Titelthema 03/11: Rückfall oder Vorfall

Herr M. lernt sprechen –

über falsche Schamgefühle, Rückfälle und Vorfälle

Dies ist der letzte Teil unserer Serie über Rückfälle. Während es in den stationären Einrichtungen meist Spielregeln gibt, wie mit Rückfällen umzugehen ist (siehe auch Artikel von Dr. Lindenmeyer in der Ausgabe 2/2011) plagen sich Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und auch Angehörige oft mit der Frage, was jetzt genau die richtige Entscheidung ist.

Handelt es sich um einen Notfall? Trinkt er sich tot? Was soll ich tun, wenn er nicht mehr ans Telefon geht? Was soll ich tun, wenn er betrunken Auto fahren will?

Viele Fragen. Man kann aber nicht damit rechnen, dass sich der Rückfällige offenbart, dass er mitwirkt an der Behandlung. Er lügt, weil er sich schämt. Das ist sein Problem, aber auch das Problem der Helfer.

Herr M. ging schon 17 Jahre zum gleichen Arzt. Immer wenn er krank war zählte er ihm seine Symptome auf und der Arzt stellte die Diagnose. Bei Fieber tippte er meist auf Grippe und schrieb ihn krank. Einmal war die Ursache des Fiebers aber eine andere, nicht Grippe, sondern eine Blinddarmentzündung lag vor, und nun schickte der Arzt ihn sofort zu den Chirurgen, ins nächste Krankenhaus. Die Rettung fand in letzter Minute mit dem Skalpell statt, der Blinddarm wurde herausgeschnitten.

So hatte Herr M. im Laufe der Jahre ein gutes Vertrauensverhältnis zu seinem Arzt aufgebaut. Bei Bauchschmerzen, Kopfschmerzen oder Fieber ging er hin, und ihm wurde geholfen. Trotzdem erzählte er seinem Arzt nicht alles. Manche Sachen erzählte er nur seinem Beichtvater, der meistens gnädig ein „Ego te absolvo“ aussprach und ihn zur Buße drei Vaterunser beten ließ.

Manche Begebenheiten erzählte er weder dem Arzt noch dem Pfarrer. Immer wenn er sich schämte, erzählte er niemandem etwas. Er schämte sich z. B. dafür, dass er nicht die Leistung erbrachte, die seine Eltern von ihm erwartet hatten. Eigentlich sollte er ja intelligent, großartig und berühmt werden. Zehn Vornamen hatten sie ihm verpasst und damit ihre hohen Erwartungen an ihren Sohn deutlich gemacht. Aber, seine Versuche grandios zu werden, scheiterten. Der Doktortitel, den er heimlich in den arabischen Emiraten gekauft hatte, war eben nicht echt, und das erzählte er niemandem. Besonders geheim hielt er auch seinen Weinkeller und nicht nur den, sondern auch das Trinken der Produkte, die dieser Keller enthielt. Früher war das anders gewesen, da haue er mit seinem Weinkeller geprahlt und nur wenige Gläser getrunken. Früher hatte der Wein auch seine Gefühle, klein und mickrig zu sein, beseitigt. Zwei Glas reichten und er war der Größte. Seit mehreren Jahren hatte er jedoch zunehmend den Eindruck, den Wein nicht mehr dosiert trinken zu können. Es wurde immer mehr, als er sich vorgenommen hatte. Das war ihm peinlich. Er begann sich dafür zu schämen, genauso wie für den falschen Doktortitel und die vielen Vornamen. Wofür man sich schämt, darüber schweigt man, das hatte er gelernt. Aber, eines Tages musste seine Frau ihn ins Krankenhaus fahren, weil er plötzlich bewusstlos zusammengebrochen war und mit Armen und Beinen schreckliche Zuckungen ausführte. Das war dramatisch, ein Notfall. Im Krankenhaus erhielt er eine Spritze und eine Diagnose und dann wurde er wieder entlassen. Die Spritze half, aber an die Diagnose glaubte er nicht. Von Alkoholismus war die Rede, ein Wort, über das man nicht spricht, jedenfalls nicht, wenn es einen selbst betrifft. Nach drei weiteren Notaufnahmen im Krankenhaus sagte seine Frau, er müsse nun in eine Beratungsstelle gehen, sonst würde sie ausziehen. Herr M. tat, was seine Frau wollte. Aber er schämte sich und er war wütend und traurig.

In der Beratungsstelle hörte man ihm aber überraschend freundlich zu und er ging wieder hin, mehrmals sogar. Er erzählte dort aber nur die Hälfte. Den Sturz von der Kellertreppe erzählte er nicht, auch nicht, dass er alkoholisiert auf seinen Sohn eingeschlagen hatte und auch nicht, dass er sich bei seiner Arbeit mit den Bilanzen vertan hatte, was an seinen Entzugserscheinungen lag.

Wieder sagte jemand, er sei Alkoholiker. Ein schreckliches Wort. Er überlegte, ob er den Titel Alkoholiker nicht in den arabischen Emiraten verkaufen könnte, wo er ja seinen falschen Doktortitel gekauft hatte. Aber er sah ein, das war eine Schnapsidee, den Titel würde ihm ja niemand abkaufen. Alkoholiker wollte er nicht sein. Für Grippe und Blinddarmentzündung hatte er sich nicht geschämt, für die Alkoholabhängigkeit schämte er sich. Dann sollte er sogar noch in eine Selbsthilfegruppe gehen, wo nur Alkoholiker sitzen. Eine schreckliche Vorstellung. Als er aber hörte, dort könne man anonym hingehen, man brauche nur seinen Vornamen sagen, dachte er daran, es zu versuchen. Einmal ist keinmal, dachte er. Tatsächlich waren da nur Alkoholiker, und die sahen sogar völlig normal aus. Menschen wie du und ich. Man sprach übers Trinken und Rückfälle. Er sagte nichts, er hörte nur zu. Dann achtete er darauf, möglichst ungesehen wieder zu verschwinden.

Herr M. wurde noch mehrmals rückfällig. Immer wenn er sich schämte, stieg er in seinen Weinkeller hinab. Einmal ist keinmal, dachte er. Nach ein paar Gläsern Wein verschwand das Schamgefühl. Ein wunderbares Mittel, der Wein. Wenn nur die Nebenwirkungen nicht wären … Er musste wieder ins Krankenhaus, ihm wurde gekündigt und seine Frau zog jetzt manchmal an den Wochenenden zu einer Freundin. Noch immer verschwieg er große Teile seines alkoholischen Lebens, außerdem begann er nun zu schwindeln. Wenn er Wein kaufen ging, erzählte er, er hätte Weinessig gekauft. Dem Pfarrer sagte er nichts und den Arzt hatte er gewechselt, nachdem der die eigentümlichen Entlassungsberichte mit der Diagnose Alkoholismus aus dem Krankenhaus erhalten hatte. Der neue Arzt hatte auch keine Ahnung und so verfloss die Zeit und Herr M. wurde einsamer.

