unser Land?

Warum ich hier in Deutschland bin? Das ist eine gute Frage. Ich bin aus verschiedenen Gründen hier. Einer der Gründe für meine Anwesenheit ist, dass ich eine Botschaft der Ermutigung mit den Kirchen in Deutschland teilen möchte. Ich glaube daran, dass dies die richtige Zeit des Erntens (i. christl. Sinne; A.d.Ü) und des Aufbaus in Deutschland ist. Ich sehe einen offenen Himmel über Deutschland, einigen Teilen von Europa und über den Native Americans. Auch sehe ich eine Brücke im Natürlichen und im Übernatürlichen zwischen Europa und den Native Americans. Ich weiß auch, dass die Herzen vieler in Europa Native Americans gegenüber offen sind. Es gibt ein Interesse an unseren Leuten und unserer Art zu leben. Die Deutschen können den Wert und die Schönheit unseres Volkes und unsere Kultur schätzen, die wir selbst allein nicht bemessen können. Viele Native Americans haben wie ich ein Herz für Deutschland und Europa. Wir haben auch ein Interesse an Deutschen und wir schätzen eure Leute sehr. Deshalb glaube ich, dass es für uns eine Möglichkeit gibt, uns gegenseitig auf praktischer und spiritueller Ebene zu helfen. Die Bibel sagt (Sprüche 27: 17): ,,Eisen schärft Eisen, ebenso schärft ein Mensch einen anderen.“ Diese Art von Beziehung sollten wir haben. Diese „Aufgeschlossenheit“, so glaube ich, wurde von Gott in unsere Herzen gelegt, so dass wir uns in Zeiten der Bedürftigkeit gegenseitig helfen können. Nicht nur während der Zeit der Entbehrung, sondern auch um uns zu helfen, groß zu werden in allem, was wir tun und um unseren Mitmenschen zu helfen. Ich bin also hierhergekommen, um die Vision, die mir von Gott gegeben wurde mit der Kirche und anderen, die interessiert sind zu teilen, und um eine Beziehung zwischen den Natives und den Europäern aufzubauen.

Um eine Europatour für meine Band Broken Walls für 2013 zu planen, habe mich mit Konzert-Promotoren, Kirchengemeinden und anderen getroffen. Ich glaube, dass dies uns helfen wird, die Botschaft auf eine kraftvolle Weise zu überbringen.

Können Sie zunächst mitteilen, zu welchem Stamm Sie gehören und wie es diesem Indianerstamm geht?

Ich bin ein Tlingit aus dem Südosten Alaskas und komme vom (Adler-Wolf) Yungya-dee Clan. Mein indianischer Name ist Kee’gahn, das bedeutet starker Krieger. Unser Volk ist der einzige unbesiegte Stamm aus Nord Amerika. Obwohl wir durch die Kolonisierung nicht physisch zerstört wurden, haben wir sehr gelitten. Unsere Sprache und unsere Lebensart wurden fast zerstört. Obwohl unsere Traditionen noch immer gepflegt werden, und obwohl vieles in unserer reichen Kultur noch immer lebendig ist, leidet in unseren Dörfern die Sprache am meisten. Wir haben an unseren Schulen viele Programme, die uns dabei helfen sollen, unsere Sprache und das, was wir sind, zu bewahren. Viele unserer Natives in Alaska, inklusive der Tlingit, leiden unter Depressionen und empfinden es als schwer, sich in die Amerikanische Gesellschaft einzufügen. Viele _ wenden sich den Drogen, dem Alkohol und anderen Dingen zu, die nicht helfen.

Wie Sie vielleicht wissen, haben viele Deutsche großen Respekt vor dem Mut und dem Kampfgeist der Indianer, die sich ja gegenüber den Eindringlingen, den Europäern, heftig gewehrt haben. Leider wurde aber ein Stamm nach dem anderen besiegt, denn die Einwanderer waren in der Mehrzahl. Welche Konsequenzen hat die Niederlage für das Leben der Indianer heute?

Wie ich bereits sagte, waren die Tlingit auf der physischen Ebene ein unbesiegter Stamm. Die Tlingit waren meisterhafte Krieger und wussten, wie sie Alaskas raue Küste zu ihrem Vorteil nutzen konnten. Wir wurden durch die Gesellschaft besiegt. Die Kolonisten und Einwanderer legten keinen Wert auf unsere Sprache und unsere Lebensart. Wenn wir uns also eingliedern und von den Ressourcen der Nation profitieren wollten, mussten wir unseren Weg aufgeben. Viele, viele Menschen wurden gezwungen, in die Internatsschulen zu gehen, wo es ihnen nicht erlaubt war, Natives zu sein. Wir konnten unsere Sprache nicht sprechen oder unsere Gebräuche praktizieren. Viele Natives gaben es auf, die zu sein als die sie erschaffen worden waren, oder sie ergaben sich dem Alkohol und den Drogen. Dies war für unser Volk die größte „Niederlage“. Ich glaube, dass dies der Grund dafür ist, warum die Native Americans in Alaska die höchste Selbstmordrate haben. Obwohl dies hoffnungslos klingt, ist es das nicht. Dank des Schöpfers steigen wir wieder auf. Wir beginnen Heilung in unseren Leuten und in unserem Land zu sehen.

Die Europäer brachten ja auch den Alkohol mit nach Amerika. Welche Bedeutung hat der Alkohol heutzutage für die Indianer?

Bei vielen betäubt Alkohol den Schmerz und die Qual. Die Natives benutzen ihn oft aus diesem Grund. Der Alkohol führt zu einem schlechten Urteilsvermögen und schlechten Entscheidungen. Bei vielen ist es so, dass sie, wenn sie unter Alkoholeinfluss stehen, andere körperlich, sexuell, psychisch und verbal misshandeln. Der Alkohol ist für unser Volk noch immer ein fürchterliches Problem.

Wie könnten die Indianer den Alkohol am besten bekämpfen? Gibt es Vorschläge?

Ich persönlich glaube, dass wir nicht dazu in der Lage sind, dieses Problem mit dem Alkohol erfolgreich mit einfachen Programmen und unserer eigenen Widerstandsfähigkeit zu besiegen. Die erfolgreichsten Programme stützen sich auf die übernatürliche Kraft Gottes, um die Abhängigkeit vollständig zu überwinden. Sicher haben wir einige erfolgreiche Einzelne, die den Alkohol durch Beratung und Programme überwunden haben, jedoch die Mehrheit derjenigen, die davon frei sind, sind diejenigen, die ihr Leben, dem Heiligen, Jesus übergeben haben und die die Bibel als Anleitungsbuch und die Kirchengemeinde als ihre Unterstützergruppe genutzt haben. Allerdings gibt es Zurückhaltung, da wir Native Americans es manchmal schwierig empfinden, eine Kirche zu finden, die es erlaubt, Christen und gleichzeitig Natives zu sein. Gott hat uns auf eine bedachte wundervolle Art erschaffen_ Wir müssen unsere Tänze tanzen, unsere Lieder singen unsere Kultur nutzen können, um Jesus zu ehren.

Der beste Weg, den Alkohol zu bekämpfen, besteht darin, dein Leben demjenigen in Hände zu geben, der es dir geben hat und um Seine Hilfe in diesem Kampf gegen Alkohol zu bitten und darum zu beten, dass du die passende Unterstützung in Seiner Kirche erhältst.

Kennen Sie andere Indianer, die besonders aktiv gegen Alkoholvorgehen?

Ja, es gibt viele Gruppen Native Americans, die gegen den Alkoholmissbrauch vorgehen. Viele benutzen klinisches und psychologisches Wissen, um dieses Problem bekämpfen. Andere benutzen ihre Kultur, um es zu bekämpfen. Aber, noch einmal: Die erfolgreichsten Methoden, sind diejenigen, die einen ganzheitlichen Ansatz haben. Gott kann uns die Weisheit und Stärke geben, unsere Kultur und das medizinische Wissen der Welt zu nutzen, aber auch die rituelle Stärke in Anspruch zu nehmen, ohne biblische Prinzipien zu verletzen. Dies ist, was ich getan habe, dies ist wesentlich erfolgreicher als alles andere, was ich gesehen, gehört oder erfahren habe.

Wie machen die das?

Ich denke, das habe ich oben bereits beantwortet. Ich benutze ein auf dem Glauben basierendes Programm, um anderen zu helfen. Das heißt, alles, was ich tue ist biblisch begründet, aber ich lasse nicht die Wirksamkeit der medizinischen Methoden, der Beratung, Selbsthilfegruppen, der Kultur und anderer gesundheitlicher Aspekte und Aktivitäten außer Acht, um die Lücken zu schließen. Wir wenden uns oft dem Alkohol zu, um eine Leere in unserem Herzen zu füllen, um den Schmerz der Misshandlung, der Verlassenheit, der Zurückweisung zu betäuben. Deshalb braucht es Gott, um unserem Geist tiefgründige Heilung zu bringen.

Trifft es zu, dass am Rande von Reservaten besonders viel Alkohol verkauft wird?

Das ist richtig. Einige Reservationen haben lächerlich hohe Verkäufe an Alkohol. Viele Reservationen müssen den Verkauf von Alkohol verbieten, weil es vielen an Selbstkontrolle mangelt.

Wie kann man dagegen vorgehen?

Der beste Weg, um den Missbrauch von Alkohol zu regulieren, ist der mit euren Regierungsvertretern zu reden. Teilt Ihnen mit, wie sehr dies zu anderen Missbräuchen, z. B. sexuellen und körperlichen, beiträgt. Sogar die Regulierung der Öffnungszeiten kann einer unter Missbrauch leidenden Gemeinde helfen.

Wie sind Ihre persönlichen Erfahrungen, auch Ihrer Angehörigen, mit dem Alkohol?

Mein Vater war ein Alkoholiker. Meine Mutter und einige meiner Schwestern sind Alkoholiker. Sie leiden noch immer unter dem Schmerz der Vergangenheit und wurden noch nicht geheilt.

Dies ist meine Geschichte: Als ich vier Jahre alt war, gaben mir mein Vater und Freunde Schnaps und sie schlossen Wetten darüber ab, ob ich sie austrinken könnte oder nicht. Sie gaben mir auch Züge von Marijuana Joints und sahen mir dabei zu wie ich von dem Rauch würgte. Als ich sieben Jahre alt war, haben sich meine Eltern scheiden lassen. Mit acht Jahren war ich bereits abhängig von Marijuana und Alkohol und meine Mutter war wie mein Dealer und Zulieferer. Als ich zwölf Jahre alt wurde, übertrug meine Mutter sämtliche Befugnisse über mich und das alleinige Sorgerecht an eine völlig fremde Person. Sie hat mich im Stich gelassen. Dieser ,,Fremde“ hat mich sexuell, körperlich, psychisch und verbal missbraucht. Ich wurde mit einem Gewehr um das Haus gejagt, weil ich meine Zahnpasta an einen falschen Ort gelegt hatte. Mir wurde ständig gesagt, dass meine Leute, dass Natives, Betrunkene, Verlierer und für nichts gut seien. In Rebellion gegen jeden, sogar gegen Gott, bestand mein Leben darin, vor allem davon zu laufen. Ich benutzte Drogen, Alkohol und Beziehungen, um den Schmerz und die Qual abzutöten. Sie verschwanden nie. Ich habe auch versucht Musik zu benutzen. Die Musik beruhigte einfach mein Herz für eine kurze Zeit. Sie führte zu einem kurzfristigen Entkommen und half mir dabei, dass ich manchmal ein gutes Gefühl hatte. Ich verspürte den Wunsch aufzugeben und dachte oft darüber nach, mich selbst umzubringen; jedoch sorgten Kleinigkeiten dafür, dass ich am Leben festhielt. Einen Schimmer Hoffnung, dass es ‚morgen besser werden könnte, hatte ich noch immer. Ich hatte noch immer einen Traum in meinem Herzen und einen Glauben, dass ich meine Musik benutzen und ein Vorbild für andere werden könnte, die auf eine ähnliche Art und Weise gelitten haben wie ich. Schließlich gab ich mein Herz Jesus und begann eine Reise der Heilung. Sobald ich vom Schmerz der Vergangenheit befreit war, hatte ich das Verlangen, all das anzuwenden, was ich habe, um anderen zu helfen; ganz besonders denen, die sich selbst nicht helfen können, wie die Jugendlichen. Deshalb trommele ich. Deshalb unterrichte ich. Deshalb tanze ich. All dies tue ich zur Ehre Gottes und um zu sehen, wie meine Leute wieder frei werden. Frei, die wundervollen Natives zu sein als die sie geschaffen wurden. Frei, ihre Lieder, den Tanz, die Kultur als einen Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber dem Heiligen, Jesus Christus zu nutzen.

Wären Sie bereit auch in Berlin Musik zu machen, z.B. in einer alkoholfreien Einrichtung?

Wir benötigen noch immer feste Sponsoren für Berlin. Ja, es ist mein Herzenswunsch, einige Konzerte zu geben und unseren indianischen Tanz 2013 in Berlin aufführen zu können. Wenn ihr jemanden kennt, der helfen könnte, unser Team zu sponsern, dann teilt es mir bitte mit.

Was möchten Sie unseren Lesern unbedingt mitteilen?

Als erstes möchte ich mich bei euch für die Liebe bedanken, die ihr unseren Native Americans entgegen bringt. Ich möchte euch mitteilen, dass Ihr von großem Wert seid und dass eure Leute und eure Kultur wundervoll sind. Ich glaube, dass, wenn ihr mit Gruppen wie Broken Walls und Carry the Cure, Inc. zusammenarbeitet, ihr einen Rückgang des Alkohol- und Drogenmissbrauchs sehen werdet. Ihr werdet sehen, wie Familien wieder zusammenkommen. Ihr werdet sehen, wie sich Väter und Mütter ihren Söhnen und Töchtern zuwenden. Ihr werdet Heilung im Herzen und Heilung in eurem Land sehen. Ihr werdet den wahren Segen des Schöpfers erfahren. Ein Tlingit Ältester gab mir dieses besondere Wort und ich gebe es euch. Es lautet „Yoguychakin“ und bedeutet: ,,Halte den Kopf oben, weil es soviel gibt, um dafür zu leben.“

Gunalchess = Danke in Tlingi

TrokkenPresse (die Übersetzung leistete Frau Carmen Kwasny)

Titelthema 05/12: Gestorben und wieder auferstanden

„… gestorben, am 3. Tage wieder auferstanden von den Toten“

13.07.2012: zwei Flaschen guten Calvados gekauft. Ca. 200-250 Psychotiker-Tabletten aus den Packungen gedrückt (Alt-Bestände meiner jetzigen Bekannten).
Eine Handvoll Tabletten genommen und mit einem Wasserglas Calvados runter gespült. Und so weiter. Irgendwann waren zwei Flaschen leer.

Wie ich von den Toten wieder auferstanden bin? Ich weiß es nicht. Ich kam auf der Intensivstation der Charité wieder zu mir. Danach Überführung in die Waldhausklinik.

Wieder versagt, ich lebe noch immer.

Ach ja, mein Name ist Bernd – Spitzname Merlin. Ich bin 62 Jahre alt und Alkoholiker.

Am 17.Dez. 1971 mit 22 Jahren (also ziemlich spät) trank ich den ersten Schluck Alkohol. Dabei blieb es aber nicht. Ich konnte erst aufhören, als ich besinnungslos zusammenbrach. Das war meine Hochzeit mit meiner ersten Frau.
Ich mied den Alkohol und trank nur selten. Wenn aber, konnte ich immer erst dann aufhören, wenn nichts mehr da war (es war bei uns immer genügend Alkohol im Haus) oder ich besinnungslos einschlief.
Ich arbeitete als Chemielaborant und machte in meiner Freizeit viel Sport (Kanadier – Wildwasser paddeln und AiKiDo). Bei den Wildwasserfahrten ging die Flasche natürlich abends am Lagerfeuer rum. Die meisten nippten an der Flasche und reichten sie weiter, ich nahm immer einen großen Zug und reichte sie nur widerwillig weiter.
Nachdem die anderen in ihre Zelte gingen, bewachte ich noch die Glut des Lagerfeuers mit einer Flasche Calvados. Am nächsten Morgen wachte ich meist, von anderen mit meinem Schlafsack zugedeckt und der leeren Flasche neben mir, auf. Ich sprang in den kalten Fluss und wurde schnell wieder klar im Kopf. Dann paddelte ich weiter. Meist ging so eine Paddeltour eine Woche. Paddeln, Lagerfeuer, Calvados, Schlafsack.
Sonst trank ich fast nie. Auf der Arbeit mied ich den Alkohol, und nur zu Festtagen trank ich.
Immer aber bis zur Besinnungslosigkeit. Ich kann nicht aufhören.
So lebte ich ca. 18 Jahre. Mein Alkoholkonsum hielt sich in Grenzen (nur ab und zu mal trinken).
Wenn aber, konnte ich immer erst dann aufhören, wenn nichts mehr da war

Meine Ehe scheiterte daran, dass ich nur an mich und meinen Sport dachte und Frau und Sohn vernachlässigte. Auch die „alkoholfreie Zeit“ wurde schleichend von Jahr zu Jahr weniger. Ich machte meinen Sport und meine Frau ging ins Theater oder verreiste mit unserem Sohn nach Griechenland, Südfrankreich und ich weiß nicht mehr wohin. Wir haben uns auseinander gelebt. Nach ca. 20 Jahren war es dann soweit. Wir ließen uns in Güte scheiden (sie ist wieder verheiratet, schreibt mir aber immer noch zu Weihnachten, Ostern und zum Geburtstag). Mein Sohn hält trotz allem immer noch zu mir (danke!). Doch liebe ich ihn oder kann ich nur mich und den Alkohol lieben? Ich weiß es nicht.