Eines Tages sagte ihm eine Stimme, er solle nun einhalten und umkehren. Ob es seine eigene Stimme war, die seiner geschiedenen Frau, die des Krankenhausarztes oder eine göttliche Stimme, das wusste er später nicht mehr. Aber, Herr M. hielt ein, Herr M. hörte auf zu trinken.

Einhalten und umkehren hieß auch auspacken. Herr M. packte aus. Er erzählte von seiner einsamen Wirklichkeit, von den Symptomen seiner Krankheit: dem Arzt, der Gruppe, der Beratungsstelle und sogar seinen Eltern. Scheitern ist schrecklich. Es gehört Mut dazu, sich Niederlagen zu stellen. Aber Herr M. wollte nicht mehr der ewige Verlierer sein. Er sah nun, dass er nur überleben würde, wenn er es mit Offenheit versuchen würde. Das Echo war unterschiedlich. Seine Eltern verstanden ihn nicht, aber die in der Beratungsstelle und in der Selbsthilfegruppe respektierten ihn. Anders als vermutet, erhielt er Anerkennung und Hilfe. Die neue Offenheit half ihm, endlich eine wirksame Therapie anzunehmen, und er ging für ein paar Monate in eine Fachklinik. Dort konnte er prüfen, welche Schamgefühle nützlich waren und welche überflüssig. Er befasste sich auch mit anderen Gefühlen: mit Ängsten, Unsicherheit, Unruhe und resultierenden Trinkwünschen. Er sprach in der Gruppe über seine Rückfälle, seine Niederlagen. Nun schämte er sich, dass er sich so lange geschämt hatte. Welch ein Zeitverlust! Hätte er doch seinem Arzt rechtzeitig reinen Wein eingeschenkt, wie damals bei der Blinddarmentzündung! Dann hätte der ihn doch auch sofort eingewiesen – nicht zu den Chirurgen, sondern auf die Entzugsstation. Aber, jetzt war er endlich abstinent und er wurde selbstsicherer. Ein neues Leben begann. Manches konnte repariert werden, manches nicht. Seine Frau zeigte wieder Interesse an ihm, was daraus werden würde, blieb offen. Sein früherer Arbeitgeber war nicht mehr interessiert: Kündigung blieb Kündigung. Aber manche Mitglieder der Selbsthilfegruppe wurden allmählich zu Freunden. Es gab noch viele Schatten in seinem Leben, aber nie wieder wurde es so dunkel, wie es früher in seinem Weinkeller gewesen war.

Heidt-Müller

Titelthema 02/11: Es ist mal wieder passiert

Das Rätsel Rückfall oder: „… es ist mal wieder passiert …“

Rüdiger-Rolf Salloch-Vogel

Ich war noch jung, etwa vier Jahre alkoholabhängig, als ich mit dem Zug zum Studium nach Düsseldorf fuhr. Kurz vor einer Haltestelle bekam ich einen Angstanfall. An der Haltestelle stieg ich aus und blickte mich um, als der Zug abgefahren und der Bahnsteig leer war. Es war ein wunderschöner Friihsommennorgen, ich konnte in das Ruhrtal hinunter blicken, auf die Mintard-Brücke in der Ferne. Die Trinkhalle war offen und in der Trinkhalle eine freundliche Verkäuferin. Ich war nur wenig hin und her gerissen. Ich spürte zwar genau, dass das Trinken falsch sein würde, aber dennoch trank ich. Dieses Ereignis ist fast 50 Jahre her und ich habe es nie vergessen.

Als abstinenter Alkoholiker, der durchgängig trocken bleiben durfte, bin ich mir durchaus darüber im Klaren, dass auch ich stets mehr oder weniger gefährdet bin, rückfällig zu werden, was zu dem Schluss führen kann: ,.Du solltest Dein Maul nicht so weit aufreißen“. Lange habe ich gedacht, es entwickelt sich eine Art negative Magie, wenn ich zu „übermütig“ werde und ein solches Thema anschneide. Das rückt aber das ganze Rückfallgeschehen in die Nähe einer Art bösen Rückfallzaubers, dem man sich aussetzt, wenn man versucht, Distanz aufzunehmen und etwas über den Rückfall zu schreiben. Heute, auf meinem Weg in eine weitere zufriedene Nüchternheit, weiß ich: Meine Erfahrungen verpflichten mich sogar dazu, Erkenntnis, Erfahrung, Kraft und Hoffnung weiterzugeben, und so Denk- und Gefühlsanstöße zu geben, um vielleicht Rückfälle zu verhindern.

Es wird gerne übersehen, dass Rückfälle im Leben eines Alkoholikers oder Drogenabhängigen etwas ganz Normales sind: Alkoholismus ist zum Beispiel eine Rückfallkrankheit. Seltsamerweise erinnern sich nur wenige Patienten in einer Therapie an diese Tatsache und bezeichnen etwas als Rückfall, was nach einer Therapie stattgefunden hat. Und das stimmt eben nicht. Immer und immer wieder haben sie versucht, kontrolliert zu trinken, Tabletten oder Drogen zu nehmen, oder zu kiffen, um immer wieder festzustellen, dass sie genau das nicht kontrollieren können. Dabei werden Süchtige zunehmend unfähiger, die erforderlichen Schlüsse aus diesem Erleben zu ziehen, bzw. auf ihr Gewissen oder die Aussagen von Freunden und Angehörigen zu hören.

Vielleicht ist es zu Beginn dieser Arbeit wichtig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass jeder Suchtkranke seine persönliche Sucht hat, so wie wir zum Beispiel, auch unterschiedlich gekleidet sind. Wir sind ja von Anfang an, auch in jüngsten Jahren, schon eine Persönlichkeit, die sich entwickelt und reifen kann, in der zwar keine „Sucht steckt“, aber doch wohl Defizite vorliegen, welche die Entwicklung behindern und bestimmte Strukturmerkmale prägen. Wenn diese in Richtung Sucht weisen, nennt man das, wie bei jeder anderen Krankheit auch, Prädisposition. Beispielhaft sei auf den so genannten Reizschutz verwiesen. Einfach gesagt, es gibt Menschen mit einem sehr dünnen und solche mit einem sehr dicken Fell. Dabei kann man sich gut vorstellen, dass jemand, der sehr empfindlich und dünnhäutig auf Alltagsereignisse reagiert und zuhause auch noch einen Dauerstress hat, geradezu glücklich ist, wenn er zum ersten Mal die angstlösende und befreiende Wirkung des Alkohols spürt: Fachleute nennen diese Wirkung die .Erlöserwirkung“ einer Droge. Deshalb sagen auch manche Suchtkranke: ,,Ich war vom ersten Schluck an abhängig.“ Niemand wird hinter diesem sehr angenehmen Gefühl den Beginn einer Sucht vermuten. Warum sollte man in einer trinkenden Gesellschaft, in der auch ein Rausch erlaubt ist, sich von Anfang an von einer Droge abschneiden, die so angenehm und hilfreich wirkt?