Am 31.August 1990 heiratete ich das zweite Mal. Die Hochzeit verlief wie die erste. Nur diesmal in Polen und mit Wodka. Kennen lernte ich sie auf einer Paddelfahrt in den Masuren (Polen). Sie war meine Dolmetscherin, und ich verliebte mich sofort in sie. Sie war leidenschaftliche Paddlerin, hatte eine schöne Figur, große Brüste und war sehr sozial eingestellt. Sie war in Gdansk (Danzig) in der Solidarnosc und enthusiastische Polin.
Ach ja, als Polin trank sie den Wodka aus Wassergläsern.
Jede freie Minute war ich in Polen. Morgens lieben, dann paddeln, dann Wodka aus Wassergläsern. Das war unser Leben. Kurze Zeit später war ich verheiratet. Sie kam mit mir nach Berlin. Sie wünschte sich ein Kind von mir und sie bekam es (mein zweiter Sohn). Der Alkohol wurde für uns immer wichtiger. Meist wichtiger als das Lieben. Wir tranken aber nur abends. Ich ging weiterhin arbeiten und sie studierte, da ihr polnisches Studium in Deutschland nicht anerkannt wurde. Unser Sohn war tagsüber bei einer Tagesmutter. Er war für mich mein Ein und Alles. Sie litt unter Deutschland. Sie fühlte sich als Mensch zweiter Klasse. Überall hatte sie das Gefühl, dass man sie als „Polin“ verachtete. Besonders wenn sie Alkohol getrunken hatte, sehnte sie sich nach Polen.
Der mittlerweile regelmäßige Alkoholkonsum machte mich aggressiv und ich stritt mich oft mit meiner Frau.

Irgendwann passierte, was passieren musste. Im Alkoholrausch sagte meine Frau während eines Streites: wenn du mich schlagen willst, dann tu es doch. Ich tat es. Am nächsten Tag (nachdem ich von der Arbeit kam), war sie mit meinem Sohn in Polen.
Ich war allein. Nein, ich war nicht ganz allein. Ich kaufte mir eine Kiste Wodka. Ich weinte um meinen Sohn und etwas um meine Frau und trank. Irgendwann schlief ich besinnungslos ein. Da ich eine Woche Urlaub hatte, wiederholte ich mich eine Woche lang. Morgens um ca. 12.00 Uhr aufstehen, Wodka kaufen, saufen, jammern, einschlafen. Sie hat mir meinen Sohn, drei Jahre alt, weggenommen. Nach einer Woche kam sie ohne meinen Sohn wieder. Wir redeten zusammen, wie es weitergehen sollte, und wir wollten es noch einmal versuchen und am nächsten Tag unseren Sohn aus Polen von meiner Schwiegermutter abholen. Meine Stimmung war gut und ich war glücklich, meinen Sohn wiederzubekommen. Wir tranken reichlich Wodka. Die Stimmung kippte.
Sie sagte, sie fahre alleine nach Polen und ich würde meinen Sohn nie wieder sehen. Ich rastete aus.
Am nächsten Tag ging ich arbeiten. Auf der Arbeitsstelle wurde ich von der Polizei verhaftet.
Schwere Vergewaltigung und schwere Körperverletzung, begangen an meiner Ehefrau, waren die Vorwürfe. Sie stimmten. Ich, der ich immer gegen Gewalt, besonders gegen Gewalt gegen Frauen war, habe es im Suff getan. Ich hasste mich dafür und verzweifelte wegen des Verlustes meines Sohnes. Mit Auflagen, mich einmal pro Woche bei der Polizei zu melden, kam ich nach 48 Stunden wieder frei.
Zuhause hatte ich Wodka. Ich trank den Wodka, schnitt mir die Adern auf und ging in die Badewanne. Dort fand mich die Feuerwehr (mein Sohn aus erster Ehe hatte etwas geahnt).

Neun Monate geschlossene Psychiatrie wegen fortgesetzter Suizidalität machten mich neun Monate trocken. Nach neun Monaten sagte ich, dass ich mich nicht mehr umbringen will, und wurde entlassen. Ich packte mir ein Eskimokajak auf mein Wohnmobil und fuhr nach Südfrankreich, an den Atlantik. Ich paddelte los, und als ich kein Land mehr sah, ließ ich mich umkippen. Ein Rettungshubschrauber holte mich raus. Wieder versagt. Ich sagte, es wäre ein Unfall gewesen. Man glaubte mir.

Wieder in Berlin, ging ich arbeiten und trank nach der Arbeit Wodka. Es dauerte nicht lange, und ich war wieder in der Psychiatrie. Man hatte mich mit einer Flasche Wodka im Bauch auf der Autobahn als Fußgänger aufgegriffen.

Nach einem Monat Aufenthalt kam ich raus und wurde krankgeschrieben. Dann kam der Prozess. Anderthalb Jahre auf drei Jahre Bewährung. Meine erste Strafe. Die Scheidung, welche meine Frau einreichte, erfolgte umgehend. Meinen Sohn habe ich bis heute nicht wieder gesehen. Ich wechselte die Gewohnheit. Ich trank keinen Wodka mehr. Ich trank nur noch Wein und Calvados. So lebte ich einige Zeit vor mich hin. Trauer um meinen Sohn, arbeiten, Krankschreibungen, Psychiatrieaufenthalte wechselten sich immer schneller ab. Alkoholmissbrauch war aber in der Psychiatrie nie ein Thema. Es ging immer nur um Suizid wegen meines verlorenen Sohnes. Ich war depressiv und hatte eine narzisstische Bewusstseinsstörung. Manchmal wurde auch Borderline diagnostiziert.

Bei einem meiner Aufenthalte lernte ich eine „Psychotikerin“ kennen. Sie hatte eine kleine Tochter, welche in einer Pflegefamilie untergebracht war. Nach dem Klinikaufenthalt sollte die Frau in eine betreute Wohngemeinschaft ziehen. Aber ohne ihre Tochter. Ich hatte eine große Wohnung und konnte nicht allein leben. Sie brauchte eine Wohnung, um ihre Tochter wiederzubekommen. Sie zog mit ihrer Tochter als Untermieterin bei mir ein.
Ich hatte wieder eine Aufgabe. Ich kümmerte mich um sie und ihre Tochter. Das lenkte mich von meiner Trauer um meinen Sohn ab. Wenn sie einen akuten Schub bekam und für einige Wochen in die Psychiatrie musste, war ich für ihre Tochter da. Ich trank nur noch abends Wein (ca. 2 Flaschen) und ganz selten Calvados. Irgendwann kam die Kleine aus dem Kindergarten nach Hause und sagte: alle haben einen Vater. Ob sie nicht sagen kann, dass ich ihr Vater sei. Ich erklärte ihr, dass die Erwachsenen natürlich wissen, dass ich nicht ihr Vater bin. Wenn sie es trotzdem den anderen Kindern sagen will, hätte ich nichts dagegen. So kam ich zu einer Tochter.

In dieser Zeit wurde ich wegen Taubheit und schwerer Depressionen zum Erwerbsunfähigkeitsrentner. Für mich hatte es einen Vorteil. Ich konnte mich meinem Kanadierwildwasserpaddeln voll hingeben. Dadurch stieg aber auch wieder mein Calvadosverbrauch an.

In einem Paddelverein lernte ich dann besoffen meine jetzige Frau kennen. Eigentlich sollte sie die Freundin meines Freundes werden, doch sie wollte mich. Besoffen wie ich war, war mir das egal. Schnell war ich bereit, mit ihr zusammen zu ziehen und sie zu heiraten. Natürlich besoffen. Die Hochzeitsnacht verbrachte ich wie meine ersten beiden: im Koma. Das war am 31.03.2000. Ich war mittlerweile 50 Jahre alt. Nach der Heirat kauften wir eine Eigentumswohnung. Sie ist Französin. Sie paddelte gerne und liebte mich. Sie trank von den mittlerweile sechs Flaschen Wein am Tag ein Glas, ich den Rest. Den ganzen Rest? Nein, ich achtete darauf, dass ich für den nächsten Morgen immer noch ein Glas voll hatte. Calvados trank ich zwischendurch. Es gab aber immer noch Tage (wenn ich Auto fahren musste), an denen ich nicht trank. Es fiel mir auch noch nicht schwer, mal für ein – zwei Tage keinen Alkohol zu trinken. Ich hatte nie Entzugserscheinungen. Bis heute nicht. Ich war ein Säufer, kein Alkoholiker. Meine Frau ging arbeiten und ich machte den Haushalt und kochte. Außerdem baute ich uns eine Küche, da ich gerne bastelte. Morgens baute ich gut. Mittags nahm ich es mit den Maßen nicht mehr so genau. Nachmittags war mir alles egal. Wein trank ich mittlerweile ab morgens. Wenn abends meine Frau nach Hause kam, hatte sie immer nur gemeckert, mal wegen der Küche, mal weil zu viel Wein im Essen war. Eigentlich meckerte sie immer. Mir war das egal. Ich wollte nur meine Ruhe und meinen Wein. Meine Paddeltouren wurden auch immer weniger. Na ja, ich wurde eben alt.

2007 entschloss ich mich, mir einen Dauercampingplatz an der Ostsee zu suchen. Seitdem bin ich nicht mehr gepaddelt. Die meiste Zeit habe ich dann auf dem Campingplatz verbracht. Hauptsächlich mit saufen. Meine Frau kam mich, wenn sie konnte, besuchen und meckerte an mir herum. Da ich immer Calvados hatte, war ich auch sehr beliebt auf dem Platz. Na ja, wenigstens bei einigen.

Mit meinem Hund, welchen ich mir als Rentner angeschafft hatte, ging ich auch immer weniger spazieren, so dass er sich oft auf dem Stellplatz entleerte.

Am 14. Okt. 2009 war es dann soweit. Nach einem Streit mit meiner Frau, mit der ich am nächsten Tag zum Campingplatz fahren wollte, fuhr ich um vier Uhr morgens mit 1,50 Promille Blutalkohol alleine Richtung Ostsee. Ich wurde gestoppt. Der Führerschein war für neun Monate weg und ich musste insgesamt 5934,53 € zahlen. Noch einmal ca. 2000,- € kamen für Gutachten und Verwaltungskosten hinzu, bis ich den Führerschein nach elf Monaten wieder hatte. Zwischenzeitig hatte ich immer wieder kleinere Verfahren wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, die mich an Suizidversuchen (natürlich immer im Suff) hinderten.

Im Januar 2010 wurde ich dann endlich Alkoholiker.

Zu dieser Zeit musste ich wegen einer Kieferoperation ins Virchow-Krankenhaus. Auf die Frage, wie viel ich so trinke, sagte ich die Wahrheit. Ein freiwilliger Test ergab, dass ich Alkoholiker bin. Das war das erste Mal, dass man das feststellte. Ich akzeptierte und machte drei Wochen später meine erste Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung im Jüdischen Krankenhaus. Zur Anmeldung eine Woche vorher sagte man mir, ich solle auf keinen Fall selber entziehen. Wichtig wäre nur, dass ich komme, egal wie. Das war wie ein Freibrief für mich. Ich war ja durch meine Kieferoperation trocken. Man, habe ich diese Woche gesoffen.

Drei Wochen dauerte die „Behandlung“, anschließend sechs Wochen Nachsorge. Ich ging in eine Selbsthilfegruppe, in der ich schnell um einige Tausend € erleichtert wurde. Dann hatte ich einen Rückfall. Danach ging ich zu den AA. Dort ging es mir von Tag zu Tag nicht besser, sondern schlechter. Mit ihrem spiritistischen Gelaber konnte ich nichts anfangen. Der nächste Rückfall und eine Anzeige wegen Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte folgten dann auch prompt. Wieder einmal Psychiatrie für drei Wochen. Jetzt aber auch als Alkoholiker. Anschließend war ich fast täglich im Internet bei den AA und stolpertrocken. Ich erlebte meine Ehefrau trocken. Ihr ewiges Gemeckere, welches mich besoffen nie störte, und auch ihre Ansichten zu allen möglichen Themen, die ich besoffen nie wahrnahm, gingen mir so sehr auf den Sack, dass ich immer öfter von Trennung redete. Ich wollte mich scheiden lassen. Nüchtern hielt ich sie nicht mehr aus. Im Dezember sagte ich ihr dann, dass ich Anfang Januar zum Anwalt gehe, um die Scheidung einzureichen. Die Scheidung bedeutet viel Geld für sie. Die Eigentumswohnung gehört uns beiden. Da sie in die Rentenversicherung während unserer Ehezeit einzahlte, ist sie mir unterhaltsverpflichtet. All das wusste sie.
Ich war so gut wie trocken (meist).
Am 20. Dezember 2010 wachte ich trocken gegen 10.00 Uhr auf. Ich ging mit dem Hund spazieren und meine Frau ging einkaufen. Als sie vom Einkaufen zurückkam, bastelte ich gerade an unserer Telefonanlage, weil wir Schwierigkeiten mit dem Internet hatten. Meine Frau brachte mir in meiner Kaffeetasse was zu trinken. Ich dachte, es wäre Kaffee. Beim ersten Schluck merkte ich, dass es Wein war. Es war mir egal. Ich trank die Tasse aus. Kurz danach brachte sie zwei Weingläser und fragte, ob ich mit ihr was trinken möchte. Ich wollte. Ich trank immer mehr. Wir hatten auch Sex. Irgendwann bin ich wie üblich beim Sex eingeschlafen. Am nächsten Tag weckte mich die Polizei. Ich soll meine Frau misshandelt und vergewaltigt haben. Sie klang vor der Polizei glaubhaft. Ich war wegen Vergewaltigung vorbestraft. Ich kam in Untersuchungshaft. In der Zwischenzeit ist unsere gemeinsame Wohnung ausgebrannt. Angeblich durch einen Defekt am Kühlschrank, während meine Frau mit unserem Hund eine viertel Stunde spazieren war. Nach 15 Monaten wurde ich schuldig gesprochen. Ein Jahr und sechs Monate bekam ich. Ich wurde aus der Untersuchungshaft entlassen. Ich ging in Revision. Diese läuft zurzeit. Egal, wie die Revision ausgeht, danach werde ich mich hoffentlich als freier Mensch töten. Bis dahin muss ich am Leben und trocken bleiben. Nur trocken kann ich den Prozess gewinnen.

Seit März 2012 bin ich wieder in Freiheit. Ich habe keine eigene Wohnung, wenig Kleidung, eine Gitarre, welche ich mir im Knast durch meinen Sohn besorgen ließ (habe dort etwas spielen gelernt).
Ich bemühte mich, trocken zu bleiben. Es gelang nicht. Am 14.7.2012 kam ich zur Entgiftung und mit ca. 200 Tabletten im Bauch in die Charité und anschließend in die Waldhausklinik. Dort blieb ich bis 16.08.2012. Am 17.08. wurde ich mit einer Flasche Calvados im Bauch und einem Messer, welches ich gegen mich gerichtet hatte, erneut im Waldhaus entgiftet. Während meines Waldhausaufendhaltes lernte ich den AKB kennen.

Am 20.8.2012 wurde ich entlassen. Seitdem gehe ich zum AKB. Ich finde die meisten sehr hart, aber ehrlich. Der Saufdruck ist oft fast unerträglich, doch für einen Tag komme ich bis jetzt ohne Alkohol aus. Manchmal auch nur für einen halben Tag. Immer wieder nur das erste Glas stehen lassen. Immer wieder einen halben Tag, vormittags und nachmittags. Bis heute bin ich seit dem 20.08.2012 trocken. Wie lange ich es schaffen werde, weiß ich nicht.
Am 10.9.2012 habe ich mit der sechswöchigen Tagestherapie beim AKB angefangen. Was wird sie bringen? Wie werde ich es schaffen, trocken zu bleiben? Was wird mit mir geschehen? Ich habe vor der Therapie Angst. Ob ich je weiterschreiben werde, ich weiß es nicht. Ich weiß zurzeit nur eins: die nächsten Stunden bleibt das erste Glas stehen. Immer nur für die nächsten Stunden kann ich Gewissheit haben. Wenn ich zu starke Spannungen verspüre, gehe ich ins AKB-Haus oder wenigstens ins Dock Nord, wo es eine AKB -Gruppe gibt. Durch meine Taubheit verstehe ich nur wenig. Doch das Wenige, was ich verstehe, hilft mir. Es geht mir zurzeit nicht gut. Es gibt so viele??? .

Ich bin z. Z. im AKB-Haus.

Ich fühle mich geborgen unter Menschen, die auch um die Trockenheit kämpfen, viele schon über Jahre.

Bernd

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Titelthema 04/12: Recht aufs Scheitern oder Recht auf Hilfe?

Recht auf Scheitern oder Recht auf Hilfe?

Wer ist verantwortlich, wenn suchtkranke Menschen ihr Leben in den Sand setzen?

Von Martin Reker *

Als Arzt im Suchtbereich einer psychiatrischen Klinik habe ich häufig mit Menschen zu tun, die Hartz-IV-Empfänger sind oder die sonst eher zu den Gescheiterten in unserem Staatswesen gehören. Unsere Klienten sind eben nicht nur suchtkrank, sie sind auch oft arbeitslos, haben wenig finanzielle Mittel, wenig Kontakt zu Menschen ohne Suchtproblematik, schlechten Kontakt zur eigenen Familie und häufiger als in der Normalbevölkerung auch Ärger mit der Justiz.

Selbst schuld?

Eigentlich dürfen sie sich darüber nicht beschweren: Wenn ich in meiner oberärztlichen Rolle auf die Station komme und sehe sie dort sitzen, unsere Patienten, dann kenne ich ihre Geschichten nur zu gut. Sie haben in der Trinkphase unentschuldigt am Arbeitsplatz gefehlt, sie sind angetrunken Auto gefahren, manche haben unter Suchtmitteleinfluss ihre Familien schlecht behandelt oder ihr Geld verschleudert.