Seltsamerweise schmeckt vielen Süchtigen zu Beginn der Alkohol nicht, so dass ich manchmal denke, dass wir uns unsere Süchte wie Rauchen, Trinken oder Drogen nehmen am Anfang geradezu „anquälen“ müssen. Da wir auf die Erlöserwirkung der Droge gar nicht verzichten wollen oder können, wechseln nicht wenige nach jedem Desaster die Alkoholart. Sie hofften und nehmen an, dass sie diesen Alkohol kontrolliert trinken können und vielleicht doch etwas Besonderes wären in der Welt der Vieltrinker. Sie können sich nicht vorstellen, dass sie eines Tages herabgestuft werden könnten auf dieses primitive ,,Mund auf, Stoff rein, Wirkung abwarten.“

Bis zum heutigen Tage erleben Suchtkranke Rückfälle unterschiedlich. Nicht selten als etwas Unerklärliches, Plötzliches. Und weil sie sich dieses Ereignis nicht erklären können, suchen sie sich irgendein Ereignis aus, das, je eindringlicher es ist, einen Rückfall am besten erklärt. Dabei dient das Ereignis in der Regel als Begründung für den Rückfall. Zurzeit sind ,,Mobbing“, Burnout oder ein Todesfall die .Renner“, wenn es darum geht, einen Rückfall zu begründen. Beispielhaft mache ich folgendes klar: Was glauben Sie, wie es in Deutschland aussähe, wenn jeder, der gemobbt wird oder ein Burn-out hat und dagegen Alkohol trinkt, Alkoholiker würde? Es muss also eine besondere Reaktionsweise bei bestimmten Menschen geben, die in den genannten Situationen unbedingt und wider besseres Wissen die Erlöserwirkung der Droge brauchen, und sei es auch nur für eine halbe Stunde. Und diese Wirkung ist so stark, dass auch der Wunsch nach Abstinenz nicht eingehalten werden kann.

Je älter ich werde, desto mehr neige ich zum Einfachen. Das Einfache haftet oft lebenslang, wie mein Erlebnis auf dem Bahnhof als Student zeigt, während ein Regelwerk durchaus schnell wieder vergessen werden kann, wenn es keine „Nahrung“ erhält und immer wieder vertieft und eingeübt wird.

Für das Einfache möchte ich zwei Beispiele nennen:

Marlatt und Gordon haben vor 25 Jahren bereits beschrieben, dass Unzufriedenheit im Leben durchaus in einen Rückfall münden kann. So einfach ist das: Ich habe dafür zu sorgen und die Verantwortung dafür zu tragen, dass ich so wenig unzufrieden wie möglich bin und dass ich zunächst Verständnis dafür aufbringen muss, warum ein durch eine Droge geschädigtes Gehirn etwas mehr Ruhe braucht und ich also vielleicht zunächst nicht allen familiären, beruflichen und gesellschaftlichen Verpflichtungen nachgehen kann.

Klaus Grawe, hat in seinem Buch „Psychologische Therapie“ auf etwas sehr Wichtiges hingewiesen:

Es ist einfacher, eine Angst- und Panikstörung psychotherapeutisch zu behandeln als eine Alkoholkrankheit. Das liegt daran, dass die Panikstörung sich bis zum völligen Verschwinden bessert, wenn wir spüren und erkennen können, wie die Panik durch Aushalten und durch bestimmte Verhaltensweisen nachlässt. Dieses Nachlassen gibt uns einen großen positiven Schub, so dass wir im nächsten Arbeitsschritt schon etwas optimistischer daran arbeiten können.

Wenn wir uns aber fest vornehmen, nicht mehr zu trinken, also nicht mehr rückfällig zu werden, stehen wir einer Welt gegenüber, in der es dutzendfache Verführungen gibt, die versuchen, unser Vorhaben und die mühevoll aufgebaute Abstinenz zu schwächen.

Die Stärkung meiner „guten“ Vorsätze braucht ,,…regelmäßige Nahrung und Pflege…“ , um dieses Vorhaben gegen das Eindringen alt gewohnter Verführungen abzuschirmen. „… Die Anonymen Alkoholiker haben daraus eine folgerichtige Konsequenz gezogen…“, schreibt Grawe.

Ich war derartig verblüfft, dass ein Professor für Medizinische Psychologie und Psychotherapieforscher nun ausgerechnet AA erwähnt, dass ich sofort nachgelesen habe, ob das auch so in dem Lehrbuch steht. Offenbar meint Grawe damit, dass alleine die Tatsache, dass ich regelmäßig ein- bis zweimal in der Woche in eine Selbsthilfegruppe gehe und im Gespräch laut sage: ,,Mein Name ist Rüdiger, ich bin Alkoholiker“ – mein Abstinenz-Vorhaben vertieft und verstärkt.

Gute therapeutische Möglichkeiten, über die Lindenmeyer ausführlich geschrieben hat, sind zum Scheitern verurteilt, wenn die Patienten nicht an deren Effektivität glauben können oder wollen. Der kleine entscheidende Schritt zum Glauben hin ist die Akzeptanz der Tatsache, dass ich nicht trinken kann, also abstinent leben muss. Nur, wenn ich das zu Anfang wenigstens zeitweise weiß, werde ich auch bereit sein, Therapeuten oder längerfristig abstinente Suchtkranke zu fragen, welche Möglichkeiten es gibt, um meine Abstinenz zu erhalten.

Denn wenn ich alleine langfristig abstinent leben könnte, hätte ich das ja wohl schon längst getan und es wäre nicht erforderlich gewesen, eine Entgiftung und eine Entwöhnung durchzuführen.

Selbsthilfegruppen haben, wie wir nach über 100 Jahren wissen, eine derartige abstinenzstärkende Wirkung, dass wir heute von einem Kunstfehler sprechen müssen, wenn Therapeuten oder Ärzte uns eine solche Selbsthilfegruppe nicht dringend zur langen Nachsorge empfehlen.

Allen guten therapeutischen Hilfsmöglichkeiten zum Trotz, erfahre ich auch immer wieder, dass in einer stationären oder ambulanten Therapie nicht deutlich genug darauf hingewiesen wird, wie lange der Aufbau einer stabilen Abstinenz und einer sicheren Genesung dauert. Das halte ich für ein großes Unglück, denn der Glaube an die Naturwissenschaften hat in der heutigen Zeit auch dazu geführt, dass wir davon ausgehen, dass ein therapeutischer Prozess ein bestimmtes Ergebnis hat, welches dann auch tragen muss. Ein Beispiel: Sechs Tage nach einer Blinddarmoperation kann man wieder nachhause gehen.

Suchtkranke sind aber bei chronischem Verlauf in der Regel geistig-seelisch und körperlich derartig geschädigt, dass es etwa drei Jahre dauert, bis ich mich in etwa zu dem oder der entwickelt habe, der oder die ich bin. Mich also besser erkenne und meine Abstinenz besser annehmen kann.

Der ständige Kontakt mit der trinkenden Welt ist für einen abstinenten Alkoholiker zunächst viel anstrengender als er glaubt. Dazu kommt das Bemühen, sich im familiären und beruflichen Umfeld wieder zu rehabilitieren, das – vielleicht auch zu Recht – mit Vorhaltungen nicht geizt. Das erste „einfache“ Phänomen, das Suchtkranke zu Beginn der Abstinenz heimsucht ist eine ausgeprägte Erschöpfung.