Wenn ich sie nun alle so vor mir sitzen sehe, da frage ich mich: Was geht mich das an? Und da ich – wie viele andere – zunächst ein Vertreter des Selbstverantwortungsprinzips bin, würde ich sagen: Für diese Situation sind die Patienten selbst verantwortlich. Hätten sie sich an entscheidender Stelle anders verhalten, ihre Situation wäre heute vermutlich anders.
Wenn ich mich nun meinem eigentlichen Arbeitsauftrag, der Suchttherapie, zuwende, so begegne ich als Arzt einem ganz eigentümlichen Arbeitsfeld. Ich habe in meinen frühen Berufsjahren mit Epilepsiekranken gearbeitet. In diesem Arbeitsfeld haben Medikamente einen sehr hohen Stellenwert. Die Patienten wurden in unser Epilepsiezentrum nach Bethel eingewiesen. Unsere Aufgabe war es, die richtigen Medikamente zu finden, und wenn alles gut lief, bekamen die Patienten neue Medikamente, und die Anfälle waren weg.

Nicht „wollen können“

Bei Suchtpatienten ist das irgendwie anders. Die Aussicht, über eine Tablette die Krankheit dauerhaft zu heilen, habe ich nicht. Wenn ich mir meine chronischen Patienten ansehe und sie frage, warum sie wieder angefangen haben zu trinken, dann haben sie immer einen Grund: trinkende Freunde, Langeweile, Kränkungen, seelische und körperliche Schmerzen, Misserfolge, Schlaflosigkeit. Einige sind dabei, die haben schwer mit ihrem Suchtdruck gekämpft, haben versucht durchzuhalten, und sind dann in einem schwachen Moment eingeknickt. Aber bei den meisten bin ich unsicher, ob sie eigentlich überhaupt mit dem Suchtmittelkonsum aufhören wollen. Oder können? Oder wollen können? Können sie nicht, oder wollen sie nicht? Oder können sie es nicht wollen?

Ich denke inzwischen, dass die meisten es nicht wollen können, und meine Aufgabe wäre es, ihnen zu zeigen, wie man es schaffen kann, anders können zu wollen. Um Ihnen besser verständlich zu machen, was ich meine, möchte ich Ihnen ein Beispiel berichten:

Herr W. ist 44 Jahre alt. Er ist bei seinen Eltern zusammen mit seinem drei Jahre älteren Bruder aufgewachsen. Der Vater, ein strenger, aber nicht bösartiger Mann, hat früher auch schon zu viel getrunken, war deswegen aber nie in Behandlung. Er selbst hat das Trinken bei der Bundeswehr angefangen. Da haben sie abends und am Wochenende immer gesoffen. Bei einer Wochenendtour mit drei Freunden sind sie dann auf dem Weg zurück von der Disko schwer verunglückt, sein bester Freund, der einzige Sohn der Nachbarsfamilie, ist dabei gestorben. Unser Patient hatte auf dem Beifahrersitz gesessen, der Fahrer war angetrunken, alle anderen auch. Nach der Bundeswehr hatte er eine Lehre als Dachdecker gemacht. Er war auch ein guter Dachdecker. Aber als er das zweite Mal morgens mit einer, „Fahne“ am Arbeitsplatz erschienen war, wollte sein Chef ihn nicht weiter beschäftigen. Dabei hatte er morgens gar nicht mehr getrunken. Er feierte eben nur gerne. Seit dieser Zeit wechselten sich gute und schlechte Zeiten ab. Während der Arbeit hatte er nie getrunken, nur abends und am Wochenende. In den letzten Jahren hatte er – in Zeiten der Arbeitslosigkeit – auch angefangen, tagsüber zu trinken. Er hatte auch nur noch Arbeit bei Zeitarbeitsfirmen gefunden. Nachdem er aber vor vier Jahren seinen Führerschein bei einer Trunkenheitsfahrt verloren hatte, war es für ihn sehr mühsam, die oft weiter entfernten Baustellen zu erreichen, die ihm vermittelt wurden. Er fühlte sich auch nicht mehr so belastbar wie früher. Seine Frau, die er vor zehn Jahren auf einem Schützenfest kennen gelernt hatte, hatte letztes Jahr jemand anderes kennen gelernt und ihn mit der gemeinsamen, nun sechsjährigen Tochter verlassen. Nun war er nach einem Treppensturz über die Notfallambulanz erstmals auf einer Entgiftungsstation gelandet. Eigentlich konnte er sich nicht vorstellen, dass er da schon hingehört. Er wäre lieber auf die allgemeinmedizinischen Station gekommen.

Im Gespräch wird schnell deutlich, dass der Mann kein Sympathieträger ist. Er wirkt eher etwas mürrisch, schon die Kontaktaufnahme fällt schwer. Seinen Händen sieht man an, dass er auch schwer arbeiten kann, sein Gesicht und sein Bauch geben schon vor der körperlichen Untersuchung Hinweise darauf, dass er über viele Jahre viel gesoffen und geraucht hat.

Das Gespräch mit ihm macht deutlich, dass er nicht besonders abstinenzmotiviert ist. Arbeit hat ihn immer vom Trinken abgehalten, auch die Anwesenheit seiner früheren Ehefrau. Aber schon wenn er abends alleine zu Hause ist, weiß er gar nichts mit sich anzufangen, außer Bier zu trinken, mit Leuten zusammen zu trinken, Karten zu spielen oder fernzusehen. Bundesliga am besten. Er ist Werder-Fan. Ein Leben ohne Alkohol kann er sich nicht vorstellen. Er hat es nie erlebt, wenigstens nicht als Erwachsener. Auch nicht bei seinem Vater. Abends Bier zu trinken ist für ihn so normal wie Toast zum Frühstück oder Seife beim Händewaschen.

Kommen wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: Wie kann dieser Mensch aufhören wollen? Will man ihn wegen seiner Alkoholproblematik behandeln, müsste man ihn zunächst dafür gewinnen, eine Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung gegen den Alkohol. Sonst braucht man mit der Behandlung gar nicht erst anzufangen.

Im Gespräch zeigt sich schnell: Eine dauerhafte Abstinenz ist für unseren Patienten völlig unvorstellbar. Dennoch merken Sie vielleicht, dass Sie durch Ihre respektvolle Art, um die Sie sich auch hier bemüht haben, einen Draht zu ihm bekommen haben, und er erklärt sich schließlich bereit, wenigstens eine gewisse Zeit einmal auf Alkohol zu verzichten. Sie einigen sich nach kurzen Verhandlungen auf vier Wochen. Eine längere Dauer kann er sich nicht vorstellen. Aber die vier Wochen meint er offenbar ernst. Aber dann fragt er Sie: Was soll ich in den vier Wochen mit meiner Zeit machen? Auf diese Frage sind Sie vielleicht nicht so gut vorbereitet. Eine Langzeittherapie wäre vermutlich das Beste. Das kann er sich aber nicht vorstellen, und eigentlich ist er ja auch gar nicht sicher abstinenzmotiviert. Arbeit oder irgendeine Beschäftigung würde sicher etwas helfen, aber er will nicht jede Arbeit machen, und er will Geld dabei verdienen. Das ist so kurzfristig kaum zu machen. Sie erfahren in einem ausführlicheren Gespräch davon, dass er früher gerne geangelt hat und dass irgendwo auch noch ein Freund von ihm sitzt, der kein Alkoholproblem hat, mit dem er früher immer an den Forellenteich gefahren ist. Sie können ihn schließlich motivieren, die Anschrift herauszusuchen, Kontakt zum Freund aufzunehmen und sich mit ihm zu verabreden. An diesem Punkt sind Sie vielleicht etwas erleichtert, dass Sie in dieser schwierigen Situation doch noch einen konstruktiven Anknüpfungspunkt gefunden haben, aber das war auch sehr aufwendig und mühsam. Und Sie merken vielleicht auch: Eigentlich müsste ich da jetzt dranbleiben, das ist noch kein Selbstläufer. Und so bestellen Sie ihn für eine Woche später noch einmal ein.

Als er aus der Tür raus ist, fragen Sie sich: War das jetzt Suchttherapie? Eigentlich haben Sie mit Ihrem Klienten eine geschlagene Stunde darüber diskutiert, was er mit seinem unbeschäftigten Tag anfangen kann. Aber wenn es wieder gut laufen soll, dann braucht unser Patient mehr als seinen Freund zum Angeln. Das ist ein guter Anfang. Aber er brauchte auch wieder eine Arbeit, er brauchte wieder eine Partnerin, man müsste ihm bei der Schuldenregulierung helfen und ihn körperlich wieder etwas aufbauen. Ein großes Projekt. Lohnt sich das? Hat er das verdient? Hat er nicht selbst sein Leben in den Sand gesetzt?

Das Recht auf Scheitern

Dass man das unterschiedlich sehen kann, erfährt man am eindrücklichsten, wenn man etwas in der Welt unterwegs ist. Zum Beispiel in den USA. In den USA würde vermutlich kaum jemand auf die Idee kommen, sich hier psychosozial zu engagieren. Der amerikanische Journalist Glenn Beck des US-Fernsehsenders Fox sprach in diesem Zusammenhang von einem „Recht auf Scheitern“.

Wer alternative Vorstellungen von Gesundheit und sozialer Verantwortung kennen lernen möchte, kann interessante Anregungen aus der aktuellen amerikanischen Debatte um die Reform des dortigen Gesundheitswesens mitnehmen. Aus der deutschen Perspektive bleibt völlig unverständlich, warum es einen so großen Widerstand aus bestimmten Kreisen der Politik und Bevölkerung dagegen gibt, dass für alle eine umfassende Gesundheitsversicherung eingeführt wird. Ist es denen egal, wenn ärmere Menschen unversichert und damit bei Krankheit gegebenenfalls unbehandelt bleiben? Tatsächlich muss man eigene Vorstellungen und Weltbilder beiseitelegen und mit Interesse und Neugier auf die Haltung dieser Amerikaner zugehen, um sich das verständlich zu machen. Freiheit bedeutet für diese vor allem, dass es so wenig Staat wie möglich geben sollte, der regulierend in das Leben der Bürger eingreift. Viele meinen sogar, dass man außer für die Verteidigung eigentlich überhaupt keinen Staat brauchte. Alles andere kann man selbst untereinander regeln. Umgekehrt bedeutet diese Form von Freiheit, dass jedem in diesem Sinne freien Amerikaner ein hohes Maß an Selbstverantwortung zugeschrieben wird. Jeder soll die Möglichkeit haben, was aus seinem eigenen Leben zu machen, unabhängig von Herkunft und Religion. So kann jeder vom Tellerwäscher zum Millionär werden, aber jeder kann natürlich auch scheitern. Wenn man reich wird durch eigene Arbeit, wird einem das niemand neiden, ganz im Gegenteil: Viel Geld zu haben ist ein Indikator dafür, dass man aus seinem Leben was gemacht hat. Man kann stolz darauf sein und darf das nach außen zeigen. Wer aber scheitert, darf sich nicht beklagen. Die Gesellschaft ist nicht dafür zuständig, allgemeine Lebensrisiken abzudecken. Dafür ist jeder selbst verantwortlich. In der Chance, zum Millionär zu werden, steckt auch das Risiko, daran zu scheitern. Das muss nicht ehrenrührig sein. Aber es gibt keinen sozialen Anspruch auf Hilfe. Für die Konsequenzen des eigenen Handelns ist man selbst verantwortlich. Es gibt das Recht, sehr reich zu werden (niemand hielte das für „ungerecht“), aber es gibt auch das Recht, zu scheitern.

Recht auf Krankheit

Polarisiert man diese amerikanische Position mit der deutschen, so könnte man in Deutschland – und manche tun das – von einer Vollkaskogesellschaft sprechen. Egal, wie riskant man sich verhält, am Ende wird immer die Gemeinschaft mit ihren sozialen Sicherungssystemen einspringen, um die heftigsten Konsequenzen des Scheiterns abzufangen. Ich kann mir beim Free Climbing an der Felswand das Rückgrat brechen, ich kann meine Firma in den Sand setzen, ich kann saufen und rauchen, wie ich will, immer springt am Ende der Wohlfahrtsstaat ein und finanziert meine medizinische Behandlung oder finanziert mir die Existenzgrundlage. Behandelt, gefüttert und beherbergt wird jeder auf Kosten der sozialen Sicherungssysteme.
In Deutschland spricht man in der Regel weniger vom Recht auf Scheitern, sondern vom Recht auf Krankheit. Im Jahre 2000 hat das Bundesverfassungsgericht einem psychosekranken Menschen mit schweren rezidivierenden psychotischen Phasen zugebilligt, dass ihn in gesunden Intervallen niemand zwingen darf, neuroleptische Medikamente zur Psychoseprophylaxe einzunehmen, selbst wenn das einen chronisch rezidivierenden Verlauf stabilisieren könnte. Solange er überschaut, was er tut, und einen freien Willen hat, darf er laut Grundgesetz krank werden, wenn er das nicht verhindern will. Was in diesem Kontext meist nicht diskutiert wird, ist die Frage, wer dafür haftet. Jeder psychisch Kranke kann immer wieder seine Medikamente absetzen, jeder Suchtkranke nach jeder Entgiftung immer wieder gleich rückfällig werden, ohne dass er bei der Finanzierung der Folgebehandlung dafür in Haftung genommen würde.

Das Grundrecht, krank zu sein bzw. zu bleiben, und die Frage, wer dafür haften muss, wenn ich mich der Krankheit widerstandslos hingebe, sind eigentlich zwei Fragen. Kostenträger unternehmen immer mal wieder einen Anlauf, um kranke Menschen stärker für ein krank machendes Verhalten verantwortlich zu machen, sehen sich aber in der Regel einer geschlossenen Front gerade aus dem psychosozialen Bereich gegenüber, die die Einführung des Schuldprinzips in der Refinanzierung des Gesundheitssystems unmöglich finden. Tatsächlich würde sich unsere Gesellschaft radikal verändern, wenn bei jeder auftretenden Erkrankung gefragt würde, was die einzelne Person versäumt hat, um sich die Gesundheit zu erhalten. Übermäßiges Essen, Alkohol und Rauchen, mangelnde Bewegung oder Risikosportarten könnten dann eine Begründung sein, warum eine Krankenversicherung eine vollständige Kostenübernahme der Behandlung einer Folgeerkrankung ablehnt. Ob wir uns das wünschen wollen?
Letztlich geht es um die Frage, wer der Maßstab für die gesellschaftlichen Verabredungen ist: die Starken oder die Schwachen. Die Idee vom Recht auf Scheitern ist meistens eine Idee der Starken, derer, die davon ausgehen, dass sie im Leben erfolgreich sein werden. Der Starke hat oft wenig Verständnis für den Schwachen, es sei denn, ihm/ihr wäre ein echtes, d.h. schicksalhaftes und unverschuldetes Unglück zugestoßen. […] Aber wer einfach nichts schafft, kann auch keine Ansprüche an die Gemeinschaft stellen.

Dem steht die Idee von der Menschenwürde aller Menschen gegenüber. Menschenwürde bedeutet, dass jeder Mensch, egal, wie faul und kriminell er oder sie ist, ein Recht auf eine menschenwürdige Unterkunft, auf menschenwürdige Kleidung und auf menschenwürdige Ernährung hat, auch auf einen respektvollen Umgang. Diese existenzielle Grundsicherung ist im deutschen Sozialstaat gegeben. Manche nennen es die „soziale Hängematte“. Die Amerikaner nennen es, ja, Sozialismus. Sie meinen damit nicht den Sozialismus Marx’scher oder sowjetischer Prägung, sondern die staatliche soziale Fürsorge, die ihren Anspruch allein in der staatlich garantierten Menschenwürde hat.

Ich bin froh, dass ich in Deutschland leben darf. Ich möchte hier keine amerikanischen Verhältnisse. Psychisch Kranke, die in der Bronx rumvegetieren, weil sie keinen öffentlichen Hilfeanspruch haben. Strafgefangene, die in den Haftanstalten wie Tiere gehalten werden. Privatisierte Abschiebeknäste. Dabei sitzt niemand von ihnen umsonst.

Mag sein, dass die Justiz manchmal zu lasch ist. Aber ich mag das Prinzip, immer wieder das Positive im Menschen entdecken zu wollen, um das zu fördern und weiterzuentwickeln. Chancen sehen. Die Sozialarbeiter nennen das wohl „Ressourcenorientierung“. In der Arbeitsmarktpolitik hat sich die Formel vom „Fördern und Fordern“ etabliert.

Fehlverhalten braucht Konsequenzen. Gleichzeitig ist niemand nur böse. Es kommt darauf an, die Ressourcen in einer Person zu erkennen und sie weiterzuentwickeln. Gesellschaft muss dann so organisiert sein, dass es sich auch lohnt, sich anzustrengen und sich „anständig“ zu verhalten. Und so muss nach meiner Überzeugung auch der Umgang mit suchtkranken Menschen angelegt sein. Es gehört zur Würde des Menschen, dass es immer noch eine letzte Chance geben sollte, das Blatt doch noch einmal zu wenden.

Was immer sie von biblischen Gleichnissen halten. Ich bin damit groß geworden. Ich mochte immer schon das Gleichnis vom verlorenen Sohn: Und wenn einer von „unseren“ Systemsprengern, einer von den kaputten Typen hier aus der Fußgängerzone, an dessen Chance man nicht mehr geglaubt hat, noch einmal die Kurve kriegt und es dann auch hinbekommt, ist das toll.

Die Möglichkeit, dass das gelingen kann, sollte man nie aus dem Auge verlieren. Manche sehen eher die Chancen, andere sehen eher die Gefahren und die Risiken. Ich sehe eher die Chancen und fahre gut damit. Nach zwanzig Jahren Arbeit mit chronisch Suchtkranken.

Es gibt kein Recht auf Scheitern. Nicht deswegen, weil Scheitern in Deutschland verboten wäre. Jeder „darf“ auch scheitern. Aber jeder soll darauf hoffen, vielleicht sogar sich darauf verlassen können, dass es noch einmal eine neue Chance gibt. Immer.

 

* Dr. Martin Reker, Psychiater und Psychotherapeut, ist leitender Arzt der Abteilung Abhängigkeitskranke der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel.

Der Abdruck erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Zeitschrift „SOZIALE PSYCHIATRIE“

 

 

 

 

 

 

Titelthema 03/12: Wie ein Musiker auf den Hund kam und der Hund ihn rettete

Wie ein Musiker auf den Alkohol kam und dann auf den Hund und wie der Hund ihn gerettet hat

Interview mit dem Musiker M.T. zum Überleben mehrerer Entgiftungen, zum Rollstuhl und zum Alkoholtod der Freundin

Kein Märchen, aber ein Wunder

 

Sie haben einen Hund, der ihnen wohl das Leben gerettet hat.
Das kann man so sagen.

 Wo kommt der Hund her?
Der Hund ist jetzt gerade vier Jahre alt geworden, am 30. April. Wir wussten es damals nicht genau, die Claudia und ich, ob es nun der 29. oder 30. April oder der 1. Mai war, da haben wir einfach den Geburtstag von Claudia genommen, den 30.4 .. Claudia war über so eine Regionalzeitung auf ihn gekommen, da wurde er angeboten. Wir wollten unbedingt einen Tricoloreterrier haben, Jack-Russel-Terrier, also weiß-schwarz-braun und das war der einzige im Hof. Auf der Rückfahrt dachte ich mir: ,,Mensch ick bin ma gespannt wie lange der hier so ruhig in meinem Arm liegt und wann er anfängt zu jaulen“, weil seine Mama und seine anderen Geschwister nicht da waren. Nö, im Gegenteil, der fühlte sich vom ersten Moment an pudelwohl und wurde gleich aufgenommen in der Familie. Ganz toll, keen Gejammer keen nix.

Irgendwann mal gehörte der Hund ja plötzlich ihnen allein, was war da eigentlich passiert?
Das ging so: Zuerst lief es ungefähr ein halbes Jahr ganz gut, bis wir beide wieder dem Alkohol zugeneigt waren, in der Meinung wir hätten den im Griff. Und das haben wir beide wirklich gedacht. Obwohl, ganz im Inneren muss ich dazu sagen, ist bei mir die Rote Lampe angegangen. Wir hatten schon auf einem Segelboot die ersten Radler getrunken und spätestens da habe ich gemerkt, das geht den Bach runter. Das ist heute mein Problem, dass ich damals schon nicht eingegriffen habe, weil ich sie innerlich schon gehört habe, die Glocke, ganz doll, und ich habe auch dieses Rote Licht gesehen: So jeht det nich, so jeht det nich und det hab ick irgendwie wohl wieder weggeschoben. Noch mit der Meinung, det krieg ich schon hin, ach det ist ja nur … dann hör ick wieder uff … Ja, aber das klappte nicht.

Und wie ging es dann weiter?
Wir haben dann eine ganze Weile dieses Bier getrunken. Aber das schmeckte furchtbar und wir konnten das nicht mehr sehen, uns wurde nur noch schlecht davon und wir mussten immer mehr trinken, denn im Radler sind ja nur 0,3 Promille drin. Also das ist ganz wenig und so mussten wir das immer höher schrauben und schließlich haben wir uns einfach wieder Bier gekauft. Und dann haben wir eine ganze Weile Bier getrunken und hätten das mal dabei belassen sollen, das ist heute meine Meinung. Meine liebe verstorbene Claudia, ich hoffe ich sag jetzt nicht falsches, aber ich glaube sie hat schon, hat wesentlich früher Schnaps getrunken und das hat ihr Wesen mächtig verändert. Zunehmend erschreckend und ich konnte mir dies nicht erklären. Es konnte ja nicht nur das Bier sein.

Wir hatten damals die beiden Eltern mit ins Haus genommen und haben die dann dort gepflegt, in einem extra Appartement. Das war dort so geplant und eingebaut worden. Am Anfang ging es recht gut, aber der Vater wurde immer mehr dement. Ich übernahm den Vater, waschen und rasieren und Fingernägel, was weiß ich. Die Mutter übernahm Claudia. Und diese Frau, ihre Mutter, Margot, die brauchte jeden Abend einen Schnaps, und zwar einen doppelten oder dreifachen, so eine kleine Flasche. Die war schon richtig eklig, aber na gut, die wollte immer die gleiche haben und die musste ihr jemand geben, alleine war sie nicht in der Lage. Und sie hat rumkrakeelt, wenn es keinen Schnaps gab, wenn wir den vergessen hatten. Und den hat Claudia dann abends ihrer Mutter hingestellt und ich bin mir sicher, dass sie auch selber davon genippt hat. Beide hatten wir mehrere Entgiftungen und ich musste sogar einige Male eine Entgiftung abbrechen nach drei, vier Tagen, weil die Claudia so ausgeklinkt war. Ich war wohl der einzige der da die ganze Sache noch einigermaßen am Leben erhalten hat. Es ging ja auch um Mietverträge und enorme Summen, die ich zu verwalten hatte und ich habe das noch so ein bisschen gemanagt. Weil sie völlig durchgedreht mit dem Schnaps war, bin ich vorzeitig aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen und dann ist sie zack abgehauen ins Krankenhaus. Und diese Situationen mit dem Alkohol waren in den letzten zwei Jahren der absolute Oberhorror. Dann haben wir eines Tages beschlossen nach Berlin zu fahren. Alle Entgiftungen in Kyritz und wo ich überall war, haben es doch nicht gebracht, weil, entweder war ich zu besoffen oder sie war weiterhin betrunken. Und das geht ja nicht, wenn Du frisch aus der Klinik nach Haus kommst und die andere Dame oder der Partner ist sturzbetrunken. Das geht überhaupt nicht. Dann haben wir beschlossen nach Berlin zu fahren, in Berlin Entgiftung zu machen.

Und jetzt komme ich auf den Tod. Wir hatten einen Hausfreund eingeladen aus Berlin: „Udo komm mal, uns geht’s schlecht, wir müssen hier weg.“ Und der kam auch prompt und hat uns zwei Wackelköppe und Wackelbeine, wir konnten uns ja nicht bewegen, irgendwie untergehakt, sonst wären wir umgekippt. Und anstatt ins AVK, sind wir in die Charité nach Steglitz gefahren. Das ehemalige Steglitzer Krankenhaus gehört jetzt der Charité. Wir wollten uns dort entgiften lassen. Resultat: wir wurden eine dreiviertel Stunde in der Aufnahme von irgendeinem kleinen Doktor mit Schwester ausgefragt über unsere Karriere. Über Alkohol, Entgiftung, wie oft und wo und wie und wat und warum und dann kam der Schlusssatz: ,,Wir haben keine Plätze für Sie.“ Da ist Claudia schon wieder ausfallend geworden, der Alkoholspiegel ging runter und sie fing an zu zittern und kriegte schlechte Laune und Angst. Letztendlich hat der Arzt uns beide abgewiesen, hat der Krankenschwester Bescheid gesagt und, dass sie uns zwei große doppelte Wodka bringen soll. Das haben die wirklich gemacht und dann haben die uns nach Hause geschickt. Und unser Freund Udo brachte uns nach Hause nach Schöneberg und ging vorher noch in den Einkaufsladen und kaufte noch mehrere Starkbiere und zwei Flaschen Korn, Doppelkorn. Und die haben wir dann eine Woche vor Weihnachten zuhause alle ausgetrunken. Und wir hatten auch eine Hausmeisterin, und der sagte Claudia – natürlich wieder eine geniale Idee von ihr, wie immer – sie soll Schnaps besorgen und hat die einfach angerufen, ihr Geld gegeben und die brachte dann den Schnaps. Ich war davon betrunken und so durcheinander im Kopp, dass ich immer nur so blitzartig wach wurde, einen kurzen Moment, dann um mich geguckt und dann war ich wieder weg. Und ich habe es auch nicht mehr zur Toilette geschafft und Claudia muss da irgendwo herumgegeistert sein, Taxifahrer angerufen, um mit ihrem Ditschkopf zum Vater ins Altersheim zu fahren. Ganz irre Sachen hat sie sich da vorgestellt, hat Geld abheben lassen. Einmal ist wohl die Polizei in der Wohnung gewesen, keine Ahnung, habe nichts mitbekommen. Ich weiß nur, dass ich eines Tages gesehen habe wie Claudia sich endlich hingelegt hatte. Die hatte vorher drei, vier Tage nur ganz laut immer den gleichen Satz gesagt: ,,Wir müssen doch was machen, der Hund muss raus“, richtig laut, immer diesen selben Satz und die Leute haben schon an die Wände geknallt, nachts um halb vier! Und ich habe immer nur gesagt:“ hör endlich auf, hör endlich auf“, in riesiger Lautstärke in dem Neubau und alle klopften an die Wände und an die Tür und das Telefon klingelte. Und dann habe ich in einem hellen Moment gesehen, dass Claudia auf der Erde lag, warum sie sich nicht aufs Bett gelegt hat, weiß ich nicht. Ich hab ihr das noch gesagt, aber sie hat sich nicht dran gehalten, vielleicht war die Heizung da wärmer, ich weiß es nicht. Und dann lag sie da, hat den Kopf hingelegt, sich mit der Decke zugedeckt und hat geschlafen. Und ich habe mir gedacht, Gott sei Dank, die Frau schläft endlich, die hat ja ewig nicht geschlafen, ist ja immer rumgegeistert, dachte ich, die schläft jetzt endlich, bin ich froh! Ich bin ja dann gleich wieder eingeschlafen. Im Endeffekt war es so, dass die Frau weiter ruhig war. Ich dachte, die schläft noch, hat sich noch mal Schnaps besorgen lassen. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich noch irgendwas getrunken und ich habe die Claudia noch mal angefasst: Und da war die schon zwei Tage tot gewesen! Man sagte mir später, die wird mit aller Wahrscheinlichkeit an Atemlähmung gestorben sein. Vier Promille, glaube ich, ist für eine Frau tödlich. Wir Männer vertragen da ja irgendwie mehr. Und sie hat sich hingelegt, ist eingeschlafen und war dann gleich weg. Ja dann kam die Feuerwehr nach den zwei Tagen.

Ich war von oben bis unten voller Pisse und Kot und das ganze Gesicht war auf gekratzt, voll mit Pickeln und Eiterbeulen und ich sah gruselig aus, nicht zum Aushalten. Ich habe überlebt, noch ein Tag länger und ich wäre auch tot gewesen, das glaube ich.

Und dann kam ich ins Krankenhaus, ins AVK, kann ich nur jedem empfehlen, Station 17, sehr gute Leute. Und da haben sie mich aufgepäppelt und es liefen am ersten Tag ein paar Wetten zwischen den Pflegern und Pflegerinnen, ob ich die Nacht schaffe oder nicht und der Dicke hat wohl die Wette verloren, fünf Euro. Ja, da blieb ich dann über Weihnachten, Neujahr, den ganzen Januar und ich glaube noch den halben Februar und der Hund parkte in der Zeit bei unserer ehemaligen Hauswartsfrau. Im Krankenhaus war das nicht nur schön, das war richtig Horror, ich konnte nicht mehr laufen. Ich musste im Rollstuhl gefahren werden. Das war alles ganz schrecklich, der Oberhorror. Ich hätte nicht gedacht, dass ich da rauskomme. Dort habe ich festgestellt, dass man die Scheiben nicht ohne Grund nicht aufmachen kann, sondern nur kippen. Sonst hätte ich mir vielleicht was angetan. Alle haben sich sehr bemüht um mich, große Dankbarkeit.

Als ich nach Hause gekommen bin, hatte ich natürlich noch immer die große Trauer, aber mein kleiner Knirps war da, der kleine Bongo und der hat mir wirklich, wirklich Halt gegeben.

Der saß da so und hat sich irre gefreut, dass er mich wieder gesehen hat.

Die Hauswartfrau hat schon damals gesagt: ,,Ist ja gut, dass Sie endlich kommen, denn Bongo freut sich wie verrückt, wenn Sie wieder hier sind“.

Der hat mir wirklich das Leben gerettet, der Kleine: „Kümmer Dich mal, ich muss Essen haben, ich will raus und ich will spielen, ich bin noch ganz jung!“ Und das habe ich dann auch alles gemacht. Der Hund hat mich in Beschlag genommen. Mir ging es nach wie vor sehr schlecht. Ich bin ja länger im Krankenhaus geblieben, als die das prognostiziert haben. Nun hatte ich eine kleine Aufgabe. Wie gesagt, der musste verpflegt werden. Der wollte spielen, der Hund, wollte raus und ich kam unter Leute, ob ich wollte oder nicht. Der Hund hat mir das Leben gerettet, auch dieser Hundeplatz. Wenn ich keinen Hund gehabt hätte, hätte ich die Leute da nicht kennengelernt.

Ich habe Freunde gefunden, die mir ans Herz gewachsen sind. Und ja, zwei drei Leute habe ich so kennengelernt, die ganz dufte sind und mit denen ich gut in Kontakt bin, nach wie vor.

Warum beißt der Hund Bongo?
Der Hund heißt Bongo, weil ich Musiker war – nicht nur Kraftfahrer – mit Leib und Seele Musiker. Ich habe alles gespielt was klappert und schön klingt und dem Rhythmus verfallen ist: Schlagzeug, Sehellenringe, Kongas und die Bongos natürlich und davon kommt sein Name und jetzt heißt er Bongo…

Der Name passt ganz toll zu ihm und die Leute lachen, wenn der Bongo kommt, weil er so furchtbar niedlich aussieht. Meine größte Angst war, dass sie mir den mal klauen, weil er so hübsch ist.

Kennt der Hund ihre Gedanken und Gefühle?
Einwandfrei!

Und umgekehrt?
Nicht unbedingt. – Ich wohne jetzt seit zwei Jahren in Schöneberg und das ist meine und Bongos Wohnung. Bongo wohnt eigentlich bei mir, mir ist aber manchmal so, als ob ich bei ihm wohne. Er kontrolliert mich auf Schritt und Tritt: Was ich mache, ob ich in die Küche gehe oder ins Grüne Zimmer, dann ist er da. Gehe ich in den Flur, ist er da, gehe ich ins Bad, ist er da. Nur aus der Küche hält er sich raus.

Würden sie ohne Bongo verreisen?
Nein.

Was hat sich eigentlich geändert, nachdem sie mit Unterstützung von Bongo weitergelebt haben?
Ich war ja in einer ganz schlimmen Verfassung im Jahr 2010.

Sie haben mal erzählt, es gab ,,Hundebekanntschaften“ …
Das wollte ich gerade sagen. Die waren genauso wichtig und nach einer Weile, wenn man auf dem Hundeplatz ist, kennt man sich. Man wird angesprochen: ,,Na wie heißt denn der Hund?“ und so. Und da war dann eine liebe Frau dabei. Wir konnten uns vom ersten Moment an gut leiden und dann stellte sich nach einem halben Jahr so raus, dass wir uns doch sehr sympathisch finden und, kurz gesagt, dann wurde es ernst. Sie ist Rechtsanwältin. Ich wurde angezeigt und brauchte also eine Rechtsanwältin. Weil ich alleine war und nach wie vor zu nichts in der Lage – ich habe ja immer noch leicht gezittert, ganz schlecht geschlafen und war immer noch sehr labil – habe ich allen meinen Bekannten Telefonnummern gegeben: „Wenn ich nicht mehr anrufe oder nicht mehr da bin – dann sofort kommen!“

Und die hat mir dann geholfen, die liebe Frau.

Hat die Entwicklung Ihrer Alkoholabhängigkeit was mit der Musik zu tun gehabt, also wurde vor oder nach den Auftritten Alkohol konsumiert oder nicht?
Es wurde konsumiert. Den Kopf kann man ja nicht abstellen. Ich bin soweit zurückgegangen mit meinem Alkoholgedächtnis, weil ich kieken wollte, wann es losgegangen ist. Das war schon Mitte 70, Ende 70.

Spielt man unter Alkohol besser oder schlechter? Oder anders?
Man spielt letztendlich schlechter. Wenn man aber ein geübter Trinker ist wie ich, kann man das wegstecken. Ich war damals 25. Da habe ich mich morgens einmal geschüttelt und dann waren die Kopfschmerzen alle wieder weg. Im Bierhaus am Theodor-Heuss-Platz, da habe ich das Saufen gelernt, weil ich dreimal die Woche abends gespielt habe und Bier war umsonst. Nur der Bassist hat nichts getrunken und noch einer. ..

Was würde passieren, wenn sie wieder Alkohol trinken würden?
Man kann es ja nicht ausschließen. Ich bin ja dagegen nicht gefeit. Man muss es immer wieder sagen. Wenn ich jetzt wieder trinken würde, würde ich erst mal alle Leute so vorn Kopp hauen und enttäuschen, was ich nicht will.

Das wäre nicht verantwortungsvoll und mit großer Wahrscheinlichkeit würde ich mich tottrinken. Das hört ja nicht auf, ich würde ein Bier, noch ein Bier, drei Bier trinken und so steige ich die Pyramide nach oben. Und das kennen alle, nach der Entgiftung lange trocken gewesen sind. Will man mal wieder eins probieren das schon der Weg ins Krankenhaus.

Sie haben ja auch wieder Kontakt zur Familie?
Richtig. Die würden mich niemals fallen lassen. Ich will ihr das auch nicht zumuten, die hat ja damals schon geheult und hat nun mitbekommen, wie oft ich in der Entgiftung war. Die Krankenschwestern haben zu ihr gesagt, dass ihr Bruder mit absolutem Glück das Ding überlebt hat. Stand auf Messers Schneide… Ich hatte ja auch nichts mehr gegessen.

Wie hat sich der Alkohol früher auf die Stimmung ausgewirkt?
Euphorisch natürlich.

Was machen Sie jetzt, wenn die Stimmung am Boden ist?
Man kann das aussitzen oder aushalten, weil ich weiß, es geht wieder weg.