Die Umwelt erwartet von mir, auch wenn es manchmal nicht ausgesprochen wird, dass jetzt „alles gut ist“ und ich wieder so sein soll wie früher. Die Menschen denken, mein jetzt behinderter Geist und Körper habe sich nicht verändert und sei gesund in dem Moment, in dem ich keinen Alkohol mehr zu mir nehme. Früher hat mich die Droge wie eine Schicht Styropor abgeschirmt. Jetzt fühle ich mich in den ersten Wochen und Monaten, als ob mir bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen sei, so dünnhäutig bin ich und leide unter dem enormen, hohen Informationszufluss. Es gibt nur wenige Menschen, die sich nach der Entwöhnung gut und gesund fühlen, in der Regel sind die Betroffenen müde, matt, verwirrt, ängstlich und traurig. Wer will schon zugeben, dass er sich um 16.00 Uhr müde und erschöpft nach des Tages Arbeit ins Bett legen muss und erst zum gemeinsamen Abendessen wieder aufstehen kann. Auf diese Erschöpfung müssen Süchtige auch psychologisch vorbereitet werden! Dazu kommt nicht selten eine über 24 Monate gehende Schlafstörung, so dass wir in der Nachsorge die Menschen immer wieder ermutigen müssen, dass die Erschöpfung und auch die Schlafstörung eines Tages vorüber gehen werden (40 Zigaretten und 3 1 Kaffee pro Tag sind die falsche Behandlungsart!).

Ein wichtiger Grund für die chronische Erschöpfung ist auch etwas, das ich „Gefühlsmatsch“ nennen will. Süchtige Menschen sind am Ende ihrer Erkrankung kaum noch im Stande, Gefühle differenziert zu erleben und auszuhalten. Nicht suchtkranke, erwachsene Menschen erleben in der Regel gleichzeitig unterschiedliche Gefühle wie z. B. Angst und Freude und können diese auch differenziert auseinanderhalten. Suchtkranke können das oft nicht und werden nicht selten quasi überflutet von einem großen Volumen undifferenzierter Gefühle in unterschiedlicher Qualität und Quantität, dem von mir so genannten „Gefühlsmatsch“. Das auszuhalten ohne zu trinken, ist enorm anstrengend und erschöpfend.

Ein zweites „einfaches“ Hindernis beim Erhalt meiner Abstinenz ist meine eigene Unehrlichkeit.

Ich habe viele Jahre gebraucht um zu begreifen, dass sich niemand so betrügen kann wie ich mich selbst. Meine persönliche Wahrheit, der familiäre Zusammenbruch, der finanzielle Zusammenbruch und die Tatsache, dass ich nun zu den Alkoholikern gehörte, ließ mich schier verzweifeln und mein Leben unwert werden und deshalb vieles leugnen, was ich mir unbedingt hätte klarmachen müssen. Es ist sehr schwer, eingeschliffene Verhaltensweisen zu ändern. Ich hatte bis zu meinem Tiefpunkteinen ziemlich großen Mund und eine ganze Anzahl von Menschen verletzt, um beruflich vorwärts zu kommen und hatte noch lange nicht begriffen, dass Ehrlichkeit mich nicht verletzlich machen würde und dass niemand vorhatte, mich auszulachen. Natürlich haben Menschen Wetten darüber abgeschlossen, wann ich wieder trinke, und ich habe mich in den ersten Jahren tierisch darüber geärgert, wenn mal wieder jemand erzählte, er hätte gesehen, wie ich betrunken in ein Krankenhaus eingeliefert worden sei. Aber was soll man dagegen machen?

Es war schon schmerzlich genug, dass die alten Methoden meines Lebens nicht mehr greifen konnten, ich aber noch keine neuen entwickelt hatte. Ich fand es ziemlich schrecklich, Probleme nicht mehr so einfach lösen zu können wie früher. Es war ein großer Schritt in meinem Leben, als mir eines Tages jemand beibrachte und ich begreifen konnte, dass ich nicht von heute auf morgen über meine Wahrheit verfügen kann, aber dass es genügt, wenn ich die Bereitschaft dazu aufbringe, ehrlich zu werden und vorsichtig zu üben beginne. Als ganz einfache Übung habe ich damit begonnen, den Versuch zu unternehmen, einmal einen ganzen Tag ehrlich zu sein zu mir und anderen, ohne dies jemandem zu sagen und ohne jedes „Theater“. Das ist ein großer Schritt gegen Rückfälle, wenn ich endlich spüren kann, dass Ehrlichkeit niemals falsch sein kann.

Sehr wichtig sind die Erkenntnis und der Glaube daran, dass es ein Suchtgedächtnis gibt. Jeder kann das im Internet oder in der Literatur nachlesen. Ich habe allerdings auch erlebt, dass ein angehender Arzt, Psychologe oder Sozialarbeiter den Suchtkranken erklärt hat, es gebe kein Suchtgedächtnis, das habe er im Studium gelernt. Deshalb möchte ich ein letztes Beispiel aus meiner persönlichen Geschichte zitieren:

Im Rahmen einer recht komplizierten Operation sollte ich nach langer Abstinenz während der Operation Opiate bekommen. Natürlich habe ich dem Oberarzt der Anästhesie alles vorgetragen, was uns zur Verfügung steht, aber seine Antwort war schlicht: ,,Sagen Sie mir, was ich Ihnen stattdessen geben soll, damit wir Sie überhaupt operieren können!“

Die Operation verlief gut, und ich war überrascht, was ich für eine glänzende Laune nach der OP hatte, meine gebrochenen Rippen taten, ebenso wie die operierte Schulter nicht mehr wesentlich weh. Ich fand die Narkose sei eine tolle Sache gewesen. Und teilte das auch jedem mit, der es hören wollte.

Ich war etwas misstrauisch, weil ich mich gerne an die Operation erinnerte und auch nichts dagegen gehabt hätte, wenn man mich zwei oder drei Tage später aus irgendeinem Grund noch einmal operiert hätte. Ich hätte das eingesehen und sofort zugestimmt.

Etwa vier Wochen nach der Operation stand ich gedankenschwer vor einem großen Plakat, auf dem eine Brauerei mitteilte, es sei ihr gelungen, das wirklich alkoholfreie Bier zu brauen, als eine seltsam kühle Stimme in mir sagte, nach diesen vielen Jahren Trockenheit könnte ich jetzt doch bestimmt mal einen trinken, es sei ja kein Alkohol drin. Ich wusste genau wie das enden würde und wurde sehr unruhig. In der Gruppe sagte eine Freundin: ,,Du, Rüdiger, hör doch jetzt mal zu! Seit 14 Tagen versuche ich, Dir in den Gruppen klarzumachen, dass ich das kenne mit dem alkoholfreien Bier und habe von meinen zwei Operationen erzählt. Du hast mich aber nicht hören wollen oder können.“ Ich empfand diesen, aus der Kälte gewachsenen Vorschlag, doch mal einen zu trinken, als gefährlich und grausam und litt darunter, weil ich das bei mir nicht mehr für möglich gehalten hatte. Bis ich eines Tages nach einem Frühstück im Sonnenschein etwas entspannter durch einen Park ging und auf einer Bank einen alten Mann fand, der gewaltig rauchte. Er entließ den Rauch in alle Windrichtungen und ich nahm

genussvoll eine ganze Nase von davon. Da sagte dieselbe Stimme in mir: ,,Und rauchen könntest du übrigens auch mal wieder eine.“ Ich habe meine letzte Zigarette 1984 geraucht und schlagartig wurde mir klar, dass mein Suchtgedächtnis aktiviert war und mich zum Rauchen und Trinken bringen wollte. Von diesem Moment an ging es mir besser.