So habe ich mir auch das Rauchen abgewöhnt.

Man kann das aussitzen, haben Sie gesagt, man kann das aushalten …?
Man kann das aushalten oder aussitzen, man darf auf gar keinen Fall in Panik verfallen und das passiert mir leider. Ich kriege auch leichte Angstzustände, die ich immer aussitzen kann, oder mich auf das Fahrrad setzen oder mit dem Hund in den Park gehe. Oder ich guck‘ mir alte Bilder an, oder suche mir ein vernünftiges Fernsehprogramm, irgendwas Schickes, wo ich was lernen könnte. Oder ich gehe an den Computer. Ich hab mir jetzt auch ein Hobby gesucht – mit Alkohol geht das gar nicht. Und dann spiele ich immer noch in einer Gospel Gruppe „Family & Friends“. Ist immer ausverkauft in der Apostel -Paulus-Gemeinde in Reinickendorf. Wunderschöne katholische Kirche, ein Park ohne Ende. Die Leute sind wirklich angereist unseretwegen. Früher bin ich betrunken zur Probe und zum Auftritt gekommen und habe beim Auftritt auch immer zwei Bier getrunken in der Hoffnung, dass das keiner sieht. Das haben natürlich alle gesehen und haben aber erst mal nichts gesagt, weil die Leistung okay war.

Aber ich fühlte mich furchtbar. So ein schlechtes Gewissen, sowas von blöde. Ich konnte mir selber nicht leiden. ,,Du Idiot“, habe ich immer zu mir selber gesagt.

Aber ich habe mir vorgenommen nächstes Jahr spielste das Ding trocken. Scheiße, war nicht so. Habe wieder besoffen gespielt. Und dann hatte ich wieder einen Auftrag bekommen, im Winter in der Spandauer Zitadelle, ein schöner Ort. Und da habe ich immer noch gesoffen und ich sollte wieder spielen. Aber der hat dann ganz groß geschrieben in der E-Mail: ,,bitte keinen Alkohol“

Und das hat mir sehr zu denken gegeben auch und habe mich dafür dann nach meinem Auftritt in der Reichsstraße beim Straßenfest bei Rita und ihrem Mann Carlo, die dort die Gruppe leiten, entschuldigt und mich sehr darüber gefreut, dass die mir so schön geholfen haben, dass sie an mich geglaubt haben, dass ich also weiterhin da Musik machen kann und dafür habe ich mich bedankt. Das fanden die ganz toll, dass ich mich dafür bedankt habe, die waren ganz gerührt.

Möchten Sie noch irgendetwas sagen, was Ihnen wichtig ist?
Ich glaube, es hilft nicht mehr zu lügen. Immer die Wahrheit zu sagen, wenn man gefragt wird warum und weshalb und wieso. Immer die Wahrheit sagen das hat mir sehr geholfen. Demut und Zuhören ist auch etwas woran ich arbeite, im Moment so mein Leitfaden.

Herr T. wir danken Ihnen für das Interview.

Interview: TrokkenPresse

 

TrokkenPresse 01/2012: Warum AA und AL Anon erfunden werden müssten, wenn es sie nicht schon gäbe

Alkoholismus: Familienkrankheit oder Warum AA und AL Anon erfunden werden müsste, wenn es sie nicht schon gäbe

Ines Frege* und Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel*

Nach fast 60 Jahren Entwicklung mit eigenen klaren Vorstellungen über Sucht und deren Therapie – die nicht jeder teilen muss – nach der Gründung von etwa 3000 weiteren AA-Gruppen in Deutschland und unzähligen Lebensgeschichten der Betroffenen beeindruckt es durchaus, dass so wenige Professionelle die Anonymen Alkoholiker so wenig kennen. Wir wissen nicht, wer von ihnen jemals in einer AA-Gruppe gesessen hat, um sich zu orientieren und dabei die Ehrlichkeit und offene, ,,selbstbewusste“ Sprache der Betroffenen zu erfahren und wie weit die Beschäftigung mit diesem, aus ihrer Sicht wohl seltsamen, Programm je gegangen ist. Wir wissen aber aufgrund unserer eigenen Erfahrungen, wie schwer es ist, überhaupt einmal in irgendeine Selbsthilfegruppe zu gehen, geschweige denn, sich deren Programm zu öffnen.

Sogenannte Professionelle sind auch Menschen und verhalten sich deshalb-wenn man das erworbene Wissen einmal abzieht – im Grunde genau wie unsere Patienten auch: nur 30 -40 % in einer Stichprobe von etwa 30.000 Alkoholikern gehen in eine Selbsthilfegruppe und etwa ein Drittel davon zu den Anonymen Alkoholikern. Das Programm der AA, in erster Linie die 12 Schritte, wirkt aufgrund der etwas antiquierten Sprache und deutlichen Spiritualität und Sprache von ,,Gott, wie jeder ihn versteht“, vorsichtig ausgedrückt, nicht gerade anziehend auf viele Menschen. Auch wir Professionelle lernen, wie jeder Mensch durch Versuch und Irrtum, nicht selten unter Schmerzen, und versuchen Unbehagen zu vermeiden.

Da wundert es nicht, wenn bei einem Vortrag vor einigen Jahren ein Psychoanalytiker zu Salloch-Vogel sagt: ,,Wissen sie, Herr Kollege, um Süchtige mache ich immer einen großen Bogen.“

Süchtige bereiten den meisten Menschen Unbehagen, so natürlich auch Ärzten und Psychologen. Nicht selten verstärkt der Besuch einer Selbsthilfegruppe dieses Unbehagen zu- nächst mehr als es zu mindern. Das kann aber von Übel sein, wenn etwa 70 – 80 % aller Alkoholiker im Erstkontakt einen niedergelassenen Arzt aufsuchen. Diesbezügliche Zahlen über psychologische Praxen sind uns z. Zt. leider nicht bekannt, können aber ähnlich sein.

Als die TrokkenPresse uns gebeten hat, in möglichst verständlicher Sprache aus unseren Erfahrungen mit AA zu berichten, haben wir zunächst eine Weile überlegen müssen.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht bei unseren Überlegungen nicht darum, zwischen Selbsthilfe und professionellen Helfern Spannungen, Konflikte oder gegenseitige Überheblichkeiten zu bestätigen – ganz im Gegenteil, es geht um „Respekt, Akzeptanz und Kooperation“ (Feuerlein): mindesten 50% aller Anonymen Alkoholiker nehmen im frühen Verlauf ihrer Genesung die Hilfe von Ärzten oder Psychologen in Anspruch, wie die AA-eigene Statistik besagt, und auch wir haben nicht wenige Suchtkranke oder deren Angehörige psychotherapeutisch behandelt.

Es tat sich also ein großes Thema auf, und, um diesem ,,räumlich“ gerecht zu werden, haben wir unsere Erfahrungen auf zunächst vier Themen beschränkt.

  1. Was sind Sucht und Coabhängigkeit?
  2. Wie äußern sich beide im Alltag der Betroffenen?
  3. Wie kann man das nach einem Entzug professionell behandeln?
  4. Welche Rolle spielen AA und Al Anon dabei?
  5. Sucht und Coabhängigkeit

Als Jellinek 1952 sein bekanntes Schema veröffentlichte, stieß er besonders im deutschen Sprachraum auf Widerstand. Es sei nicht wissenschaftlich, und in der Tat ist es das auch genau! Es ist eine Sammlung von körperlichen, psychologischen und sozialen Daten, die aber den enormen Vorteil haben, dass sie wirklich einen Alkoholiker beschreiben, und zwar so, dass sich ein Betroffener, auch mit zwei Promille, darin wiederfinden kann (und die Mehrzahl der durchschnittlich 1500 Patientinnen der Abhängigenambulanz am Jüdischen Krankenhaus Berlin hatten beim Erstkontakt einen Alkoholgehalt von anderthalb bis zwei Promille in der Atemluft).

Im Erstgespräch gehen wir nicht auf die einzelnen Jellinek-Punkte ein, wir konzentrieren uns auf fünf Punkte und beurteilen diese.

Wir nennen sie:

  1. Zunehmender Verlust der inneren Freiheit im Umgang mit einer Droge und somit
  2. Zunehmende Zentrierung von Denken und Fühlen auf das Suchtmittel (Craving);
  3. Verlust der Kontrolle über das Suchtmittel (90%) oder Unfähigkeit zur Abstinenz (10%);
  4. Chronische Vergiftung besonders des Gehirns und

4 Alkoholismus: Familienkrankheit sowie

  1. Seelische und körperliche Entzugserscheinungen, mit oder ohne soziale Folgen.

 

Sucht kann man – wie wir sagen – .,erben oder erwerben“, wahrscheinlich haben spezifische, also auf das einzelne Individuum bezogene, Umgebungsfaktoren, wie zum Beispiel die Vorbildfunktion der Eltern und das Erlernen sozialer Kompetenz, einen ähnlich starken Effekt wie genetische Faktoren. Genvariationen, die unmittelbar eine Sucht auslösen, gibt es wohl nicht. Es gibt auch keine Suchtpersönlichkeit, keine für Suchtkranke typische Persönlichkeitsstörung, und keine typische Persönlichkeitsstruktur. So hat zum Beispiel eine abhängige Persönlichkeitsstruktur nichts mit Sucht zu tun. Sehr wohl haben aber etwa 40% der Patienteneine begleitende seelische Störungen wie eine Angsterkrankung oder eine Depression.

Und natürlich beinhaltet jeder Entzug von einer Droge auch einen depressiven Abschwung, der nicht unbedeutend ist und nicht selten einer medikamentösen Behandlung bedarf.

Es gibt viele Theorien zur Suchtentwicklung und es liegt auf der Hand, dass die Autoren auch daran glauben. Salloch-Vogel – damals den Kopf voll mit theoretischem Wissen, hatte am Anfang seiner suchtmedizinischen Ausbildung ein Erlebnis, das ihn für immer geprägt hat: zu später Stunde kam ein Maurer in die Sprechstunde und man sah ihm an, dass er sich auf diese Begegnung mit reiner Wäsche und reiner Kleidung ebenso vorbereitet hatte wie er sich an diesem Tage bemüht hatte, abstinent zu bleiben. Und es platzte aus ihm heraus: „Herr Doktor, ich kann nicht so trinken wie meine Freunde und Kollegen!“ Warum auch immer, der junge Arzt fragte: „Seit wann haben Sie das?“ und zu seiner Verblüffung antwortete der Besucher wie aus der Pistole geschossen: „Seit Mai 86!“ Er wusste das so genau, weil dieser ordentliche Mann damals zum ersten Mal seinen Arbeitslohn vertrunken hatte und das zuhause erklären musste. Da wusste also jemand genau, seit wann er alkoholkrank war bzw. den ersten Kontrollverlust hatte.

1. Psychosomatische Symptomatik bzw. reale körperliche Erkrankungen (Überlastungs- bzw. Entzugsreaktion)

Das Leitsymptom der Coabhängigkeit ist in Familien der Kontrollzwang im Gegensatz zum Kontrollverlust des Süchtigen, so dass Al Anon mit seiner Feststellung schon recht hat: „Was die Droge für den Süchtigen, wird der/die Süchtige für den Angehörigen“.

Einem von uns warf eines Tages eine Angehörige voller Verachtung einen Zettel auf den Tisch, sozusagen als Reklamation, während im Hintergrund der Alkoholiker angetrunken schaukelte, den wir zwei Monate zuvor entlassen hatten. Auf dem Zettel hatte sie minutiös alle Getränke vom 03. 08. – 10.09.01 verzeichnet, ergänzt von Bemerkungen wie „gestürzt“ und „Hausarzt angerufen“. Wer einmal versucht, so etwas nachzumachen, wird schnell ermessen können, wie viel Kraft diese unglückliche Frau für die Kontrolle und die dazugehörigen Gefühle hat verbrauchen müssen. Und auch die therapeutische Einrichtung als solche wurde in die Verachtung mit eingeschlossen.

Aus dem Leid der Angehörigen und ihrer sorgfältigen Beobachtung können wir schließen, dass Angehörige nicht selten eine Symptomatik von Krankheitswert haben, für die es nach vielen Jahrzehnten der Beobachtung immer noch keine genauen Bezeichnungen gibt, im Gegensatz zur Sucht ist Coabhängigkeit ja kein medizinisch anerkannter Begriff.

2. Wie äußern sich Sucht und Coabhängigkeit im Alltag der Betroffenen?

Es ist sinnvoll, bei dieser Frage die Gefühle und die Atmosphäre zu betrachten. In der Kürze der Arbeit können wir hier nur einige Hinweise geben.

In einer Untersuchung bei AL ANON fand Salloch-Vogel, dass unter zehn Grundgefühlen in suchtkranken Familien „Trauer“ und „Scham“ besonders ausgeprägt sind, während .Freude“ das Schlusslicht bildet, also selten vorkommt. Es scheint so zu sein, dass die chronische Vergiftung nicht nur die Organe, sondern auch die gesamte Atmosphäre in einer Familie zugrunde richten kann. Diese Atmosphäre ist geprägt von Härte und gleichzeitiger Verwöhnung, Grenzverletzungen und Beziehungsabbrüchen.

Die meisten Menschen machen sich nicht klar, dass Mensch unter Drogeneinfluss nur vordergründig kommunikativ wirkt, in Wirklichkeit hat er den echten Kontakt mit uns schon längst abgebrochen. Er ist irgendwie einfach nicht da. Kinder spüren das sehr genau.

Der Suchtkranke fühlt sich selbst darüber hinaus seelisch krank, kann er doch die Versprechen, die er sich selbst gibt, nicht einhalten. Scham, Ekel und Selbsthass halten Einzug in sein Leben .Er kann sich seinen Zustand ja nicht erklären. Wieso trinkt er so viel? Andere tun das doch auch nicht. Und er macht sich Erklärungen, muss sie sich machen, weil sonst verrückt würde, weil sein Zustand für ihn unverstehbar ist, und weil die Angehörigen ihn fragen.

Und das alles passiert langsam, schleichend, die Atmosphäre verändert sich ganz sachte. Lügen kommen hinzu.

Manchmal glauben wir uns unsere Lügen selber, auch wenn wir überhaupt kein Suchtproblem haben.

Süchtige müssen lügen, sonst müssten sie auf ihr Suchtmittel verzichten. Aus den Lügen kommt die Unsicherheit in die Beziehung: ,,Vielleicht spinne ich ja schon und er hat wirklich keine Fahne; vielleicht liegt es an mir, dass er kaum noch zuhause ist“.

Coabhängige sind genauso liebenswerte und fürsorgliche Menschen wie Suchtkranke, beide strengen sich unglaublich an, um nach außen und vor den Kindern das Familienmobile zu stabilisieren.

Ähnlich wie unser Körper mit einem System von Regelkreisen versucht, ein konstantes inneres Gleichgewicht zu halten, versuchen nämlich auch alle Mitglieder einer Familie, eine solche Ausgewogenheit in den Kräfteverhältnissen und Beziehungen zu halten, so dass der Vergleich mit einem Mobile durchaus gerechtfertigt ist. Mit ihm kann man sowohl das Verhalten in der Sucht erklären, als auch den Zustand, der entsteht, wenn der Süchtige seine Krankheit zum Stillstand gebracht hat:

Stellen Sie sich den Süchtigen als Schwergewicht vor, dessen Gewicht die Familie mit aller Kraft auspendelt. Jeder hofft, wenn die Abstinenz eintritt, wird alles gut und die Angehörigen hoffen, dass sie nicht mehr so viel Energie für die Balance aufwenden. Nun ist es aber leider so, dass ein Süchtiger nie mit Trinken aufhört, wenn die Familie es sich wünscht – sondern wenn es ihm selbst von einer äußeren oder inneren Dynamik – in der Regel einer Mischung von Beiden – vorgegeben wird.

Plötzlich verändert sich das Gewicht und das gesamte Mobile gerät aus dem alten Gleichgewicht. Und für die Angehörigen ist zunächst einmal gar nichts gut, geschweige denn „wie früher“. Der Süchtige selbst, dessen Not und Egozentrik sich nach dem Entzug zunächst nicht ändert, teilt der erschöpften Familie nun deutlich mit, das sei nun alles recht schön zuhause, aber er müsse jetzt seine Abstinenz pflegen. Und wir Professionellen unterstützen den Süchtigen oft darin, zu AA oder einer anderen Selbsthilfegruppe zu gehen, um nicht zu trinken. Allein schon bei der Vorstellung dieser Mischung von Enttäuschung und uneingelöster Sehnsucht der einzelnen Menschen kann man förmlich spüren, wie die Familie dekompensiert. Wir sagen manchmal liebevoll lapidar: .Etwa acht Wochen nach Abstinenzbeginn fallen uns die Angehörigen vor die Füße, weil sie ihren Arbeitsplatz verlieren.“ (Erstaunlicherweise hat in unserer damaligen Praxis eine Angehörige genau das geträumt).

3. Wie sieht nun die professionelle Hilfe für Süchtige und ihre Angehörigen nach dem Entzug aus?

Die Symptome der Sucht und die Beziehungspathologie sind sehr variabel und in der Regel nicht von Anfang an sichtbar. Wie immer in der Psychotherapie und in der Psychiatrie beschreiben wir eigentlich immer nur mehr oder weniger monströse Ausformungen von normalem Sein und Verhalten, die beginnen können und die zum Stillstand gebracht werden und heilen können, von der persönlichen Art eines Menschen einmal abgesehen. Und wir müssen ganz vorsichtig sein, dass wir einen Menschen nicht so sehr in das Korsett eines therapeutischen Modells einpassen, dass er sich nicht mehr bewegen kann. Insofern wird es wohl wichtig sein, bei der Therapie von Suchtkranken und ihren Angehörigen unterschiedliche Therapiemethoden integrativ miteinander zu verknüpfen.