Ich habe versucht, einige „einfache“ Kleinigkeiten zu vermitteln, mit denen sich Rückfälle vielleicht vermeiden lassen. So hoffe ich, dass ich zeigen konnte, dass sich Erschöpfung und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, Unglaube, Gefühlsausbrüche und die Folgen des Suchtgedächtnisses in einer Selbsthilfegruppe unter „Gleichgesinnten“ leichter ertragen lassen, als wenn ich alleine versuche „eisern“ zu sein. Das ist ebenso nutzlos, wie in einer blitzsauberen Wohnung „von dem Teppich zu essen“, wie meine Mutter als Gipfel der Sauberkeit immer sagte.

Was kann ich denn nun tun, wenn meine Abstinenz gefährdet ist? Meine Erfahrung ist es, dass ich bedingungslos jede Form von Hilfe annehmen muss, die es gibt, um nicht zu Trinken oder Drogen zu nehmen. Und diese Bedingungslosigkeit beschäftigt mich bis heute und fördert meine Kreativität zum abstinenten Leben und meine Bitte an meine Höhere Macht, damit ich nicht eines Tages einmal sagen muss: ,,Leider ist es passiert.“

 

Titelthema 01/11: Das Rätsel Rückfall

Das Rätsel Rückfall

Was weiß man und was weiß man nicht

Johannes Lindenmeyer

Auch bei aufwändigen Behandlungen wird bis heute etwas mehr als die Hälfte der Suchtkranken früher oder später leider wieder rückfällig. Verständlicherweise stellt ein Rückfall eine große Enttäuschung und Frustration für den Betroffenen, aber auch für seine Angehörigen und seine Behandler dar:

Warum nur hat er nach erfolgreicher Abstinenz wieder angefangen? Entsprechend wurde und wird über die Entstehung von Rückfällen viel geschrieben und viel gemutmaßt. Es gibt viele Rückfall-Ideen und -Modelle, vieles davon klingt plausibel, aber nur wenig hält einer wissenschaftlichen Überprüfung stand. Selbst das berühmte Rückfallmodell von Marlatt, das bis heute die Grundlage der meisten Behandlungsansätze im Suchtbereich darstellt, konnte in vieler Hinsicht empirisch nicht zweifelsfrei bestätigt werden. Und so schlägt dann immer wieder die Stunde der großen Vereinfacher, die mit modischen Schlagwörtern wie Stress, Trauma, Schemata, Anticravingsubstanzen oder Achtsamkeit alle in ihren Bann ziehen und immer neue Therapiemethoden oder Medikamente zur Rückfallprävention ohne ausreichende Evidenz propagieren.

Tatsächlich stehen wir immer noch relativ am Anfang, das Rückfallgeschehen zu verstehen. Die jahrelange, internationale Rückfallforschung hat gerade einmal vier einigermaßen gesicherte Erkenntnisse zur Entstehung von Rückfällen gezeitigt. Diese sollen im Folgenden dargestellt und entsprechende Schlussfolgerungen zur therapeutisch gestützten Rückfallprävention gezogen werden. In einem zweiten Artikel in der nächsten Ausgabe sollen dann darauf aufbauend die Möglichkeiten zu Bewältigung von Rückfällen abgeleitet werden.

1) Der Rückfallzeitpunkt – Aller Anfang ist schwer

Die erste Erkenntnis der Rückfallforschung betrifft den Rückfallzeitpunkt. Oft hört man, dass das Rückfallrisiko mit zunehmender Abstinenzdauer stetig steige, weil der Betroffene allmählich übermütig werde und die schlimmen Erinnerungen an seine Trinkzeit immer mehr verblassen würden. In ähnlicher Weise befürchten manche Therapeuten, dass die Therapieeindrücke im Laufe der Zeit wie bei einem Farbanstrich langsam abblättern könnten. Glücklicherweise ergab die wissenschaftliche Untersuchung von Rückfällen genau das Gegenteil: Je länger eine Person abstinent bleibt, umso geringer ist die Gefahr eines Rückfalls. Innerhalb der ersten drei Monate nach Beendigung einer Therapie besteht das allergrößte Rückfallrisiko. Dann gibt es nochmals relativ viele Rückfälle innerhalb des ersten Jahres. Danach werden Rückfälle immer seltener. (siehe Abb. 1)

Mit der Abstinenz verhält es sich ähnlich, als wenn man sich plötzlich im Ausland von Rechtsverkehr auf Linksverkehr umstellen muss: die ersten Kilometer enthalten das größte Unfallrisiko. Allmählich fährt man immer besser und sicherer. Dann sind es nur Kreuzungen, bei denen man mit der Vorfahrtregelung Schwierigkeiten hat. Spätestens nach 100 bis 200 Kilometern fährt man links genauso gut wie früher rechts. Nur in schwierigen und unerwarteten Verkehrssituationen, etwa wenn einem ein Fahrzeug auf der eigenen Straßenseite entgegenkommt, wird man weiterhin automatisch nach rechts anstatt nach links auszuweichen versuchen. Offenbar lernen die Betroffenen etwas in der Anfangsphase der Abstinenz. Je länger jemand abstinent lebt, umso leichter fällt es ihm und umso besser ist er gegen Rückfälle gefeit.

Für die Behandlung von Suchtkranken kann daraus das Primat der Nahtlosigkeit zwischen Behandlung und Nachsorge abgeleitet werden. D.h. wenn man die Rückfallraten verringern will, kommt es zunächst weniger darauf an, einzelne Behandlungsmodule zu verbessern oder zu erweitern. Primär gilt es, durch entsprechendes Handeln aus der Therapie heraus eine unmittelbare Nachsorge der Patienten ab dem ersten Tag der Entlassung sicherzustellen. Um es ganz konkret zu sagen: Statt in der Therapie über Rückfallrisiken zu .reden“, sollten Behandler und Patienten lieber gemeinsam zum Telefonhörer greifen und eine Nachsorgetermin verbindlich vereinbaren. Diese Überlegung hat uns auch bewogen, eine eigene Nachsorgeambulanz der salus klinik Lindow in Berlin-Charlottenburg einzurichten (Infos unter: www.salus-lindow.de/ambulanz). Entsprechend sollte die Suche nach einer geeigneten Selbsthilfegruppe nicht auf die Zeit nach der Behandlung verschoben werden, sondern bereits während der Behandlung verbindlich erfolgen. Hier zeigt sich der Wert von Informationsveranstaltungen durch Selbsthilfegruppen in Therapieeinrichtungen.