Aufgrund der ausgeprägten Beziehungsstörung bei ihnen und ihren Angehörigen ist – wie überhaupt in der Therapie – die Beziehungskonstanz sehr wichtig. Diese Konstanz findet eher selten statt, denn nicht wenige psychiatrische „Suchtabteilungen“ – ausgenommen typische Fachkliniken – sind oft mit wechselndem Personal versehen („ein halbes Jahr in die Sucht“). Statt für ihre eigene Psychohygiene und gegen ihre eigenen coabhängigen Anteile eine Supervision oder Selbsthilfegruppe aufzusuchen, lehnen die Mitarbeiter„ so etwas“ bzw. die Suchtkranken eher ab oder sie lassen sich verbrauchen und brennen aus.

In den psychiatrischen Abteilungen, in denen wir gearbeitet haben, fiel bei Krankheit oder Personalmangel immer zuerst die Suchtgruppe aus. Oft mit dem Hinweis, dass die Suchtkranken ja schon mehrmals die Chance hatten, etwas für sich zu tun. So veröden die .Suchtabteilungen“ dann rasch zur Bewahranstalt für Süchtige mit der entsprechenden Atmosphäre.

Schon vor etwa 40 Jahren hat eine sehr kluge Psychoanalytikerin, Annemarie Heigl-Evers, erkannt, dass das klassische tiefenpsychologisch fundierte psychotherapeutische Vorgehen bei Süchtigen zunächst einigermaßen sinnlos ist.

Da Sucht kein isoliertes Symptom einer Neurose ist, sehr wohl aber erhebliche Störungen der Persönlichkeit aufweisen kann, entwickelte Heigl Evers damals ein Modell, welches das Vorgehen in der klassischen Tiefenpsychologie sozusagen auf den Kopf stellt. Die klassische Form der .Deutung“ tritt zurück hinter einem therapeutischen Vorgehen, das aus „Antworten“, ,,Konfrontieren“, .Leiten“, .Anregen“, .Einüben und Klären“ besteht, dem erst zuletzt das „Deuten“ folgen sollte. (Interaktionelle Einzel- und Gruppenpsychotherapie).

Die Therapeuten verhalten sich also hilfreich und stützendantwortgebend. Sie setzen damit in der Arbeit auf die Selbstheilungskräfte der Patienten ebenso wie die Selbsthilfegruppen. Neben zweimaligem Besuch der Selbsthilfegruppe ist in der Regel eine Therapiestunde pro Woche völlig ausreichend und wird auch nach den Psychotherapie-Richtlinien von den Krankenkassen bezahlt. Ja, sie ist in diesen Richtlinien sogar ausdrücklich vorgesehen. Mittel der Wahl ist bei einer Psychotherapie wegen der Beziehungsstörung in erster Linie die Gruppen-Psychotherapie. Nur in Einzelfällen oder nach längerer Abstinenz ist eine Einzeltherapie angezeigt.

Die Psychotherapie dient zunächst neben der Beziehungskonstanz der Festigung der Behandlungsmotivation und der Formulierung persönlicher Behandlungsziele. Das hört sich alles so sachlich an, aber bis vor gar nicht langer Zeit waren nicht wenige Therapeuten der Überzeugung, die Süchtigen müssten von selbst zur Einsicht und dann auch noch zu ihnen kommen.    Heute wissen wir, dass die Zeit des körperlichen Entzugs nicht nur körperlich eine vulnerable, d. h. empfindliche Zeit ist, sondern auch eine Zeit, in welcher der Süchtige weniger Möglichkeiten der seelischen Abwehr hat. Diese Zeit ist von erfahrenen Behandlern vorsichtig nutzbar.

Wann ändern wir denn was in unserem Leben? Doch nur dann, wenn wir es müssen!

Wir fühlen uns für die Motivationsarbeit verantwortlich, Motivationsarbeit ist also Aufgabe des Teams, unsere Aufgabe. Wir können den Süchtigen nicht am Trinken hindern, aber wir können versuchen, ihn dahin gehend zu unterstützen, eine Motivation zu finden, aufgrund derer von sich aus, er einen Schlussstrich ziehen kann. In der Suchtabteilung, in der wir gearbeitet haben, gab es nur drei Gründe, einen suchtkranken Menschen nicht aufzunehmen: eine Psychose, weshalb wir ihn in einer psychiatrischen Klinik unterbrachten, die Androhung körperlicher Gewalt und eine akute Suizidalität .Eine ambulante Vorbereitung ist sehr sinnvoll, aber 1/3 unserer Patienten kam im Notaufnahmeverfahren, ohne uns vorher zu fragen, zum qualifizierten Entzug.

Wenn wir heute davon ausgehen, dass Sucht ein autonomes Geschehen in einer Person ist, muss es wichtig sein, zunächst die Abstinenz als Voraussetzung für psychotherapeutische Arbeit zu stabilisieren, denn in der klassischen Psychotherapie würde in kurzer Zeit die „neurotische“ Symptomatik, man kann sie Komorbidität nennen, in der Therapie blühen, die Patienten können dem Druck nicht standhalten und gehen Trinken. Hier kommt neben dem Qualifizierten Entzug den AA und den anderen Selbsthilfegruppen eine entscheidende Bedeutung zu. AA und die SHG stabilisieren weiterhin die Abstinenz, wenn es in der Psychotherapie zu einer Instabilität kommt, d. h. sie stellen das genaue Gegenteil einer .Nebentherapie“ dar, die häufig von puristischen Therapeuten befürchtet wird.

Der „Qualifizierte Entzug“ der Angehörigen besteht aus „ vielen liebevollen Einzelgesprächen in der Psychotherapie und einer großen Packung Taschentücher“, wie eine erfahrene Therapeutin oft sagt.

Aber können wir das glauben und glauben uns das die Patienten? Was glauben wir denn überhaupt?

Es dauerte eine ganze Weile, bis wir uns klar darüber waren dass es in der Therapie gar nicht um Wissensvermittlung geht, sondern allein darum, ob die Patienten uns glauben können, dass Abstinenz und ein lebenswertes Leben möglich sind. Fest steht auf jeden Fall, dass vor über 70 Jahren die behandelnden Ärzte eines Börsenmaklers und eines Chirurgen ihren Patienten die Tatsache geglaubt haben, dass diese nach Trinkbeginn nicht aufhören konnten, und sie erfahren mussten, mussten, in welchem desolaten Zustand ihre Patienten danach wieder zur Behandlung kamen.

AA wurde nicht nur zur Hälfte von einem Arzt gegründet, sondern viele Ärzte, Psychologen und Seelsorger waren ebenfalls Paten der zukünftigen Entwicklung.

Warum ist nun eine Selbsthilfegruppe wichtig und was kann man in ihr lernen?

  1. Zunächst tut es immer gut, mit Menschen Leid zu teilen, besonders dann, wenn es dieselbe Krankheit ist. Da Sucht aber mit einem enormen Stigma versehen ist, dient der Besuch in der Gruppe neben der Verbesserung der Beziehungsfähigkeit, der Identifikation mit der abgewehrten Krankheit.
  2. Jeder Erzieher weiß um die Wichtigkeit von Disziplin und Ritualen im Leben.
  3. Kontrolle stärkt die Selbstkontrolle, besonders dann, wenn wir uns an Vorbildern orientieren.
  4. In Gruppen lernen wir Aushalten von Konflikten Gefühlen, den eigenen und den anderer Menschen. Ahn auch eine wärmende, freund. liehe Resonanz ist nicht zu unterschätzen.
  5. Worüber selten gesprochen wird, ist die heilende Kraft des Humors: es gibt Ereignisse Erfahrungen, darüber dürfen nur die Betroffenen lachen. beurteilen therapeutische Konzepte und Einrichtungen mittlerweile danach, ob dort gelacht werden darf, und wie sich Gesichter und Beziehungen zwischen den Therapeuten darstellen.

Wir sind immer wieder staunt, nachdem wir viele Stunden in Ausbildungs- oder Selbsterfahrungsgruppen gebracht haben, auf welchem psychotherapeutischen Niveau manche Gruppenstunde der AA oder AlAnon abläuft nicht zuletzt, weil Erfahrung. Kraft und Hoffnung dort ehrlich geteilt werden.

Der Schlüssel zum Verständnis der Arbeit in den Gruppen ist das eigene aus der Erfahrung entwickelte Programm der Schritte. Es ist ein spirituelles, freundliches und großzügiges Programm der Entwicklung und Selbsterkenntnis. Wir geben gerne zu, dass wir bei den ersten Begegnungen mit diesem Programm verunsichert und irritiert waren.

Mit zunehmender Erfahrung und Reifung kamen dann aber zu wichtigen Erkenntnissen als Therapeuten. Drei Aspekte werden – in welcher Therapie auch Immer – kaum bearbeitet: die Sinnfindung, der eigene Tod und die Suche nach Gott.

Alle drei sind aber für Suchtkranke in der Krise bei einem Neuanfang von existentieller Bedeutung. Der Weg aus der vermeintlichen Sinnlosigkeit. der tödliche Grenzbereich, in dem sich viele Suchtkranke zeitweilig aufhalten und der ausgeprägte Hunger nach seelisch-geistlicher Nahrung sind aus unserer Sicht Kernbereiche auf dem Weg in eine zufriedene Nüchternheit.

Auch aus Platzgründen gehen wir bewusst nicht auf einzelne Schritte oder Teile des Programms der 12 Schritte ebenso wenig ein, wie auf die Rituale im nichtdialogischen System. Das bleibt einer zweiten Arbeit vorbehalten.

Bei dem Programm handelt es sich um „Grundsätze spiritueller Art. Werden sie im täglichen Leben verwirklicht, nehmen sie den Zwang zum Trinken und helfen dem Kranken, ein zufriedener und nützlicher Mensch zu werden.“ (AA Originaltext).

Wenn einem dieser Originaltext der AA etwas seltsam vorkommt. kann man sich klarmachen, was daran verletzen könnte: es ist nämlich die Wahrheit, die wehtut. denn ein Trinker oder ein Coabhängiger in der Krise ist eben genau der nützliche und zufriedene Mensch nicht mehr, der jeder gerne sein möchte. Das Programm wurde von Menschen in einer ausweglosen Situation für Menschen in einer ausweglosen Situation geschrieben. Es ist aber nicht, wie es zu Anfang scheinen mag, ein kompliziertes Programm für einfache Menschen, sondern ein einfaches Programm für komplizierte Menschen. Deshalb erschließt es sich dem einen oder anderen nicht sofort. Trotzdem machen aber heute auch viele Nichtalkoholiker mit anderen Lebensproblemen von ihm Gebrauch.

Die Begrenztheit unseres eigenen therapeutischen Handelns, unsere eigene Begrenztheit, wird uns – allen Erfolgen zum Trotz – ja täglich vor Augen geführt. Aber eben auch die Freude über nüchterne Menschen und ihre Entwicklung. Eine klassische Psychotherapie hat aus gutem Grund nach einer gewissen Zeit ein Ende, und auch die Kirchenbesuche sind nach Ablauf der Krise für viele Menschen seltener geworden. Der spirituelle Hunger nimmt aber ständig zu und davon verstehen AA und AlAnon etwas, denn sie kommen aus einem kargen Land und sind Überlebende, die sich erstaunt die Augen reiben. Und genau in diesem Moment begegnen sie einem Programm, das sie, nicht gebunden an eine Konfession Sekte oder Institution. einfach für sich, lebenslang, haben dürfen. Das ihnen eben genau nicht vorschreibt. wie etwas gemacht werden muss, sondern welches eher als Selbstbedienungsladen aufgefasst werden kann, als Angebot: eben das Teilen, Mit-Teilen von Erfahrung Kraft und Hoffnung.

Das Programm müssen Sie nicht in einem Jahr verstehen, weil dann die Kosten auslaufen, sondern es genügt eine persönliche Bereitschaft, sich auf dieses Programm einzulassen. Im Übrigen – sagen AA und AlAnon – das Programm, seien lediglich Empfehlungen.

Wie gut, dass AA und Alanen nicht mehr erfunden werden muss, sonst hätten wir viele Jahre harter Arbeit vor uns.

Die Zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker

  1. Wir gaben zu, dass wir dem Alkohol gegenüber machtlos sind – und unser Leben nicht mehr meistern konnten.
  2. Wir kamen zu dem Glauben, dass eine Macht, größer als wir selbst, uns unsere geistige Gesundheit wiedergeben kann.
  3. Wir fassten den Entschluss, unseren Willen und unser Leben der Sorge Gottes – wie wir Ihn verstanden – anzuvertrauen.
  4. Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren.
  5. Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu.
  6. Wir waren völlig bereit, all diese Charakterfehler von Gott beseitigen zu lassen.
  7. Demütig baten wir Ihn, unsere Mängel von uns zu nehmen.
  8. Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zugefügt hatten und wurden willig, ihn bei allen wieder gutzumachen.
  9. Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut – wo immer es möglich war-, es sei denn, wir hätten dadurch sie oder andere verletzt.
  10. Wir setzten die Inventur bei uns fort, und wenn wir Unrecht hatten, gaben wir es sofort zu.
  11. Wir suchten durch Gebet und Besinnung die bewusste Verbindung zu Gott – wie wir Ihn verstanden – zu vertiefen.

Wir baten Ihn nur, uns Seinen Willen erkennbar werden zu lassen und uns die Kraft zu geben, ihn auszuführen.

  1. Nachdem wir durch diese Schritte ein spirituelles Erwachen erlebt hatten, versuchten wir, diese Botschaft an Alkoholiker weiterzugeben und unser tägliches Leben nach diesen Grundsätzen auszurichten. (www.anonyme-alkoholiker.de)

* Ines Frege: Ärztin für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, leitende Ärztin der salusKlinik 50354 Hürth.

* Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel: Arzt für Pharmakologie und Innere Krankheiten. Tiefenpsychologie. Psychotherapie. VT Gruppentherapie. Selbsthilfebeauftragter der salus-Klinik 50354 Hürth.

Titelthema 06/11: Suchtgedächtnis

Wie ich das Suchtgedächtnis begriffen habe

Von Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel

Ich bin Alkoholiker und länger abstinent. Vor einiger Zeit fiel ich etwa 1,80 m auf eine Betonplatte in die Tiefe, so dass sämtliche Bänder der rechten Schulter gerissen waren und ich operiert werden musste.

Natürlich kam der Anästhesist zu mir und natürlich teilte ich mit, dass ich Alkoholiker bin und keine suchtverlagenden Medikamente wollte. Bei der Prämedikation, also dem Mittel, das man noch im Bett zur Narkoseeinleitung bekommt, konnten wir uns noch einigen und er verordnete mir eine schwache Tablette, die nicht süchtig macht, die ich mir von einer Wirkung her im Grunde auch auf die Stirn hätte kleben können.

Anders bei der Narkose.

Als ich sagte: ,,keine Opiate“, lächelte er und antwortete: ,,Dann können wir Sie heutzutage auch nicht operieren.“ Wenn ich heute meine Schulter wieder perfekt bewegen kann, muss ich immer an diese Situation denken, aber auch an die vorzügliche Oberärztin, die sich zweieinhalb Stunden für die Operation Zeit nahm. Ich erwachte bester Laune aus der Operation und machte meine Witze darüber, dass ich keinerlei Schmerzen hatte, denn bis dahin hatte ich Schmerzen von Prellungen und fünf gebrochene Rippen, und die waren nun total fort. Dann sprühte ich – wie ich meinte – weiter vor Witzigkeit, bis die OP-Schwester sagte: ,,Es würde uns schon reichen, wenn sie nur in ihr Bett stiegen!“

Fröhlich faselnd und redend wurde ich dann in mein Zimmer gefahren und bot meiner Frau an, noch gleich mit mir auf dem Flur spazieren zu gehen. Und auch diese antwortete mir seltsamerweise: .Es wäre schon gut, wenn du erst mal in Dein Bett gingest und liegen bliebest bei deiner verwaschenen Sprache.“

Immerhin war ich abends schon soweit klar, dass ich der Schwester, die mir zur Nacht die „segensreichen“ Tropfen empfehlen wollte, die mir auch in der Narkose geholfen hatten, eine deutliche Absage erteilte. Aber andererseits verkündete ich auch munter, die Narkose sei so angenehm gewesen, dass ich, wenn mir jemand sagen würde, es wäre bei der OP ein Fehler passiert, sofort und gerne einer erneuten Operation zustimmen wollte. Ich blieb dann noch etwa 5 Tage im Krankenhaus und ging mit dem Gefühl heim, dass ich diese intensive Operation meiner Schulter wirklich gut gemeistert hätte.

Und dabei blieb ich auch, stellte allerdings fest, dass ich unruhig war, zwar keine direkten Trinkwünsche hatte, aber gegen eine Operation hätte ich auch nichts gehabt. Ich sprach zweimal in meiner Gruppe darüber, die meinen Bericht, der sich ähnlich wie oben beschrieben anhörte, gelassen und distanziert zur Kenntnis nahm. Ich nahm keinerlei Kritik oder eine auf mich bezogene Aussage wahr. Nach etwa 6-8 Wochen war ich immer noch der gleichen Ansicht, die ich geschildert habe. Getrunken hatte ich nicht, aber ich war unruhig und war aus heutiger Sicht „trocken besoffen“. Bis ich eines Tages fern von meinem Wohnort unseren Sohn und seinen jungen Hund in die Hundeschule gebracht hatte und in einem Park spazieren ging. Es war ein schöner warmer Junitag und ich bewegte mich auf einen alten Mann zu, der auf einer Bank saß und rauchte, was das Zeug hielt. Ich ging näher heran und spazierte genüsslich durch den Rauch, und plötzlich hörte ich in mir einen Gedanken, fast eine Stimme: ,,Rauchen könntest du übrigens auch mal wieder eine!“ Meine letzte Zigarette habe ich 1984 geraucht und diese absurde Aufforderung brachte mich endlich wieder zu meinem Verstand und ich fühlte: ,,Mensch, da meldet sich Dein Suchtgedächtnis! Endlich kommst du wieder zu Dir!“ Ich fühlte mich enorm erleichtert und befreit, denn ich war wieder zuhause in meiner gewohnten, eher ruhigen Abstinenz. In der Gruppe sagte eine Freundin, die zweimal kurz hintereinander hatte operiert werden müssen, bei meinem Bericht: ,,Rüdiger, ich habe zweimal zu Deiner Aussage Stellung genommen und Dir genau das, was Du erlebt hast, gesagt, aber ich habe Dich nicht erreicht.“ Daran konnte ich mich nicht erinnern.