2) Rückfallrisikosituationen – Kleinvieh macht auch Mist

Die zweite wichtige Erkenntnis der Rückfallforschung war die Deutung der Rückfallrisikosituation. Lange Zeit glaubte man, dass es bestimmte Eigenschaften, Einstellungen oder Lebensumstände einer Person sind, die darüber entscheiden, ob jemand im Anschluss an eine Suchtbehandlung abstinent bleibt oder wieder rückfällig wird: Beispielsweise wurde vermutet, dass Frauen, Arbeitslose oder Abhängige mit weiteren psychischen Störungen ein erhöhtes Rückfallrisiko haben. Entsprechende Studien haben aber sehr widersprüchliche Ergebnisse gezeitigt. Sie haben damit wenig zur Erklärung, v. a aber zur Prävention von Rückfällen beitragen können.

Sehr viel einheitlichere Ergebnisse hat weltweit – egal ob bei Frauen, bei Männern, ob bei Alkohol-, bei Drogenabhängigkeit, bei Nikotinabhängigkeit, bei pathologischem Glücksspiel oder bei Menschen, die Diät halten wollen – die Untersuchung erbracht, wann ein und dieselbe Person eher rückfällig oder nicht rückfällig wird. Hierbei zeigte sich, dass es nicht so sehr schwere Schicksalsschläge oder Krisensituationen sind, die zu einem Rückfall führen. In solchen Ausnahmesituationen sind viele Betroffene auf der Hut und entwickeln ungeahnte Stärken, um sich oder anderen zu beweisen, dass sie es auch „ohne“ schaffen. Häufig werden vielmehr ganz alltägliche Situationen, die bereits oft problemlos bewältigt wurden, plötzlich zu Rückfallsituationen. Es muss dem Betroffenen vor einem Rückfall auch nicht unbedingt schlecht gehen. Es kann ein ganz normaler Tag sein, an dem er wieder „anfängt“. Allerdings fallen auch solche Rückfälle nicht einfach vom Himmel. Vielmehr hat man festgestellt, dass allein 60% aller Rückfälle in den folgenden drei Situationen passieren:

  • unangenehme Gefühle, wenn man alleine ist (z. B. Langeweile, Einsamkeit, Angst, Depression),
  • im Anschluss an Konflikte und Konfliktsituationen (z. B. am Arbeitsplatz oder in der Familie)
  • und drittens soziale Verführung (z.B.: Kumpels fordern einem zum Mittrinken auf; ein Arzt empfiehlt ein Beruhigungsmittel). (siehe Abb. 2)

Die übrigen 40 Prozent aller Rückfälle ereignen sich in folgenden Situationen:

  • angenehme Situationen (z. B. Erfolgserlebnisse, Verliebtsein),
  • Geselligkeit (z.B. Kneipenbesuch, Parties, Familienfeier),
  • körperliche Beschwerden (z.B. Schmerzen, Schlafstörungen),
  • Versuch, kontrolliert zu trinken und
  • plötzliches Verlangen (z. B. beim Anblick eines Biergartens).

Für jeden Abhängigen sind allerdings ganz unterschiedliche Risikosituationen bedeutsam. Meist sind es Situationen, die früher eng mit einer angenehmen Alkoholwirkung verknüpft waren.

Für die Behandlung von Suchtkranken lässt sich hieraus ableiten, dass es nicht ausreicht, den Betroffenen mittels psycho- oder sozial therapeutischer Interventionen eine bessere Bewältigung ihres Alltags auch ohne Alkohol zu ermöglichen (Kompensationsparadigma). Vielmehr ist es notwendig, das Risikobewusstsein der Betroffenen für die persönlich relevanten Auslösesituationen zu schärfen und deren abstinente Bewältigung einzuüben (Trainingsparadigma). Denn es ist vollkommen unrealistisch anzunehmen, dass ein abstinent Lebender sein Leben derart umgestalten kann, dass alle Risikosituationen für immer aus seinem Alltag verbannt sind. Die Ermittlung der persönlich relevanten Rückfallrisikosituationen ist allerdings keine triviale Aufgabe, da diese dem Bewusstsein der Betroffenen prinzipiell nur bedingt zugänglich ist. Zusätzlich wird eine objektive Erhebung durch das kausale Erklärungs- und Entlastungsbedürfnis der Betroffenen nach dem Motto „ich habe nur getrunken weil … „, überlagert. Entsprechend haben retrospektive Rückfallanalysen bzw. prospektive Risikoeinschätzungen durch die Betroffenen nur einen sehr begrenzten Aussagewert. Stattdessen sind spezielle Anstrengungen zu unternehmen, die situativen, teilweise banalen Auslöser für ein erhöhtes Rückfallrisiko im Einzelfall zu bestimmen. Hierbei haben sich insbesondere die Aufstellung eines persönlichen Risikoprofils mithilfe von Rückfallfragebögen oder die Führung eines sog. Risikotagebuchs bewährt. Um das Rückfallrisikobewusstsein von Suchtpatienten zu schärfen, sollte grundsätzlich jede Therapiestunde mit der Frage beginnen, ob es seit dem letzten Mal einen Rückfall, einen Beinahe-Rückfall oder eine abstinent bewältigte Risikosituation gegeben hat. Erst danach sollte mit dem eigentlichen Thema der Stunde begonnen werden.

3) Neurobiologie – Das Suchtgedächtnis sitzt nicht im Großhirn

Viele Rückfällige haben in der Erinnerung den Eindruck, dass sie „einfach wieder“ getrunken haben. Während dies früher in Therapien gemeinhin als Ausrede des Betroffenen abgetan wurde, haben mittlerweile Fortschritte der Neurobiologie den Blick auf die suchtbedingten Einschränkungen der Willensfreiheit von Alkoholabhängigen im Moment eines Rückfalls gelenkt. Postuliert wird die überdauernde Existenz eines so genannten Suchtgedächtnisses, das in rückfallkritischen Momenten mit einer situativen Einschränkung der rationalen Selbstkontrolle durch automatisierte, suchtmittelbezogene Informations- und Appetenz-Prozesse einhergeht. Da diese Rückfallprozesse den Betroffenen häufig nicht bewusst sind, können sie durch herkömmliche Psychotherapieverfahren kaum verändert werden. Gleichzeitig konnte bei den Betroffenen eine verringerte Verarbeitung von Gefahrensignalen festgestellt werden. Die Folge ist, dass nunmehr den subkortikal verstärkten Anreizprozessen auf alkoholspezifische Stimuli eine beeinträchtigte kortikale Kontrolle gegenübersteht. Bildlich gesprochen haben sich bei Alkoholabhängigen die Machtverhältnisse zwischen Großhirn und Zwischenhirn dauerhaft verschoben, was die Gefahr eines Rückfalls ebenso wie die Schwierigkeit, einen Rückfall wieder zu stoppen, erhöht. Von besonderer Bedeutung ist, dass all dies unabhängig davon geschieht, ob die Betroffenen abstinenzmotiviert sind oder subjektiv Verlangen nach Alkohol empfinden. Daraus erklärt sich auch die begrenzte Wirksamkeit der üblichen, vorrangig auf Einsicht und rationale Selbstkontrolle setzenden Rückfallpräventionsmaßnahmen.