Schon vor etwa 20 Jahren schrieb Prof. Jobst Böning, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie:

,,Es gibt ein individuelles, erworbenes (sog. personales) Suchtgedächtnis, das lebenslang erhalten bleibt.

  Dabei handelt es sich um „suchttypisch“ konditioniertes Verhalten und Erleben, das in belohnungsabhängigen, verstärkend wirksamen Hirnsystemen zum molekular und psychisch fixierten „Suchtgedächtnis“ transformiert wird.

  Deshalb ist einem – von der molekularen Trägerebene über die neuronale Musterebene bis zur psychologischen Bedeutungsebene – neurobiologisch engrammierten Suchtgedächtnis therapeutisch auch so schwer beizukommen. Die „Gnade des Vergessens“ kennt dieses „episodische Gedächtnis“ wohl nicht.“

Damals hatte ich zwar verstanden, dass dieses Gedächtnis sehr im Gehirn verankert war und es gewissermaßen wie ein Tisch mit drei Beinen zerebral verankert ist: einmal über die Verbindung der Moleküle, zum zweiten über die neuen Verbindungen im Gehirn, die durch z. B. das Trinken geschaffen worden waren und drittens durch das, was Böning ‚psychologische Bedeutungsebene‘ genannt hat, zum Beispiel die entsprechenden Gefühle, die das Trinken auslöst. Ich selbst hatte mich in meinem Größenwahn wie der Jüngling im Märchen gefühlt, der immer herumlief und sagte: .Ach, wenn es mich doch gruselte!“

Mir war es so gegangen, dass ich mir das Suchtgedächtnis einfach nicht vorstellen wollte. Ich hatte zwar verstanden, dass es so etwas gab und es durchaus gefährlich war, da ich aber nicht so weit zu mir vordringen wollte und vielleicht auch nicht musste (dachte ich: die lange Abstinenz), sperrte sich auch etwas in mir, diese Erkenntnis wenigstens zu glauben. Wir Süchtigen müssen ja so manches glauben, was wir persönlich nicht erlebt haben.

Irgendwie – Gott sei Dank!

– weiß ich jetzt, dass es ein Suchtgedächtnis gibt, das mir zwei Wege weist: Etwas zu glauben, was ich bisher persönlich noch nicht erfahren habe und mich so zu schützen, oder rückfällig zu werden.

 

Titelthema 05/11: Seelenhunger – Suchtentwicklung – Mut zur Veränderung

Seelenhunger – Suchtentwicklung – Mut zur Veränderung

Eine Bilanz. Wie Erwartungsdruck, Überforderung und mangelndes Selbstbewusstsein in die Abhängigkeit führen und mir eine schöne Welt vorgaugelten. Heute bin ich sieben Jahre trocken und verstehe, dass ich mich selber betrogen habe.

Hans-Jürgen Schwebke

Ich bin trocken. Seit sieben Jahren kein Alkohol, kein Zellgift. Ich habe nichts versäumt. Nun weiß ich durch die Therapie und meine ständige Auseinandersetzung mit mir: Ich konnte nicht mehr der mir in der Kindheit erworbenen bis ins maßlose überhöhten Bereitschaft, Erwartungsdruck zu registrieren und zu erfüllen, nachkommen – schon gar nicht ohne Alkohol. Mein ganzes Denken wurde durch diesen Druck, Fremderwartungen zu registrieren, dominiert und das führte zu permanenten Überforderungen. Und dann war der Alkohol zur Stelle. Ich habe nunmehr gelernt und erfahren, dass es eine andere, eine wesentlich gesündere Möglichkeit, mit Anforderungen und Erwartungen der Gesellschaft umzugehen, gibt und das ist eben Mut. Mut bedeutet auch, seine Gefühle nicht den Erwartungen anderer unterzuordnen. Ich machte die Erfahrung: Wenn ich mir Rückzug gestattete, fühlte ich mich freier! Dieses Gefühl zu erleben und kein Alkohol dazu mehr zu brauchen, hieß für mich, den Alkohol in seinen Funktionen, wie ich sie im Folgenden beschreibe, zu entmachten. Wie viel Mut, Kraft und Selbstveränderung ich aufbringen musste und muss, wird vor diesem Hintergrund deutlich. Vielleicht auch, warum es so viel Zeit brauchte mich auf den Weg aus der Sucht zu begeben.

Alkohol. Mit Alkohol konnte ich viel Freudvolles erleben und doch führte er mich in die Verelen­dung. Ich gebrauchte ihn als Medizin und merkte nicht seine Wirkung als Gift. Er war für mich Nahrungsmittel, weil kalorienreich, ohne es gewahr zu werden, dass ich durch seinen Miss­brauch das Essen ver­lernte. Als besonders wertvolles, geeignetes Geschenk für schöne An­lässe und sehr gute Freunde, zur persönlichen Aufwertung, als soziales Geselligkeits- und Bindungsmittel diente er mir häufig – und doch vereinsamte ich. Ich entspannte, verdrängte Probleme (eine wichtige Funktion und Fähigkeit des Menschen) und bekam Lust. Aber der Genuss von Alkohol führte bei mir ebenso zu Ängsten, krankhaften Ängsten und Stress in vielfältigster Art, ja er ver­stärkte die entstandenen Leiden nur noch mehr.

Alkohol. Er wird bis heute besungen und literarisch verehrt, es wird ihm gehuldigt. In der Studentenzeit sangen wir bei seinem Genuss Lieder und verherrlichten ihn. Nur Wenige ver­teufelten ihn. Und ich schwankte sehr lange zwischen diesen beiden Polen. Bis ich nach fast dreißig Jahren zu der Überzeugung kam: Ich will keinen Alkohol mehr trinken, weil mir der Preis zu hoch ist, den ich beim Weitersaufen zahlen muss. Erst die Gesundheit zu ruinieren und dann auch schneller zu sterben. Dennoch hatte er für mich durchaus positive Wirkungen. Ein im nassen Zustand nicht zu erkennender, nicht aufzulösender Widerspruch.

Ich trieb mich mit Alkohol zu Höchstleistungen, wuchs als Einzelner über mich und andere hinaus. Er war mir als soziales Schmiermittel zu Nutze, so wie ich auch mit ihm geschmiert habe. Ich ließ mich von ihm verführen und genoss ihn. Er war mein Durstlinderer und – lö­scher. Was ich nicht erfühlen konnte, war der Wandel vom Genuss zum Muss. „Der Teufel steckt im Detail“ sagt ein Sprichwort. Aber nicht der Alkohol selbst ist der „Teufel“, sondern ver­teufelt schwer kann angemessenes Verhalten im Umgang mit Alkohol fallen.

Alkohol. Ich trank ihn in hoher Qualität zu festlichen Anlässen, bei Konzerten, russischen Heldenverehrungen, in rumänischen Palästen, zu großen Empfängen, in diplomatischen Zusammenhängen und auch in armer, verdreckter, stinkender Umgebung, allein auf Parkbänken dahinvegetierend, in Toiletten und während der Arbeit heimlich und unheim­lich.

Ich lernte ihn in kultischen Handlungen kennen. Er war für mich in guten wie in schlechten Zeiten ein Tröster und Verführer. Schlechte Abschlüsse, Noten oder Prüfungsergebnisse wa­ren ebenso Anlass für sein Runterstürzen wie das Begießen meines mit „Gut“ abgeschlossene Abiturs oder des mit „Sehr gut“ abgeschlossenen Diploms als Staatswissenschaftler (Außen­politik). Er begegnete mir in familiären Zusammenhängen, die ich nur bei anderen als Au­ßenstehender kennen lernte. Ich hatte ja keine Familie, dabei wollte ich so gern dazu gehören. Ich bin heute noch den vielen „Fremden“, die mir als Heimkind einen Einblick in ihren zwi­schenmenschlichen und individuellen Bereich ermöglichten, dankbar. Dort hatte Alkohol oft eine tiefere soziale und kulturelle Bedeutung, als man gemeinhin bewusst wahrnimmt: Ge­burtstage und Jubiläen, Tod und Freitod, Hochzeiten, Scheidun­gen, Beförderungen und Nichtberücksichtigung bei denselben waren immer zugleich Anlässe, bei denen getrunken wurde. Ich trank mit. Weil wir nicht mehr so jung zusammenkommen. Weil ich zu den Er­wachsenen dazu gehören will. Weil es so üblich ist. Weil ich nicht Schwä­che zeigen will. Auch, weil ich den Alkohol brauche? Wann trat dieser Zeitpunkt ein? In mei­ner unbändigen und immer ungestillten Sehnsucht nach Familie genoss und soff ich mit. Es reizte mich, als gleichwertig standfester Trinker mitzuhalten. Und ich hatte dabei auch Aner­kennendes zu hören bekommen. Ich war ebenbürtig und gehörte dazu. Das Gelernte, wozu auch familiäre wie gesellschaftliche Bräuche und Sitten gehörten, gab mir im Laufe meiner Abnabelung aus den strengen Fesseln des Kinderheimes draußen in der Welt scheinbar „Si­cherheit“ im Auf­treten sowie auch zeitlich begrenzt das tiefe Gefühl der Zufriedenheit, Glückseligkeit und des Vergessens meiner elternlosen Situation. Meine ersten Vollräusche erlebte ich in einigen dieser Familien mit 15/16 Jahren.

Ich konnte mich mit Alkohol selbst belohnen, Ruhe finden, dem Alltag im Kinderheim durch rauschähnliche Zustände entfliehen. Freunde wie Feinde sollte ich beeindrucken. Im Rausch ließ ich wie andere auch meine individuellen Grenzen hinter mir, folgte der Masse ohne Rücksicht auf persönliche Verluste, die der Gesundheit, der Freiheit zu entscheiden, wann ich trinke und wann nicht, wie viel oder wenig. Und ich ließ mich zu Taten hinreißen, für die ich mich im nüchternen Zustand schämte.

Ich befand mich im ständigen Spannungsfeld zwischen Disziplin, Anstand, Konventionen, Ordnung, Kontrolle und Selbstkontrolle, Leistung und Bestehen, Ein- und Unterordnung so­wie dem Angenehmen, dem  Rausch, der Entrücktheit und der daraus resultierenden totalen Übersteigerung meiner Emotionen und meines Tuns. Beides in Balance zu halten gelang mir infolge der unbemerkten, schleichenden Dosissteigerung zunehmend weniger.

Alkohol. Und beruflich: Bei festgefahrenen, in die Sackgasse geratenen Verhandlungen und internationalen Konferenzen war der Alko­hol ebenso anwesend wie bei erfolgreichen Vertragsabschlüssen und den Feiern von histori­schen Anlässen. Ich bestand im Beruf. Der gesellschaftliche Umbruch „beförderte“ meine Alkoholkarriere steil nach unten. Es wurde immer schwieriger Arbeit zu bekommen, weil ich in meinem Zustand zum Schluss nicht einmal mehr zu einem Bewerbungsgespräch gehen konnte, ohne als Alki aufzufallen.

Alkohol wurde von mir als wertvolle Medizin gegen Grippe und Schlafstörungen benutzt. Ich beruhigte mich mit ihm, trank mich in den Schlaf und konnte Nervosität mit ihm unterdrü­cken. Meine Flugangst bekämpfte ich mit ihm. Vor Prüfungen und öffentlichen Reden, bei Ar­beitsanforderungen und Leistungsdruck erlöste er mich von dem Übel der Versagensangst, machte mich lockerer. Die erwarteten Leistungen erbrachte ich weit über das Maß hinaus. Ich war glücklich und stieß bei jeder Gelegenheit darauf an.

Ich schloss mich den Ritualen des Trinkens der Kameraden in der Kaserne freiwillig und un­freiwillig zugleich an, um nicht als Außenseiter, der ich ohnehin war, aufzufallen. Faschistoi­den Auswüchsen in der Armee, die unter Alkoholeinfluss der Soldaten geschahen, widersetzte ich mich mit dem Mut der Verzweiflung, der Angst vor körperlichen Angriffen, die ich nicht verhindern konnte.

Alkohol. Ich trank ihn auch zur Vorprüfung für die Fahrerlaubnisprüfung. Ich nahm dieses Tabu gar nicht wahr. Zu meiner ersten selbständigen Fahrt trank ich mir Mut an und es dau­erte mal gerade 30 Sekunden Ausfahrens aus einer Parklücke bis zum ersten und letzten Un­fall. Ich entzog mir sofort den Führerschein und schloss ihn in eine Stahlkassette weg. Das war Anfang der 90er Jahre – also 20 Jahre vor dem Ende der Alkoholkarriere. Anderen ge­genüber erklärte ich, dass ich nicht gut fahren würde und wegen meiner Verantwortung vor mir und für meine Mitmen­schen lieber nicht fahre. Wer würde mich eines Alkoholproblems verdächtigen? Ich betrog mich selbst und belog andere.

Alkohol. Als Appetitanreger, Verdauensbeförderer und Geschmacksverstärker lernte ich den Alkohol kennen und schätzen. Ich verwendete ihn in meiner Küche, wie ich ihn kennen gelernt hatte bei Freunden zu Hause und in Gaststätten. Ich kochte für andere bei mir und schuf mir so auch eine „virtuelle Großfamilie“. Das tat mir gut.

Zu Rock- und Popkonzerten, in Schuldiscos und bei Tanzabenden nahm ich ihn mit oder „tankte“ aus Geldgründen sowie notwendiger Verheimlichung seines Konsums vor Erziehern und Lehrern und dem Verrat von Mitschülern sowie Heimkameraden vorher. So verstärkte ich meinen Rausch, die Illusion des Entfliehens aus der realen Welt. Die Welt war für einen Mo­ment wieder „heil“. Ich konnte Grenzen ausloten und überschreiten, Grenzen, die mir nicht durch engste Familienangehörige sondern durch die staatlich bestellten Erzieherinnen und Erzieher gesetzt wurden. Und wer wollte diese Grenzen nicht hinter sich zurücklassen – wenn es sein musste, auch durch den Rausch. Und Musik im betrunkenen Zustand versetzte mich durchaus in wohlige Ekstase. Ein guter Freund fragte mich bei einem Konzert zwischendurch, ob ich weiß, was ich meinem Körper antue. Ich erschrak, verstand nicht, merkte es mir aber. Darüber hatte ich mir noch nie Gedanken gemacht. Ich war 28 Jahre alt.

Alkohol. Als Kind entfloh ich durch ihn den mir zugefügten körperlichen und seelischen Schmerzen schon durch heimlichen Genuss und verschaffte mir damit Erleichterung – ich war neun oder zehn Jahre alt, als ich die rauschende Wirkung bewusst verspürte. So nahm ich „freiwillig“ Hausarbeiten in der Küche, im Keller und der Speisekammer bei meiner Pflegemutter wahr und erledigte erniedrigende Strafarbeiten und nicht nur mit Gram, weil es die Gelegenheit gab, die alko­holischen Neigen aus den Gläsern und Flaschen auszutrinken. Es war eine, meine geeignete Strategie des Überlebens.

Unaufgeklärt von Pflegeeltern, Heimerzieherinnen und Heimerzieher, Lehrerinnen und Leh­rern, abstinent von Liebe durch Eltern und durch Selbstversuche unter Gleich­altrigen ver­suchte ich meine sexuelle Unerfahrenheit, Befangenheit, die sich bis zu Angst steigern konnte, Unsicherheiten und Scham vor Nacktheit beim Sex mit Hilfe von Alkohol zu mildern. Gefühle entstanden und verwirrten. Ich wurde immer unsicherer und unglücklicher, glaubte und meinte, versagt zu haben, es nicht zu können und fand mich irgendwann asexuell. Der Missbrauch durch einen Mann im Ju­gendal­ter, unter Einfluss von gepflegt getrunkenem qualitativ hochwertigem Alkohol vor und zu wie nach den Mahlzeiten, hinterließ Jahrzehnte lange Ängste und quälende Fragen nach meiner sexuellen Orientierung. Ich ertrank diese allzu oft mit Alkohol.

Alkohol. Unbemerkt, heimlich, heimtückisch, verführerisch entfaltete der Alkohol seine negativen Seiten durch die Sucht, in der ich mich inzwischen befand. Viele der ihm positiv zugeschrie­benen Funktionen und Wirkungen, die ich erfahren und nutzen konnte, schlugen im Verlauf von fast 30 Jahren in ihr Gegenteil um. Alkohol konnte meine Gefühle nicht mehr positiv verändern. Die Sehnsucht nach anderen Gefühlszuständen, nach Unerreichbarem, nach Glück und dem „Paradies auf Erden“ in Familie, Geborgenheit sowie neuen Abenteuern und Erleb­nissen war und ist offensichtlich größer als der notwendige Widerstand gegenüber unüberseh­baren Gefahren. Mein Rückgrat wurde mir durch die Bedingungen in denen ich aufwuchs gebrochen. Mein Widerstand gegenüber alkoholbedingten Gefahren wurde durch den Alkohol erst einmal über lange Zeit auch gebrochen. Die gesundheitlichen, psychischen und sozialen Folgen führten mich notwendigerweise in die Suchtfachklinik. Bis dahin hatte ich mich, hatte der Alkohol mich entmündigt. Er gab mir immer wieder Ratschläge. Er lenkte mich von au­ßen, engte mich ein, machte mich krank. Er bevormundete mich. Ich wurde zu einem Süchti­gen und litt. Ich war dabei, mich aufzugeben. Depressionen, Ängste, Herzrasen, Übergewicht, und ein immer schlechterer körperlicher Zustand waren die Folge. Minderwer­tigkeits- und Schamgefühle, Selbstwertzweifel und Selbstvorwürfe, Hemmungen und Selbst­verachtung ebenso. Ich war nicht mehr Herr meiner Sinne und meines Schicksals.