Stattdessen sind Suchttherapeuten aufgerufen, spezifische neuropsychologisch fundierte Trainingsprogramme zur Rückfallprävention zu entwickeln. Angesichts des hohen Automatisierungsgrades der postulierten Rückfallprozesse können Rückfallpräventionsmaßnahmen nur dann erfolgreich sein, wenn die hierbei vermittelten Alternativreaktionen von den Betroffenen so oft und redundant eingeübt werden, dass sie einen entsprechend hohen Automatisierungsgrad erreichen. Vor diesem Hintergrund erforschen wir gerade in Lindow ein computergestütztes Rückfalltraining, bei dem Patienten gefordert werden, mithilfe eines Joysticks Bilder von alkoholischen Getränken möglichst schnell wegzuschieben nichtalkoholische Getränke möglichst schnell herzuziehen. So primitiv ein solches Training auch anmuten mag, in einer randomisierten Kontrollstudie konnten wir an über 200 Patienten nachweisen, dass sechs 15-Minuten-Trainings ausreichten, die Rückfallrate um über 9% zu senken. Es ist aber sicherlich noch viel weitere Forschung nötig, bevor wir ein solches Vorgehen allgemein empfehlen können.

4) Verlangen (Craving)-Mal gut, mal schlecht

Eine heftige Kontroverse gibt es über die Bedeutung von Suchtmittelverlangen (sog. Craving) im Zusammenhang mit Rückfällen. Während manche Betroffene von quälendem Verlangen, verbunden mit eindrucksvollen körperlichen Reaktionen berichten, die auch nach langer Abstinenz auftraten und zum Rückfall führten, gab in wissenschaftlichen Untersuchungen mit standardisierten Messinstrumenten nur etwa die Hälfte der Betroffenen an, jemals Verlangen erlebt zu haben. Sie ergaben außerdem, dass Verlangen manchmal zwar ein Rückfallrisiko darstellen kann, aber in vielen Fällen auch nützlich zur Vermeidung von Rückfällen ist, da dadurch den Betroffenen die Rückfallgefahr bewusst wird und sie jetzt automatische Rückfallprozesse unterbrechen können. Ziel der Interventionen zur Rückfallprävention kann keineswegs standardmäßig eine möglichst weitgehende Verringerung von Suchtmittelverlangen sein. Vielmehr kommt es darauf an, dass Betroffene lernen, auch starkem Verlangen erfolgreich zu widerstehen. Hierbei kann es z. B. hilfreich sein, Suchtmittelverlangen mit dem Bild einer mauzenden Katze zu vergleichen: Diese hört irgendwann von selbst auf zu mauzen, wenn sie trotz anhaltender, erbarmungswürdiger Bettelei konsequent nicht gefüttert wird. Entsprechend lässt erfahrungsgemäß das Verlangen nach Suchtmitteln mit der Zeit nach, wenn man ihm in einer Risikosituation nicht nachgibt. Jede erfolgreich bewältigte Risikosituation stärkt die Abstinenzzuversicht bzw. das Selbstvertrauen des Betroffenen und erhöht dadurch wiederum die Chancen für weitere Abstinenz.

Damit dies nicht alles graue Theorie bleibt, muss die abstinente Bewältigung von Risikosituationen auch praktisch geübt werden. Jeder Feuerwehrmann, jeder Katastrophenschützer und jeder Pilot weiß, wie oft man möglichst realistische Übungen durchführen muss, damit man für den Ernstfall wirklich gewappnet ist. Entsprechend hat es sich als sehr nützlich erwiesen, sich noch während der Therapie im Rahmen sog. „Expositionsübungen“ bewusst mit relevanten Auslösesituationen für einen Rückfall zu konfrontieren, um deren abstinente Bewältigung auch bei aufkommendem Verlangen in der Realität zu üben.

 

 

Titelthema 03/04: Interview mit Dr. Salloch-Vogel

Titelthema 3/04: Der Lotse geht von Bord

Chefarzt Rüdiger Salloch-Vogel vom Jüdischen Krankenhaus gibt die Leitung ab

Interview

TrokkenPresse: Auf der Entzugsstation des Jüdischen Krankenhauses herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Jetzt gehen Sie. Welche Spuren hinterlassen Sie und welche Spuren haben die Patienten an Ihnen hinterlassen?

Dr. R. R. Salloch-Vogel: Nein, Ihre Aussage stimmt nur dann, wenn Sie sie auf die Unruhe mancher Drogenabhängiger und Alkoholiker beziehen. Wir haben immer noch eine Liegezeit von etwa 10 Tagen und werden diese Liegedauer wegen der seelischen Begleiterkrankungen unserer Patientinnen auch für den Qualifizierten Entzug „verteidigen“, damit wir auch weiterhin Jahr für Jahr vielen alkohol-, medikamenten- und drogenabhängigen Menschen einen Qualifizierten Entzug anbieten können.

Ja, ich gehe jetzt und zolle meinem Lebensalter Tribut und freue mich, wenn ich der Müdigkeit auch mal vormittags ein wenig nachgeben darf. Ich bin sehr dankbar, dass ich 26 Jahre bleiben durfte, was für einen trockenen Alkoholiker ja durchaus nicht selbstverständlich ist: Wir sind quitt – das .Jüdische“ hat mir viel gegeben und ich habe getan, was ich konnte.

Ob ich Spuren hinterlasse? Das will ich nicht überschätzen, wer spricht denn heute noch von meinem Vater, der vor über 30 Jahren gestorben ist? Auf der anderen Seite habe ich über einige Geschenke und Gaben verfügen können, die zusammen eher selten sind: Erlittenes bis zur Abstinenz, ein befreiendes Programm, einen guten Therapeuten (Hartmut Spittler), die Fähigkeit, Menschen zusammenzubringen, politisches Gespür (früh genug und rechtzeitig für die Abstinenz tätig zu werden),mehrere geliebte Menschen um mich herum, die wenig lügen und mich immer wieder zurechtstutzen, einen wunderbaren Oberarzt und ein kräftiges Team mit ganz unterschiedlichen Gaben und noch eine sehr geschätzte Oberschwester, die immer wieder der Pflege die Arbeit vorlebt und sie ermutigt. All diese Menschen können auch durchaus ohne mich mit Sucht und Süchtigen arbeiten und alle können Sucht „lesen“.

Meine Suchtkrankheit und alle Menschen um mich herum, nicht nur die Süchtigen, haben mich geprägt. Ein Teil der Sucht ist so kompromisslos vergiftend und tödlich, dass die Tatsache, abstinent leben zu dürfen und zufrieden nüchtern zu werden von einem bald 65- jährigen sehr dankbar angenommen wird. Die Patientinnen zwingen mich – wie meine Familie – immer wieder auf den Weg zu meiner Wahrheit.

 TrokkenPresse: Woher sind Sie gekommen und wo gehen Sie hin?

 Dr. R. R. Salloch-Vogel: Von Hause aus bin ich Pharmakologe und Internist, Psychotherapeut wurde ich dann später. Als Facharzt für Innere Krankheiten hat mich Prof. Dr. L. Schmidt 1978 als Oberarzt angestellt. Diese 7 Jahre haben mich natürlich geprägt, bis ich dann 1986 Chefarzt der Abteilung wurde. Wie könnte ich – immer vorausgesetzt, ich bleibe so gesund und munter wie bisher – der Suchtkrankenhilfe nicht verbunden bleiben? Ich bin als Mitglied in die „Drogenhilfe Berlin Brandenburg“ aufgenommen worden, habe eine kleine psychotherapeutische Praxis ohne KV-Zulassung und Telefonbuch-Eintrag und pflege ein weiteres „Hobby“: Sucht im Arbeitsleben.

TrokkenPresse: Wie sind Sie darauf gekommen, sich mit Abhängigkeitskranken zu befassen? Würden Sie das wieder machen?

Dr. R. R. Salloch-Vogel: Wohl auf dem Weg des „Wunsches nach Selbstheilung“. Ich habe ja ALLES – inklusive vieler langfristiger psychotherapeutischer Maßnahmen – versucht, meine damals noch so genannte neurotische Fehlhaltung in den Griff zu bekommen. Meine Höhere Macht hat mich halt anders geführt: rein ins Jüdische Krankenhaus und das Leben live erleben. Ja, ich würde wieder diese Verantwortung übernehmen (mit dem üblichen menschlichen Zähneknirschen), auch wenn ich sicherlich – auch gerne – ein guter Tischler mit einem Nebenerwerbshof geworden wäre, wenn meine Frau sich um die Tiere kümmern würde. Aber irgendwann hätte ich dann wohl eine kleine Firma gehabt für feine selbstgebaute Möbel und Suchtkranke im Laden beraten mit einem Raum für Meetings.

TrockenPresse: Welche Haltung – neben der Kompetenz – braucht ein guter Suchttherapeut?

Dr. R. R. Salloch-Vogel: Es fühlen sich, wie so oft, Viele berufen, aber gerade in diesem verschlingenden, verführenden Umfeld ist es wichtig, nicht nur ein verhaltenstherapeutisches Manual im Kopf zu haben, sondern auch sich immer wieder zu hinterfragen, warum gerade Du das machen willst. Es gibt bisher keine wirklich qualifizierende Ausbildung dafür. Psychiater, Psychologe oder Sozialpädagoge zu sein reicht ebenso wenig wie ein suchtkranker Vater oder ein eigene Sucht (und Abstinenz!) oder Arbeitslosigkeit allein, es muss also ein informelles, „rituelles“ Wissen und Fühlen dazu kommen. So etwas erwerben mann, frau mit zunehmendem Alter, durch drei Kinder, durch eigene Leidenserfahrungen, eben durch persönliche Krisen, an denen wir in der Regel reifen und ggf. durch eine Therapie (-ausbildung); der größte Blödsinn ist allerdings, NUR Süchtige könnten Süchtige verstehen. Wer sich das erwirbt, was die Anonymen Alkoholiker „bedingungslose Bereitschaft“ nennen, ist genau im Landeanflug, egal, ob Suchtkranker oder nicht.

TrokkenPresse: Die Arbeit auf den Entzugsstationen in Berlin ist in den letzten Jahren immer härter geworden. Die stark verkürzten Entzüge scheinen sich auch negativ auf die Erfolge auszuwirken. Gibt es beim Personal der Berliner Entzugsstationen Ermüdungserscheinungen, z. B. Resignation, Gleichgültigkeit, Gefühle von Sinnlosigkeit?

Dr. R. R. Salloch-Vogel: Es ist manchmal nicht schlecht, alt zu sein und auch das Einfache zu kennen. Wie haben wir denn angefangen?

Heute ist das Geld alle und der Staat fährt mit hoher Geschwindigkeit an die Wand – in dieser Beziehung beraten mich Gespräche mit meinem 15 Jahre abstinent lebenden Steuerberater, der davon mehr versteht als ich.

Ja, es ist so, dass in den letzten 7 Jahren die Zahl der Wiederholer von 17% auf 45% angestiegen sind und wir verwirrte, unruhige und schlaflose Menschen entlassen müssen, deshalb intensivieren wir die Nachsorge und die Ambulanz. Die Verantwortlichen dafür sind schwer auszumachen, das würde Seiten füllen. Wir sind ja auch nur ein gesamtgesellschaftlicher Spiegel. Die Mitarbeiter sind in der Tat oft überarbeitet und müde, aber sie sind erwachsen, vertreten ihre Meinung deutlich und können etwas, das ich „gnadenloses positives Denken mit realistischer Betrachtung“ nennen möchte. Wir renovieren – bauen um – richten eine Tagesklinik zusätzlich zur Ambulanz ein und sind unter der Bezeichnung „Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie“ genau auf dem richtigen, den heutigen Verhältnissen angepassten Weg. Diese Klinik wird immer eine Klinik für und nicht gegen Suchtkranke bleiben, da bin ich mir mit Dr. Thomas Bschor, meinem Nachfolger, einig.

TrokkenPresse: Was wünschen Sie sich selber, was wünschen Sie Ihrem Nachfolger?

Dr. R. R. Salloch-Vogel: Ich möchte gern jeden Tag so wie den heutigen leben dürfen mit etwas mehr Ruhe und Urlaub. Meinem Nachfolger wünsche ich, dass er seinen eigenen Stil in allem findet und sich die Zeit lassen kann, die er braucht, um die Abteilung unverwechselbar zu prägen, und Klebefüße, um die Bodenhaftung nicht zu verlieren.

Chefarzt Rüdiger Salloch-Vogel: übergibt am l. August 04 seine Arbeit im Jüdischen Krankenhaus an Dr. Bschor. Damit geht eine Ära zu Ende, denn gleichzeitig wird der neue Chefarzt Dr. Bschor die Umwandlung einer internistischen Abteilung in eine psychiatrisch- psychotherapeutische einleiten. Mit Rüdiger Salloch-Vogel verabschiedet sich ein Mensen aus dem Arbeitsleben, der sich kompromisslos für das Überleben seiner Patienten eingesetzt hat und das bedeutet in heutigen Zeiten, dass leider immer wieder Auseinandersetzungen um selbstverständliche Standards geführt werden müssen. Der qualifizierte Entzug zeigt zwar die höchsten Erfolgsquoten, den Therapeuten werden jedoch immer mehr Steine in den Weg gelegt. Rüdiger Salloch-Vogel hat – wie schon seine Vorgänger Prof. Lothar Schmidt oder Hartmut Spittler große Teile seines Lebens für Aufbau und der Erhaltung der Suchtkrankenhilfe eingesetzt. Dafür ist ihm im Namen vieler ehemaliger, abstinent lebender Patienten zu danken!

Die Redaktion

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