Janusköpfiger Alkohol: Nicht unerwähnt soll sein, dass Alkoholgebrauch und -missbrauch eine Quelle von Armut ist ebenso wie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, als Erwerbsquelle und Werbeträger. Wie viele Menschen verdienen durch ihn?!

Ich versteckte den Alkohol, ich versteckte mich. Ich spielte die Folgen vor mir selbst und an­deren gegenüber herunter, verharmloste sie. Ich begann anderen die Schuld für meine Situa­tion zu geben. Der Vermieter war Kapitalist und wollte mich durch Mietwucher knebeln, da­bei wollte er nur meine Vertragserfüllung, die pünktliche Zahlung der monatlichen Summe. Ich war Opfer und ein armes Schwein. Ich machte mich dazu. Ich verwendete all meine Ener­gien und Kräfte zur Aufrechterhaltung einer scheinbar heilen Welt. Mit Hilfe des Alkohols konnte ich die mir Angst machende Realität besser ertragen. Veränderungen wurden dadurch nicht notwendig. Und so wurde ich auch blind für die Suchthilfesysteme.

Meine Hausärztin, Frau Dr. Gerda Weiße, thematisierte das Problem bereits 1992 in einem sehr ruhigen Aufklärungsgespräch. Ich wiegelte ab, ahnte, wusste und konnte doch nicht. Es sollten weiter mehr als 10 Jahre vergehen, bis sie mich fachlich klug, sensibel und auch mit sanftem Druck durch meine ersten Schritte der Umkehr begleiten durfte.

Die Vorstellung, ein ganzes Leben ohne Alkohol zu leben, trieb mich in unerträgliche Angst- und Zwangszustände. Denn der Alkohol war inzwischen der einzige „Überlebensgarant“ ge­worden. Jeder auch nur leise gedachte oder an mich u. a. von meiner Lebensgefährtin K. he­rangetragene Gedanke an Veränderung, die zwangsweise mit Reduktion dessen und vollstän­digem Verzicht einher gehen sollte und eigentlich musste, versetzte mich täglich, ständig in unglaubliche Angstzustände und Panik.

  Der Weg hinein und wieder heraus aus der Sucht war unendlich lang, quälend, eine schmerz­hafte Erfahrung. Außenstehende wussten früher von meinen Problemen als ich ihrer gewahr wurde. Hilfsangebote, habe ich überhört. Andeutungsweise Fragen nach meinem Konsum empfand ich ausschließlich als Angriff.

Alle Überlebensstrategien, ausgebildeten Fähigkeiten und Fertigkeiten, soziale Kompetenzen sowie eingeübten positiven Seiten der Rituale wurden verschüttet. Mein Lebensbegleiter sollte nun von einem auf den anderen Tag nicht mehr geeignet sein für mich! Selbsthilfe war für mich doch kein Fremdwort. Ich hatte mir doch selbst geholfen! Ich habe Alkohol getrun­ken, um damit meine Probleme zu lösen. Und nun sollten diese, meine Probleme auf unge­fährliche Weise gelöst werden. Aber wie sollte es ohne Alkohol gehen?

2003 – Weitere Zuspitzung der Krise durch den drohenden Verlust meines Obdachs, meiner Wohnung. Das war ein wirkungsvoller Schlag ins Gesicht, ich begann langsam aufzuwachen. Ich irrte panisch umher, pumpte mir Geld, verschuldete mich, soff vor Selbstmitleid weiter und immer mehr. Ich traute mich nicht. Vertraute ich überhaupt jemandem? Dreimal stand ich vor der Haustür der Suchtberatungsstelle und kehrte dreimal um. War mindestens fünfmal vor der Schuldnerberatungsstelle und zog ohne hineinzugehen in die nächste Kneipe und versoff das gepumpte Geld, statt Miet- und Stromschulden zu bezahlen und machte neue. Einmal wurde der Berater weggerufen und ich nutzte die kleine Wartezeit zur unbemerkten Flucht. Die freundliche und zugleich sehr energische Stimme einer Frau vom Sozialamt, Abteilung zur Verhinderung von Obdachlosigkeit am Telefon, die mich schon zweimal angeschrieben und ihre Hilfe angeboten hatte, sprach aus, was ich nicht sagen konnte. Sie fragte, ob ich ein Alkoholproblem hätte. Ich sagte erlöst nur: JA! – Funkstille, Leere, Pause und dann: „Kom­men Sie! Es gibt Wege zur Verhinderung der Umsetzung der Räumungsklage“. Und dann ging ich wieder los und soff noch sieben Monate, bis ich in die Suchtfachklinik in Motzen (Brandenburg) einzog. Hausärztin, Sozialpsychiatrischer Dienst; Sozialamt, Abteilung zur Verhinderung von Obdachlosigkeit; Umschuldungsverhandlungen mit der Bank; Offenlegung meiner Situation gegenüber dem Amtsgericht, um die Räumungsklage abzuwenden; Mieter­beratungsgespräch mit unermesslicher Schamesröte im Gesicht, Schuldnerberatung; Briefe an den Vermieter; Besuch der Suchtberatungsstelle; Verhandlungen mit dem Stromanbieter mit dem Ziel der Schuldenregelung und des Zuschaltens von Strom; Verhandlungen mit dem Te­lefonanbieter, um wieder telefonieren zu können; Teilnahme an zahlreichen Gruppensitzun­gen in der Suchtberatung, bei denen ich immer noch und immer wieder von meinem Alkohol­konsum zwischen den Sitzungen berichtete; Erklärungen an die Krankenkasse wegen der lan­gen Krankschreibung, Anamnese und dazwischen immer wieder Pausen fürs Trinken um zu „überleben“. Und: Einbeziehung meiner Lebenspartnerin, engster Freunde in die Planungen für die Entwöhnungsbehandlung – also Offenlegen, dass ich Alkoholprobleme habe.

  Wenn Alkohol Probleme macht – und das war Erkenntnis und Gewissheit für mich geworden – ist Alkohol das Problem. Ich sah ein, alkoholkrank zu sein. Und dann brauchte ich noch ein­mal eine Zeit bis ich aussprechen konnte: Ich bin Alkoholiker!

Der erste Schritt nach so vielen ersten Versuchen und Schritten. Die Alkoholkrankheit entwi­ckelt sich ohne eigenes Wollen, und nur mit gutem Willen kann sie nicht aufgehalten werden.

Heute bin ich mehr als sieben Jahre trocken. Was für ein berauschendes Gefühl.

 

 

Titelthema 04/11: Es gibt ein Leben nach der Therapie

Es gibt ein Leben nach der Therapie

Interview mit Dr. Thomas Reuter, OA der Klinik für Abhängigkeitserkrankungen in der DRK-Klinik Berlin-Mitte und Vorsitzender der Landesstelle Berlin für Suchtfragen

Herr Dr. Reuter, seit wann kann bei Ihnen entzogen werden?

Seit 1983, damals noch am Standort Mariendorf, und seit dem 1. Januar 1997 hier im Wedding.

 Wie viele Patienten mit einer Abhängigkeitserkrankung wurden während dieser Zeit behandelt?

Ich schätze, dass in den zurückliegenden fast 30 Jahren ca. 25.000 Patienten bei uns behandelt wurden.

 Kann man in der Hauptstadt eine Tendenz bei Suchterkrankungen erkennen?

Im Laufe der letzten zehn Jahre haben wir etwa 12.500 Behandlungen wegen Alkoholismus jährlich in Berlin. Diese Zahl ist relativ stabil.

 Welche Abhängigkeiten werden in der „Drontheimer“ behandelt?

Ich sage immer spaßeshalber, wir machen Entgiftungen aller Art. Wir entziehen von allen stoffgebundenen, aber auch stoffungebundenen Süchten, wie z. B. der Glücksspielsucht.

Wann ist eine stationäre Entgiftung angebracht?

Generell ist ein stationärer Entzug angesagt, wenn es bei früheren Entzügen schon Komplikationen gab (Krampfanfälle, Delirien), also speziell bei Alkohol. Und auch dann, wenn ambulante Behandlungen nicht zum Ergebnis (Abstinenz) geführt haben, ist ein stationärer Entzug angesagt.

Welche „organisatorischen“ Voraussetzungen müssen erfüllt werden?

Der Patient braucht eine Einweisung von seinem behandelnden Arzt und die Bestätigung der Kostenübernahme durch seine Krankenkasse.
Wenn das nicht möglich ist, kann auch bei entsprechenden Voraussetzungen im Einzelfall eine Notfallaufnahme direkt erfolgen.

Was kommt auf den Patienten bei einer Entzugsbehandlung zu?

Das erste ist, die Intoxikation abklingen zu lassen und die Entzugssyndrome zu begleiten bzw. zu behandeln. An zweiter Stelle steht die Diagnostik eventuell begleitender Erkrankungen, also gibt es schon Schädigungen von Organen bzw. psychischer Art. Und an dritter Stelle steht, was das eigentlich Wichtige und Qualifizierende einer Entzugsbehandlung ausmacht: den Patienten in eine Richtung zu führen, die ihm erlaubt, zukünftig ein suchtmittelfreies Leben zu führen. Wobei ich die heute durch die vorläufige Kostenzusage der Krankenkassen üblichen sieben Tage für eine Entzugsbehandlung für zu kurz halte. Viele Patienten sind zwar nach 7 Tagen körperlich erholt, aber noch nicht psychisch.

Wie wichtig ist die Einbeziehung der Angehörigen für eine erfolgreiche Behandlung?

Das ist ein wichtiges wie auch schwieriges Kapitel. Wir selber haben ja hier in der Klinik ein- bis zweimal in der Woche Angebote für Angehörige, die jedoch eher spärlich besucht werden. Dies ist vordergründig wohl der Einstellung des Angehörigen zu danken, von dem Partner befreit und entlastet zu sein und dass die Klinik ihn schon wieder in Ordnung bringt. Unseres Erachtens steht aber dahinter die wohl am ehesten unbewusste Ahnung, dass auch auf den Angehörigen Veränderungen und Anstrengungen zukommen, damit ein gemeinsames abstinentes Leben möglich wird. Und hier ist der solidarische Verzicht auf das Suchtmittel noch die geringfügigste Anforderung für den Angehörigen. Es geht letztendlich um die Entdeckung, wo einem vielleicht das Trinken des Partners sogar Vorteile verschafft hat bzw. man – und bitte natürlich nie bewusst und absichtlich – zum Teil auf Kosten der Gesundheit des Partners gelebt hat. Wir denken, dass der Angehörige hierzu und für die daraus notwendigen Veränderungen genauso wie der Betroffene der Hilfe und der Selbsthilfe bedarf.

Es ist also eine Illusion zu glauben, ,,den biege ich mir schon hin“?

Ja, natürlich. Es ist bekannt, dass in der Abstinenzphase die Scheidungsquoten steigen. Ich höre auch in Angehörigengesprächen schon mal folgende Aussage: Herr Doktor, es ist ja schön, dass mein Mann jetzt nicht mehr trinkt, und er macht auch wieder alles und hat sogar einen Job bekommen, dafür bin ich Ihnen auch sehr dankbar, aber da gibt es so’n paar Sachen, da war er mir früher lieber. Da war er pflegeleichter. Und er geht jede Woche in eine Gruppe, was macht er denn da? Lernt er dort fremde Frauen kennen? Da gibt es alle möglichen Verdächtigungen, Zweifel und Unverständnis. In den betroffenen Familien haben sich natürlich im Laufe der Sucht eines Partners Strukturen herausgebildet, z. B. was Entscheidungen betraf. Da hat immer der nicht Abhängige alles entschieden, plötzlich will der Abstinente auch wieder entscheiden – was ja völlig legitim ist. Damit muss der Partner etwas hergeben, was einer der betörendsten Stoffe im Leben ist, und der heißt Macht.

Nach dem Entzug folgt in der Regel eine längere Entwöhnungsbehandlung. Da gibt es unterschiedliche Möglichkeiten: stationär, ambulant, Tagestherapien oder gleich Selbsthilfegruppen. Können Sie hier eine Empfehlung aussprechen?

Es gibt schon Anhaltspunkte, welche Form der Therapie bei wem erfolgreich sein könnte. Grob kann man sich an folgenden Punkten orientieren: Eine ambulante Therapie kann dort angewendet werden, wo ein intaktes und suchtmittelfreies soziales Umfeld besteht – Angehörige, Freunde usw. Außerdem braucht der Patient eine Tagesstruktur, am besten eine Arbeit. Wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, sollte meines Erachtens eine stationäre Therapie bevorzugt werden. Wenn aus der Anamnese hervorgeht, dass für den Patienten in den letzten Jahren Abstinenzzeiten, die länger als ein bis zwei Monate dauerten, nicht bekannt sind, ist ebenfalls von einer ambulanten Therapie abzuraten.

Bei ambulanten Therapien, die ebenfalls von den Rentenversicherungsträgern finanziert werden, wird eine mindestens vierwöchige Abstinenz nach der Entzugsbehandlung gefordert. Dazu gibt es in den Beratungsstellen besondere Vorbereitungsgruppen, um diese nicht unkritische Zeit zu überbrücken.

Die ambulante 6-Wochen-Therapie des AKB e. V. ist ein besonderer Fall. Für mich ist das übrigens keine Therapie, weil dort keine hauptamtlichen Therapeuten sitzen, sondern eine sechswöchige Selbsthilfemaßnahme unter Leitung langjährig trockener Alkoholiker. Sie kann allerdings sehr wirksam sein, zumal wenn andere Therapien nicht erfolgreich waren. Wer das durchsteht, hat gute Chancen auf eine dauerhafte Trockenheit. Ihr Vorteil ist ja auch, dass man sie nicht beantragen muss.

Gibt es Aussagen zur Häufigkeit von Rückfällen?

Hinsichtlich der Rückfallquote nach Entwöhnungsbehandlungen waren nach einer Untersuchung von 1986 nach vier Jahren noch 46% abstinent und nach zehn Jahren geht man von einer Quote von 25% aus. Für die Entzugsbehandlung nimmt man eine Rückfallquote von etwa 70% im ersten Jahr an. Insgesamt sind diese Zahlen, verglichen mit anderen chronischen Erkrankungen, gar nicht so schlecht und es besteht kein Grund zu verzweifeln, wenn es im ersten Anlauf nicht klappt.

Wie definieren Sie „Erfolg“ bei Abhängigkeitserkrankungen?

Ohne in Beliebigkeiten zu verfallen, kann eine Abstinenzzeit von z. B. 3 Monaten für den einen Abhängigen einen großen Erfolg darstellen für den anderen aber einen deutlicher Misserfolg. Generell ist aber auch hier der Selbsthilfe zu folgen: jeder trockene Tag ist ein guter Tag und des Dankes am Abend wert.

Gibt es für Sie einen Unterschied zwischen „Ausrutscher“ und „Rückfall“?

Nein, ich bin da ziemlich puristisch: ein Rückfall ist der erste Konsum nach einem Entzug. Ich fürchte bei dieser Differenzierung die Interpretationskunst der Süchtigen, die aus fünf zu gerne eine gerade Zahl macht. Wichtig ist, dass der Betroffene darüber redet. Ein Rückfall ist ja nicht der Untergang der Welt, aber eben auch nicht eine zu vernachlässigende Kleinigkeit…

Viele Betroffene, auch Angehörige, sind der irrigen Meinung, nach einem Entzug und eventuell noch einer Entwöhnungsbehandlung wäre alles wieder gut, man sei sozusagen „geheilt“, oder wie in Medien oft behauptet, ,,Exalkoholiker“. Wie ist der Standpunkt des Mediziners dazu?

Wir Mediziner unterscheiden zwischen akuten und chronischen Erkrankungen. Die Alkoholkrankheit zählt zu den chronischen, also lebenslangen Erkrankungen. Sie ist damit zusammen mit Krankheiten wie dem Bluthochdruck oder der Zuckerkrankheit nicht heilbar, aber gut behandelbar, vorausgesetzt es findet eine kontinuierliche Behandlung statt. Es gibt aber auf die Dauer keine professionelle Therapie bei einer Alkoholabhängigkeit. Der Entzug ist die Einleitungsphase, die Entwöhnung die psycho-therapeutische Behandlung, vielleicht gibt es auch eine Nachsorge oder noch eine Adaptationsbehandlung, aber dann beginnt es: das Leben nach der Therapie. Und hier gibt es meines Erachtens nur eine Möglichkeit: die Selbsthilfe. Sie vermittelt so wichtige Dinge wie Solidarität, Hoffnung, Erfahrungsaustausch, bewahrt vor Übermut und vielem mehr. Hinsichtlich ihrer Wirksamkeit spricht die Vielzahl der Gruppen eine eindeutige Sprache: denn was nicht wirkt, hätte sich nicht so lange gehalten. Und langfristig bietet die Selbsthilfe noch einen großen Vorteil, den keine professionelle Hilfe vermitteln kann: Der Zuckerkranke bleibt immer auf den Arzt und den Apotheker angewiesen. Die Suchtkranken können jedoch über die Selbsthilfe ein Maß an Freiheit, an Unabhängigkeit erlangen, das einem Diabetiker verwehrt bleibt. Und deshalb ist es so wichtig, dass sich der Abhängige nach der Entwöhnung – oder besser schon vorher, dann wird es auch im Übermut nach einer erfolgreichen Therapie nicht vergessen – einer Selbsthilfegruppe anschließt. Wobei nicht immer die erste die beste sein muss, aber man über dem Suchen das Finden auch nicht vergessen sollte.

Herr Dr. Reuter, herzlichen Dank für das Gespräch!

Interview: Jürgen Schiebert

 

 

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